Wie auf TikTok erfolgreiche Schüler die Bildungsbürokratie nervös machen
Vormittags drücken sie noch die Schulbank, nachmittags unterhalten sie Millionen im Netz: Mehrere Zwölftklässler aus dem bayerischen Garmisch-Partenkirchen posten seit September 2024 unter dem Namen „BayernElite“ auf Social Media kurze Comedy-Videos über den Schulalltag. Alles, was sie dafür brauchen: ein Handy und ein gutes Gespür für Trends. Mehr als 350 Millionen Mal wurden ihre Clips bereits aufgerufen.
Doch die Aufmerksamkeit im Netz gefällt nicht jedem: Der deutsche Beamtenapparat fremdelt mit dem ungewöhnlichen Projekt, verbot den Schülern zwischenzeitlich sogar den Dreh im Schulgebäude. Jugendliche Kreativität und deutsche Bildungsbürokratie – muss das ein Konflikt sein?
Den Account „BayernElite“ gibt es erst seit Anfang des vergangenen Schuljahres. Damals überlegte sich Joshua Martensen, Schüler am Werdenfels-Gymnasium, wie er und seine Freunde Geld für die Abi-Kasse sammeln könnten. Auf TikTok stießen die 18- und 19-Jährigen auf Videos von anderen Jahrgängen, die in ihren Schulen selbst gebastelte Pfand-Boxen aufgestellt hatten und ihre Mitschüler dazu aufriefen, sie fleißig zu füllen. „Und wir haben uns gedacht: Warum machen wir das eigentlich nicht?“, erzählt Joshua.
Was als spontane Aktion begann, entwickelte schnell eine Eigendynamik – das Filmen machte den Jungs so viel Spaß, dass ihnen gleich Ideen für weitere Videos in den Kopf kamen: Wie man am ersten Schultag auf der Suche nach dem neuen Klassenzimmer durch das Schulhaus irrt, wie man sich fühlt, nachdem man sich einmal getraut hat sich zu melden und dann aber eine falsche Antwort gegeben hat, und so weiter.
Sogar der ein oder andere echte Lehrer spielte in den kurzen Clips mit. Der Durchbruch kam im Dezember 2024 mit dem Video „Escaping the class as a duo (failed)“: Joshua und sein Sitznachbar Philipp filmten sich dabei, wie sie während des Unterrichts versuchten, ihren Tisch Stück für Stück aus dem Klassenzimmer zu schieben – ohne dass ihr Lehrer etwas bemerkte. Mit mehr als 30 Millionen Aufrufen allein auf TikTok ist es bis heute ihr meistgesehener Clip.
Das Genre der Schulparodien im Netz ist keineswegs neu. Schon vor über einem Jahrzehnt produzierten bekannte YouTuber wie „BibisBeautyPalace“ Videos über „10 Arten von Schülern“. Was den Hype um die Jungs von „BayernElite“ jedoch besonders macht: Ihr „Content“ dreht sich fast ausschließlich um das Thema Schule – und in den Clips ist nicht immer nur dieselbe Person zu sehen, sondern teilweise macht sogar die ganze Schulklasse mit.
Dass die Reichweite der Zwölftklässler im Internet beständig wächst, ist kein Zufall. Ihre Clips sind kurzweilig, authentisch und massentauglich – und passen somit perfekt zu einer neuen Social-Media-Generation, die zunehmend auf kurze Videoformate statt klassischer Text- und Foto-Posts setzt.
In der 2024 durchgeführten „JIM-Studie“ gaben 54 Prozent der 12- bis 19-Jährigen an, TikTok mehrmals die Woche oder sogar täglich zu nutzen, 53 Prozent schauen zumindest einmal die Woche YouTube Shorts. Die Studie zeigt auch, dass YouTube und TikTok bei den Jugendlichen im Vergleich zu anderen Apps ganz vorne liegen, wenn sie einfach Langeweile haben oder abschalten wollen. Mit dem Thema Schule erreicht „BayernElite“ aber auch ältere Zielgruppen: „Wir bekommen voll viele Kommentare von ehemaligen Schülern, die unter unsere Videos schreiben: ‚Genau so war das früher bei uns auch!‘“, erzählt ein Freund von Joshua, der ebenfalls bei „BayernElite“ mitmacht.
Hinter dem Erfolg im Netz steckt viel harte Arbeit. Auch wenn der Spaß weiter im Vordergrund steht, gehen die Jungs, seitdem sie das Potenzial ihres Projekts erkannt haben, strukturierter vor. Sie treffen sich zweimal die Woche nach dem Unterricht zum Drehen, für jeweils bis zu vier Stunden am Stück. Ein enormer Aufwand, wenn man bedenkt, dass sie sich gleichzeitig auf das Abitur vorbereiten, außerdem noch einen Minijob haben und zum Teil Leistungssport betreiben. Nicht immer haben alle Zeit, weswegen ihre Besetzung in den Videos oft wechselt.
Aber Joshua, der ihren Account managt, befürchtet, dass ihre Reichweite auf TikTok nachlässt, wenn sie nicht täglich mindestens ein, besser sogar zwei neue Videos hochladen. Um für den berüchtigten Algorithmus der Plattform, der darüber entscheidet, welche Inhalte den einzelnen Nutzern ausgespielt werden, relevant zu bleiben, greift „BayernElite“ auch regelmäßig Trends auf. An dem Tag, an dem WELT die Schüler besucht, parodieren sie etwa die Werbung von Ralf Schumacher („Du willst wissen, wie viel dein Auto wert ist?“), die gerade in aller Munde ist.
Damit sie an Drehtagen nicht mit leeren Händen dastehen, schickt Joshua am Vorabend eine Erinnerung in ihre WhatsApp-Gruppe, dass sich jeder zwei bis drei Sketch-Ideen überlegen soll. Ziel pro Drehtag sind ungefähr sechs Videos, also muss jeder Clip quasi schon nach einer halben Stunde im Kasten sein. Das funktioniert nur, weil die Jungs sich klare Regeln geben: Joshua koordiniert den Dreh mit seinen Anweisungen. Wer gerade nicht vor der Kamera gebraucht wird, hält sich im Raum auf Abruf bereit.
Alle Videos filmen die Freunde mit einem iPhone direkt in der TikTok-App. Eine professionellere Kamera würde ihnen gar nichts bringen, sagen sie, weil die Social-Media-Plattformen ohnehin keine so hohe Videoauflösung schaffen. Nach jeder Szene stecken die Schüler die Köpfe über dem Handy zusammen und diskutieren, was noch besser geht. „Man hat den leeren Stuhl im Hintergrund gesehen“ oder „Das war noch nicht synchron genug!“, sagt Joshua dann beispielsweise.
Eigentlich war das große Ziel der Gruppe immer, bis zum Abitur 100.000 Follower auf TikTok zu bekommen – diese Marke haben sie nun schon ein Jahr früher geknackt. Sie sitzen auf einer Goldgrube – unter ihren Videos kommentieren auch regelmäßig Accounts bekannter Marken wie Ritter Sport oder CEWE. Mit einem Management und Werbe-Deals könnten die Freunde richtig Geld verdienen.
Wäre da nicht die Schulverwaltung. Erst gab es ein Verbot für bezahlte Kooperationen mit Unternehmen. Nun steht sogar der einfache Dreh der Videos in den Schulräumen auf dem Prüfstand.
Auf Anfrage von WELT bestätigt das Ministerium: „Der vom Schulleiter des Werdenfels-Gymnasiums übersandte Fragenkomplex im Kontext des Digitalprojektes ‚BayernElite‘ wird aktuell im Staatsministerium geprüft.“ Das heißt: Die Schule möchte sich absichern, ob die Videos überhaupt in der Schule gedreht werden dürfen.
Das Ministerium sagt dazu: Über die Zulässigkeit von Filmaufnahmen in der Schule entscheide die Schulleitung grundsätzlich im Einvernehmen mit dem „Schulaufwandsträger“. „Planung und Durchführung derartiger ‚Projekte‘ mit Video-Drehs erfolgen durch die Schulen im Rahmen ihrer Eigenverantwortung. Dabei haben sie rechtliche, praktische und schulorganisatorische Rahmenbedingungen zu berücksichtigen.“
Hinter den offiziellen Worten steckt ein tieferer Konflikt. Was ist der richtige Umgang mit Schülern, die mit Kreativität den eigenen Schulalltag parodieren?
Die Jungs nehmen die Unsicherheit gelassen. „Das Konzept von TikTok als Klassenprojekt ist halt relativ neu und deshalb sehen viele Schulen das Potenzial nicht. Bisher ist auch noch nie jemand so herausgestochen wie wir. Die meisten Lehrer denken auch, solche Videos zu drehen, sei eine Arbeit von wenigen Minuten und sehen nicht, was alles dahintersteckt“, erklärt Joshua. Übergangsweise drehen sie ihre Videos nun an einem anderen Ort.
Die Schüler hoffen, dass sie von den Fähigkeiten und der Bekanntheit, die sie sich inzwischen aufgebaut haben, auch nach dem Abitur profitieren können. Ein paar von ihnen können sich vorstellen, beruflich in Richtung Mediendesign oder Werbebranche zu gehen, haben aber noch kein konkretes Ziel.
Am Ende bleibt die Frage nach dem Namen, den die Jungs ihrem Account gegeben haben – „BayernElite“. Die Erklärung: „Wir hatten einen Lehrer, der aus Spaß, immer wenn er sich über unsere schlechten Noten aufgeregt hat, gesagt hat: ‚Ihr seid doch auf dem Gymnasium, die Elite Bayerns!‘ Das haben wir uns dann ironisch angeeignet.“ Jedenfalls auf TikTok zählen die Jungs nun tatsächlich zur Elite.
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