Indien und die große Angst vor einer antiwestlichen Allianz
Wenige Tage vor dem Gipfel mit Donald Trump am Freitag in Alaska griff Wladimir Putin zum Telefon. Der russische Machthaber sprach in dieser Woche mit Chinas Staatschef Xi Jinping, Indiens Premierminister Narendra Modi und Nordkoreas Diktator Kim Jong-un. Offiziell ging es um bilaterale Beziehungen und „strategische Koordination“.
Inoffiziell ist klar: Moskau sucht Rückendeckung, bevor es sich in Verhandlungen mit Washington begibt – und sondiert, wie seine Partner reagieren würden, sollte der US-Präsident in Sachen Ukraine die Geduld verlieren.
Der geopolitische Hintergrund ist brisant: Zwischen China und Russland ist in den vergangenen Jahren eine strategische Achse entstanden, die offen gegen die Dominanz westlicher Institutionen arbeitet – mit Peking als wirtschaftlich-technologischem Führer und Moskau als militärisch erfahrenem, aber ökonomisch geschwächtem Partner.
Indien hingegen vermied es bislang, sich klar auf die Seite Moskaus zu stellen. Während Neu-Delhi seit Jahren gute Energie- und Rüstungsbeziehungen zu Russland unterhält, arbeitete man eng mit dem Westen zusammen – auch in Sicherheitsfragen, etwa im „Quadrilateral Security Dialogue“ mit den USA, Japan und Australien.
Zuletzt hatte sich das Verhältnis zwischen Neu-Delhi und Washington abgekühlt, nachdem Trump Indien wegen seines fortgesetzten Kaufs von sanktioniertem russischem Öl neue Strafzölle aufgebrummt hatte. Sie belaufen sich nun auf 50 Prozent – bestehend aus dem ursprünglichen Zoll in Höhe von 25 Prozent und einer zusätzlichen Erhöhung um weitere 25. China dagegen wurde vorerst geschont, der US-Präsident verlängerte die Frist im Zollstreit um 90 Tage. Solange bleibt nur der bereits geltende Aufschlag von 30 Prozent in Kraft.
Treibt Trump Indien, das bislang zwischen Ost und West hin und her geschaukelt ist, nun in die Arme Russlands und Chinas? So einfach ist das nicht, wie ein Überblick über die Kräfteverhältnisse zeigt.
Die chinesisch-russische Allianz
Am 4. Februar 2022, nur wenige Wochen vor Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine, erklärte Xi Jinping bei einem Treffen mit Putin in Peking am Rande der Olympischen Winterspiele, die Partnerschaft zwischen beiden Ländern kenne „keine Grenzen“. Seither haben sie ihre strategische Kooperation systematisch ausgebaut.
Russland ist dabei in eine immer größere Abhängigkeit geraten: Chinas Unternehmen kaufen große Mengen russischen Öls und Gases, oft zu deutlich reduzierten Preisen, und liefern im Gegenzug Maschinen, Elektronik und andere Güter, die Russland wegen westlicher Sanktionen nicht mehr aus Europa oder den USA beziehen kann.
Auch im Finanzsektor stützt sich Moskau stärker auf das chinesische Zahlungssystem CIPS und den Yuan als Handelswährung. Hinzu kommt Pekings politische Rückendeckung – etwa durch Vetos im UN-Sicherheitsrat oder als Gastgeber von Foren wie der BRICS-Runde (bestehend aus Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika und weiterer aufstrebender Schwellenländer).
Das Ziel dieser Achse ist eine Weltordnung, in der westliche Institutionen wie Nato, EU oder der Internationale Währungsfonds an Einfluss verlieren. Peking und Moskau arbeiten aktiv daran, Parallelstrukturen aufzubauen – von alternativen Zahlungssystemen bis hin zu Energie- und Rüstungsabkommen, die westliche Sanktionen unterlaufen. Für China ist der Krieg in der Ukraine auch ein strategisches Werkzeug: Er bindet den Westen militärisch, wirtschaftlich und politisch – und verschafft Peking Zeit, im Schatten der Aufmerksamkeit seine Position im Südchinesischen Meer und in anderen strategisch wichtigen Regionen auszubauen.
Indiens Balanceakt
Wie eng Modi und Putin persönlich verbunden sind, zeigte sich im Juli 2024 in der russischen Stadt Kasan, wo ein Gipfel der BRICS stattfand. Putin empfing den indischen Premier mit demonstrativer Herzlichkeit. „Unsere Beziehungen sind so eng, dass ich davon ausging, du verstündest mich ohne Übersetzung“, witzelte der Kremlchef. Modi lachte laut und schrieb später auf X, die Beziehung zwischen Indien und Russland sei „tief verwurzelt“.
Diese Nähe hat historische Gründe. Seit den 1960er-Jahren ist Russland – damals noch die Sowjetunion – einer der wichtigsten Partner Indiens, vor allem als Waffenlieferant. Zwischen 2010 und 2019 kamen zeitweise bis zu 70 Prozent der indischen Rüstungsgüter aus Russland.
Zwar hat Neu-Delhi in den vergangenen Jahren verstärkt Waffen aus den USA, Frankreich und Israel gekauft, um die Abhängigkeit zu verringern, doch bei zentralen Systemen bleibt Russland unverzichtbar. Deshalb vermeidet Indien es, sich klar gegen Moskau zu positionieren, enthält sich etwa bei Abstimmungen im Rahmen der Vereinten Nationen. Doch klar für Moskau spricht man sich auch nicht aus. Ungeachtet der herzlichen Begrüßung in Kasan ermahnte Modi den russischen Machthaber vor laufenden Kameras, Konflikte „auf friedliche Weise“ zu lösen.
Dass sich Indien komplett auf Russlands – und Chinas – Seite schlagen könnte, halten Experten daher für unrealistisch. „Indien war nie und wird niemals antiwestlich sein“, sagt Amrita Narlikar, Politikwissenschaftlerin und Expertin beim indischen Thinktank Observer Research Foundation. Indien habe formale Allianzen stets gescheut, „die Vorstellung einer Allianz, insbesondere zwischen Indien und China, ist daher abwegig“. Nach fünf Jahren voller Konflikte und tiefen Misstrauens taue die Beziehung zu Peking inzwischen etwas auf, doch bleibe Indien aus vielen Gründen vorsichtig – nicht zuletzt wegen der chinesischen Unterstützung des Erzfeinds Pakistans.
Stattdessen fährt Neu-Delhi eine Doppelstrategie. Besonders klar zeigte sich diese im Sommer 2022, nur wenige Monate nach Beginn des Ukraine-Krieges. Damals nahm eine kleine indische Delegation am russischen Militärmanöver „Wostok“ in Ostsibirien teil – Seite an Seite mit China und anderen Verbündeten Moskaus. Fast zeitgleich übten indische Piloten im Rahmen des Luftwaffenmanövers „Pitch Black“ in Australien mit westlichen Partnern, darunter Deutschland und die USA.
„Indiens historische Freundschaft mit Russland hat es nie daran gehindert, zugleich wertvolle strategische Partnerschaften mit der EU, Deutschland oder Frankreich zu pflegen – genau das bedeutet Multi-Alignment und strategische Autonomie“, sagt Narlikar. Dazu passt, dass Indien Projekte wie „BRICS Pay“ unterstützt, ein alternatives Zahlungssystem zu SWIFT, das den Dollar schwächen könnte. Für Neu-Delhi sind solche Initiativen vor allem wirtschaftlich interessant und passen ins Bild einer multipolaren Welt, in der kein Staat eine alleinige Vormachtstellung innehat.
Dass schon eine vorsichtige Annäherung an China im Westen als Beginn einer antiwestlichen Allianz gewertet wird, sage mehr über die Verunsicherung Europas und der USA aus als über die tatsächliche Lage im Osten, meint Narlikar. Die indische Politikwissenschaftlerin kennt sowohl Deutschland als auch Indien. Von 2014 bis 2024 leitete sie das renommierte-GIGA Forschungsinstitut (German Institute for Global and Area Studies) in Hamburg. Demokratien unter Druck, wirtschaftliche Probleme und Differenzen bei der Verteidigungspolitik ließen im Westen die Angst vor neuen Machtblöcken wachsen.
„Europa braucht heute besonders gute Freunde“, sagt Narlikar. Die Expertin hält den Zeitpunkt für günstig, die Beziehungen mit Indien zu vertiefen, etwa das EU-Indien-Freihandelsabkommen zu beschleunigen. So könne Neu-Delhi seine Abhängigkeit von russischen Waffen weiter verringern und müsse für wirtschaftliche Kooperation nicht nach China ausweichen.
Das Treffen in Alaska wird daher auch in Neu-Delhi und Peking genau beobachtet. Sollte Trump Russland Zugeständnisse machen, ohne die Ukraine und Europa einzubinden, wäre das nicht nur ein diplomatischer Triumph für den Kreml – es würde auch China Rückenwind auf dem Weg zu einer „alternativen“ Weltordnung verleihen. Noch ist eine „antiwestliche Allianz“ im erweiterten Sinne mehr Gespenst als Realität. Während Russland und China längst eine ungleiche, aber stabile Partnerschaft gegen den Westen aufgebaut haben, spielt Indien sein eigenes Spiel – mit dem Potenzial, die Weltordnung zu seinen Gunsten zu beeinflussen.
Christina zur Nedden ist China- und Asienkorrespondentin. Seit 2020 berichtet sie im Auftrag von WELT aus Ost- und Südostasien.
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