„Nicolas zahlt die Zeche“ – Jetzt revoltieren Frankreichs Leistungsträger gegen den Sozialstaat
Frankreichs Leistungsträger gehen auf die Barrikaden. Es sind die Angestellten des Landes, die sich übermäßig besteuert fühlen, um ein bröckelndes Sozialsystem zu finanzieren. Der Schlachtruf der neuen Wutbürger lautet: „Nicolas qui paie“ (“Nicolas zahlt die Zeche“).
Die Online-Bewegung hat die Regierung von Präsident Emmanuel Macron in Alarmbereitschaft versetzt. Denn die Protestwelle droht zum politischen Faktor zu werden – in einer Zeit, in der Macron in der Defensive ist und Marine Le Pens Rechtsnationalen vom Rassemblement National gute Chancen auf die Präsidentschaft im Jahr 2027 haben.
Die Ursprünge der fiktiven Figur „Nicolas“ werden oft auf ein provokantes Meme aus dem Jahr 2020 zurückgeführt, das einen 30-jährigen Angestellten aus der Mittelschicht zeigt, der angesichts der finanziellen Belastungen verzweifelt ist. Das Internet-Bild suggerierte über verschiedene Pfeile und Symbole, dass dieser „Nicolas“ Rente für „Chantal und Bernard“ und Sozialleistungen für den 25-jährigen „Karim“ bezahlt, der seinerseits das Geld nach Afrika überweist.
Anfangs wegen rassistischer Untertöne kritisiert und vor allem von Rechtsaußen-Gruppen verwendet, erreichte das „Nicolas“-Phänomen in den vergangenen Monaten den Mainstream – und wurde zum Bezugspunkt in der politischen Debatte in Frankreich. Laut Daten der Monitoring-Agentur Visibrain, die der WELT-Partnerpublikation „Politico“ zur Verfügung gestellt wurden, wurden seit Jahresbeginn mehr als 500.000 Tweets zum Phänomen „Nicolas qui paie“ gepostet, wobei die Aktivität seit Juni stark zugenommen hat.
„Nicolas“ – ein Name, der unter den 1980er-Jahren geborenen Jungen weitverbreitet ist – ist zum Symbol für die Frustration der französischen Mittelschicht geworden: Sie sind „zu reich“, um Sozialleistungen zu erhalten, aber nicht reich genug, um der Last steigender Steuern zu entkommen.
Unruhe im Macron-Lager
In einigen Beiträgen hat die „Nicolas“-Bewegung den migrationskritischen Ton des Ursprungs-Memes behalten, Ausländer werden beschuldigt, das französische Sozialsystem auszunutzen. Migration, oft im Zusammenhang mit der sozialen Frage, steht auch im Zentrum der Politik von Marine Le Pen. Und so stellt sich die Frage, ob die „Nicolas“-Proteste deren Chancen auf die Präsidentschaft erhöhen.
Im Umfeld des aktuellen Präsidenten wächst jedenfalls die Unruhe. Das Macron-Lager „macht sich zu Recht Sorgen“, sagt Meinungsforscher Bruno Jeanbart von OpinionWay. „Sie wissen, dass die Bewegung das Herz ihrer Wählerschaft erreicht: erfolgreiche junge Menschen, die an harte Arbeit glauben und Macron gewählt haben.“
Längst hat der Trend ein Ausmaß angenommen, das der Élysée-Palast genau verfolgt. „Wir beobachten Bewegungen wie ‚Nicolas qui paie‘“, sagt ein Berater, der anonym bleiben will. „Man kann dies entweder als populistische, rechtsextreme Bewegung sehen oder als Warnsignal dafür, dass die Akzeptanz von Steuern in der Bevölkerung schwindet.“ Er fügt hinzu: „Wir glauben, dass beides zutrifft und die Steuern nicht erhöht werden dürfen.“
Der Zeitpunkt ist heikel. Premierminister François Bayrou dringt auf einen disziplinierten Haushalt für 2026, der durch Ausgabenkürzungen und neue Abgaben rund 44 Milliarden Euro einsparen soll. Zu den geplanten Maßnahmen gehört die Streichung von zwei der elf gesetzlichen Feiertage in Frankreich. „Im Herbst wird es heiß werden“, sagte ein französischer Beamter. „Wir müssen die Ausgaben um 30 Milliarden senken, und wir sind nicht gut im Sparen.“
Aus Sicht des französischen Präsidenten dürfte „Nicolas qui paie“ unangenehme Erinnerungen an eine andere Bewegung wecken: die Gelbwesten von 2018/19. Die damalige Anti-Abgaben-Kampagne entstand auf Facebook und führte zu wochenlangen gewalttätigen Protesten. Sie zwang Macron zu Zugeständnissen. Eine geplante Erhöhung der Spritsteuer machte er rückgängig, auch eine Steuererhöhung für Rentner nahm er zurück. Ironischerweise war Letzteres genau die Art von Maßnahme, für die die frustrierte „Nicolas“-Generation von heute kämpft.
Die Gelbwesten und die „Nicolas qui paie“-Anhänger werden aber von sehr unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen getragen. Eine Prognose darüber zu treffen, wie sich solche spontanen Bewegungen entwickeln und vor allem, wie viel Unterstützung sie in der Öffentlichkeit finden werden, ist schwierig. Fest steht, dass sich derzeit Online-Aufrufe zu Protesten und zur „Stilllegung des Landes” am 10. September mehren und bei Anti-Macron-Gruppen im Internet zunehmend Anklang finden.
Kampf um die frustrierte Mittelschicht
Im Zuge der erstarkenden „Nicolas”-Bewegung versuchen einige Politiker – sogar innerhalb der Regierung Macrons – die frustrierten Wähler der Mittelschicht für sich zu gewinnen. Hardliner-Innenminister Bruno Retailleau kritisierte vergangenen Monat den von Premier Bayrou anvisierten Haushalt und versprach neue Vorschläge zur Steigerung der Kaufkraft, da ansonsten „Nicolas weiter zahlen muss“. Der konservative Politiker Éric Ciotti witzelte im Juni, es sei „egal“, dass die Olympischen Spiele in Paris das Budget massiv überschritten hätten. Denn „Nicolas zahlt die Rechnung“.
Laut dem Meinungsforscher Jeanbart stellt sich die Frage, ob die „Nicolas“-Bewegung einen tieferen Wandel signalisiert. Könnten sich die jüngeren Generationen mit mittlerem Einkommen von den etablierten Parteien abwenden und sich Marine Le Pen zuwenden? „Historisch gesehen ist es genau diese Bevölkerungsgruppe, die der Rassemblement National bisher kaum erreichte“, sagt er. „Gewänne sie diesen Teil der Franzosen, könnten sie fast die Mehrheit der Wählerschaft erreichen.“
Rational betrachtet geht diese Rechnung nicht auf. Denn es sind gerade die Rentner und Bedürftigen der französischen Gesellschaft, die Le Pen im vergangenen Jahrzehnt umworben hat. Wenn sie sich nun auch zur Anwältin der ausgebeuteten Mittelschicht aufschwingt, wäre dies eine widersprüchliche Position.
Andererseits: Ob Le Pen die richtigen Antworten hat, war zuletzt oft eher nebensächlich, denn für viele französische Steuerzahler geht es in der Politik zunehmend darum, ihrer Frustration über das System Luft zu machen.
Mitarbeit: Océane Herrero
Dieser Artikel erschien auch in der WELT-Partnerpublikation „Politico“. Übersetzt und redaktionell bearbeitet von Klaus Geiger
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