Nach den Treffen von Wladimir Putin und Donald Trump in Alaska und der Reise von Wolodymyr Selenskyj und seinen europäischen Partnern nach Washington scheint es, als könnte Bewegung in Gespräche um einen möglichen Waffenstillstand in der Ukraine kommen. Der estnische Spitzendiplomat und Generalsekretär des Außenministeriums, Jonatan Vseviov, hält es für richtig, jetzt schon einen Plan für Sicherheitsgarantien zu entwerfen.

WELT: Herr Vseviov, in Alaska und Washington haben die Ereignisse sich zuletzt überschlagen – während in der Ukraine weiter gekämpft wird, sprechen die Europäer und Amerikaner bereits über Sicherheitsgarantien für das angegriffene Land. Wie könnten solche Sicherheitsgarantien aussehen?

Jonatan Vseviov: Um diese Frage zu beantworten, muss ich einen Schritt zurückgehen und das Treffen von Wladimir Putin und Donald Trump in Alaska einordnen. Erst mal aber will ich sagen, dass wir in sehr engem Kontakt mit allen unseren Partnern sind; wir nehmen wahr, was die Russen öffentlich sagen, und ich kann daraus schöpfen, was sie nicht öffentlich sagen, wovon wir aber wissen. Dazu haben wir Erfahrungen mit Russland aus der Vergangenheit und wir sehen, wie Russland weiterhin in der Ukraine vorgeht. All das führt uns zu folgender Einschätzung: Wir sehen keine Veränderung in den Positionen Putins. Seine Ziele, die 2021 und 2022 galten, gelten für ihn auch heute. Das heißt, Russland strebt die Kontrolle über die gesamte Ukraine und eine fundamentale Neugestaltung der europäischen Sicherheitsordnung an. Dass die russische Seite jetzt auf Territorialfragen verweist, ist eine diplomatische Falle. Zuerst sollen natürlich die Ukrainer darauf hereinfallen, aber auch all jene im Westen, die sich auf diese Erzählung einlassen.

WELT: Schließen Sie dabei die Amerikaner und Donald Trump ein? Trump immerhin hat Putin einen Ehrenempfang bereitet und scheint in Teilen großes Verständnis für die russische Position zu empfinden.

Vseviov: Die gute Nachricht ist, dass niemand wirklich in diese Falle getreten ist. Was in den Köpfen einzelner Beteiligter vor sich geht, weiß ich nicht. Das Gute ist doch, dass die meisten Europäer sehen, womit wir es zu tun haben: Dass die Formel „Territorium für Frieden“ nicht funktionieren kann und daher auch nicht zentral für unsere Diskussionen oder Entscheidungen sein sollte. Die Russen sind sehr gut darin, Verwirrung zu stiften. Aber wir sollten uns noch mal anhören, was Putin in Alaska gesagt hat. Dort sprach er unter anderem von „europäischer Stabilität“, den Ursachen des „Konflikts“ und dergleichen. Es geht Moskau also nicht nur um die Ukraine. Putin würde die Territorien nehmen, wenn sie ihm angeboten werden, ja. Gleichzeitig würde er allerdings die ukrainischen Staatsinstitutionen schwächen, er würde einen weiteren Keil zwischen Europa und Amerika treiben. Danach, wenn die Ukraine geschwächt und der Westen weiter gespalten ist – davon können wir ausgehen –, würde Putin mit weiteren Forderungen vorpreschen.

WELT: Heißt das, dass Ihnen zufolge das Gerede über Sicherheitsgarantien derzeit substanz- oder sinnlos ist?

Vseviov: Wir haben von Beginn an gesagt, dass wir fähig sein müssen, gleichzeitig zu gehen und Kaugummi zu kauen, wie die Amerikaner sagen. Was ich damit meine: Wir müssen uns auf ein doppeltes Ziel konzentrieren. Wir müssen dafür sorgen, dass das Kämpfen aufhört und dazu einen Rahmen für langanhaltenden Frieden schaffen. Um das Kämpfen zu beenden, müssten wir enormen Druck auf den Aggressor ausüben und dem Überfallenen alle nötige Unterstützung zuteil werden lassen, sodass der Aggressor versteht, dass es weniger kostenintensiv für ihn ist, umzuschwenken. Aber selbst im besten Fall, sollte Putin morgen seine Haltung radikal ändern und einen Rückzug aus der Ukraine ankündigen, müssten wir immer noch Frieden absichern. Das doppelte Ziel muss es sein, der Ukraine zum Sieg zu verhelfen und dazu jetzt schon die Weichen für eine stabile Nachkriegsordnung zu stellen. Am besten wäre es, die Ukraine in die Nato und EU aufzunehmen. Aber ich bin realistisch, selbst wenn die Waffen plötzlich schweigen, würde eine Aufnahme der Ukraine wohl Jahre dauern. Deswegen brauchen wir einen Plan schon für den ersten Tag, an dem die Waffen schweigen.

WELT: Sie sagen es, zuerst muss das Schießen aufhören. Ich allerdings sehe nicht, dass daran derzeit in Moskau ein Interesse besteht.

Vseviov: In keinster Weise, nein. Und dennoch müssen wir uns auf die Phase vorbereiten, die mit einem Waffenstillstand einsetzt. Ich will nicht, dass wir in eine Lage kommen, in der wir uns beglückwünschen können, dass wir das Schießen gestoppt haben, aber den Frieden verlieren. Sicherheitsgarantien auszuarbeiten ist eine wahnsinnig schwierige Aufgabe. Wir begrüßen daher die britischen und französischen Ansätze. Seit dem Alaska-Treffen haben die Amerikaner Signale ausgesandt, dass sie verstehen, wie wichtig Sicherheitsgarantien sind. Das ist gut. Derzeit finden Expertengespräche statt, sodass wir uns auf eine Form von Garantien einigen können, die Wirkung erzielen.

WELT: Sie können bestätigen, dass zwischen Europäern und Amerikanern konkrete, ernsthafte Gespräche dazu stattfinden?

Vseviov: Auf jeden Fall. Die Frage ist, wie detailliert sie jetzt schon sind und ob es zu einer politischen Einigung und einer entsprechenden Ankündigung kommt.

WELT: Sie denken, die USA stehen voll dahinter? Die Aussagen aus Washington werden dieser Tage mit gemischten Gefühlen in Europa aufgenommen. Präsident Trump ist für die traditionellen Partner der USA unberechenbar.

Vseviov: Wir werden sehen, wie es weitergeht. Auch könnten wir zweifelnd fragen, inwieweit die Europäer ernsthaft hinter Sicherheitsgarantien stehen oder stehen würden. Für Estland kann ich sagen, dass wir bereit sind, uns an einer Absicherung eines Waffenstillstands oder Friedens zu beteiligen. Wir würden Truppen in die Ukraine schicken und hoffen, dass auch unsere Verbündeten, die über größere Streitkräfte verfügen, so handeln werden. Die Amerikaner zu involvieren, ist natürlich ausgesprochen wichtig. Ich habe nach Gesprächen mit der amerikanischen Seite in den vergangenen Tagen Hoffnung. Aber die Amerikaner treffen ihre eigenen Entscheidungen und ich kann nur für Estland sprechen.

WELT: Wie bewerten Sie aus estnischer Sicht, dass kein baltischer Regierungschef und niemand aus Polen am jüngsten Treffen der Europäer und von Präsident Wolodymyr Selenskyj mit Präsident Trump im Weißen Haus teilgenommen hat? Die genannten Länder liegen immerhin an der Nato-Ostflanke.

Vseviov: Wenn es Kritik dazu in unseren Hauptstädten gibt, dann sollte dies auch Selbstkritik sein. Wir sind in einer Lage, in der Koalitionen sich ad hoc formieren. Die Frage ist, wer fähig und glaubwürdig genug ist, um einen Platz am Tisch zu kriegen. Ich blicke nicht nur als Este darauf, sondern auch als Europäer. Als Europäer bin ich froh darüber, dass diese Gruppe europäischer Führungsfiguren nach Washington gereist ist, um Selenskyj zu unterstützen und zu zeigen, was wir auf den Tisch legen können. Gerade wird Politik eben so gemacht. Langfristig wäre ich unglücklich darüber, wenn wir das „institutionelle Europa“, das uns allen dient, abschaffen und durch informelle Formate ersetzen würden. Es ist daher gut, dass Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen auch in Washington war.

WELT: Trotz des Aufgebots europäischer Politiker in Washington sieht es bisweilen aus, als würden die Großmächte Russland und USA über die Zukunft der Ukraine und Europas befinden.

Vseviov: Die größte sicherheitspolitische Herausforderung für uns Europäer heute ist der Ausgang des Krieges in der Ukraine und dessen unmittelbare Folgen. Wenn wir darauf nicht in unserem Sinne einwirken, dann wird das negative Folgen für uns haben. Dass wir jetzt offen über Sicherheitsgarantien für die Ukraine reden, ist allein deswegen schon richtig: Es hat einen Effekt auf die Lage. Wir müssen unsere Bereitschaft, Truppen zu entsenden, bekräftigen. Estland tut das. Wir müssen nun als Europäer vorangehen. Die Amerikaner werden es nicht mehr für uns erledigen.

Philipp Fritz ist seit 2018 freier Auslandskorrespondent für WELT und WELT AM SONNTAG. Er berichtet vor allem aus Polen, Ungarn, Tschechien, der Slowakei sowie aus den baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland. Schwerpunktmäßig beschäftigt er sich mit rechtsstaatlichen und sicherheitspolitischen Fragen, aber auch mit dem schwierigen deutsch-polnischen Verhältnis.

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