Mileis Renten-Veto, ein Menetekel für Deutschlands Schuldenpolitik
Dreckige Plastikflaschen liegen auf dem Boden. Der argentinische Präsident Javier Milei, seine Schwester und wichtigste Beraterin Karina sowie weitere Mitstreiter haben sich auf einer verschlammten Straße für ein Foto aufgestellt. Für den Auftakt des Wahlkampfes in der Provinz Buenos Aires hatte Milei in der vergangenen Woche bewusst die Kulisse eines Armenviertels gewählt. „Nie mehr Kirchnerismus“ steht auf einem Banner, dass die Libertären vor sich hertragen.
Eine klare Botschaft. Die langjährigen links-peronistischen Präsidenten in Argentinien, Nestor Kirchner (2003-2007) und Cristina Kirchner (Präsidentin 2007 -2015, Vizepräsidentin 2019-2023) werden für den volkswirtschaftlichen Absturz des Landes verantwortlich gemacht, dessen Folgen besonders in der bevölkerungsreichen Provinz – und peronistischen Hochburg – rund um die Hauptstadt zu spüren sind.
Bei den anstehenden Wahlen im September und Oktober geht es für Javier Milei um alles. Die Argentinier entscheiden über die Zusammensetzung der politischen Landschaft in Senat und Kongress und verteilen die Macht auch auf regionaler Ebene neu. Längst wird das radikale Modell des libertären Präsidenten weltweit verfolgt, gilt vielen Anhängern als Gegenentwurf zu überregulierten und immer stärker staatlich kontrollierten Volkswirtschaften.
Zuletzt musste Milei, der im Kongress über keine eigene Mehrheit verfügt, bisweilen bittere Niederlagen bei Abstimmungen hinnehmen. Würden sich die Machtverhältnisse zu seinen Gunsten verändern, wäre der Weg frei für weitere strukturelle Reformen. Bis es so weit ist, ist der Präsident auf Dekrete oder sein Veto-Recht angewiesen. Genau das hatte er zuletzt gegen die von der Opposition eingebrachten Rentenerhöhungen eingesetzt.
Der Ökonom will die knallharte Sanierung des argentinischen Staatshaushalts fortsetzen – auch wenn er dafür ein hohes politisches Risiko eingehen muss. Mit seinem Veto riskiert er die Zustimmung einer ganzen Wählergeneration: die der Rentner, die nun wütend gegen den Präsidenten auf die Straße gehen. Während die Kirche von einem „Genozid“ an den Senioren spricht, beharrt Milei auf einem ausgeglichenen Haushalt.
Das Beispiel Argentinien zeigt, zu welchen harten Maßnahmen ein Staat gezwungen sein kann, wenn er jahrzehntelang über seine Verhältnisse lebt, schmerzhafte Reformen scheut und immer höhere Schulden anhäuft. Oder wie der deutsche Finanzminister Lars Klingbeil (SPD) jüngst über nötige Reformen der Sozialsysteme sagte, damit der Sozialstaat finanzierbar bleibe: „Wenn wir das als schwarz-rote Regierung nicht hinbekommen, werden irgendwann Leute mit der Kettensäge an die Macht kommen.“
Die Kettensäge ist Mileis Symbol – und steht für einen radikalen, teils rücksichtslosen Reform- und Sparkurs. Dem Präsidenten blieb auch gar nicht viel anderes übrig, nachdem er im November 2023 völlig überraschend die Wahl gewonnen hatte. Die leeren Kassen hatte er von seinen Vorgängerregierungen geerbt, die auf die Methode „Geld drucken“ setzten, um die Haushaltslöcher zu stopfen.
Die Folge: eine Hyperinflation und damit eine kollektive Enteignung der Menschen, die nicht in die Ersatzwährung Dollar flüchten konnten. Die argentinische Linke federte das mit Suppenküchen ab, die zwar populär waren, die strukturellen Probleme aber nicht lösen konnten.
„Das aktuelle argentinische Rentensystem ist ungerecht, überkomplex und nicht nachhaltig. Es basiert offiziell auf 30 Beitragsjahren – aber das gilt nur noch für eine Minderheit, nur für einen von fünf Rentnern“, erklärt Ökonom und Wirtschaftsberater Carl Moses aus Buenos Aires. Die Mehrheit der Renten werde „über immer wiederkehrende Moratorien oder zahlreiche Ausnahmen gewährt“. Auch wer nie Beiträge geleistet habe, könne eine Rente erhalten – sogar in etwa im Umfang eines jahrzehntelangen Einzahlers.
In der Praxis besteht das argentinische Rentensystem aus drei Elementen: erstens aus einer Art Grundrente für Menschen ohne Beitragsansprüche. Zweitens aus einer beitragsbasierten Rente für jene, die 30 Jahre eingezahlt haben. Die dritte Säule umfasst 200 Ausnahmeregelungen mit Vorteilen für bestimmte Berufsgruppen – vom Lehrer über Richter bis hin zum Ex-Präsidenten. „Der Regelfall ist zur Ausnahme geworden“, sagt Moses. Der Vorwurf, den das Milei-Lager regelmäßig andeutet: Bestimmte Berufs- und Rentnergruppen, die dem Peronismus traditionell nahestehen, wurden gezielt bevorzugt, um ihre Stimmen zu sichern.
Mileis Veto trifft die Rentner hart
Als Javier Milei Ende 2023 die Amtsgeschäfte von seinen peronistischen Vorgängern übernahm, lag die Finanzierungslücke in der Rentenkasse bei 29 Prozent. Im Jahr 2008 hatte sie noch bei 15 Prozent gelegen. „Das System ist strukturell unterfinanziert“, sagt Moses. Die Peronisten hatten das mit höheren Steuern für Besserverdienende ausgleichen wollen und auf hohe Importzölle für ausländische Produkte gesetzt.
Dass Mileis Veto die Rentner hart trifft, lässt sich nicht von der Hand weisen. Zu Beginn seiner Amtszeit hatte er die Renten vorübergehend nicht mehr an die Inflation angepasst – und diese Einbußen später nie ausgeglichen. Das hatte 2024 einen realen Kaufkraftverlust von rund 15 Prozent zur Folge.
„Mileis neue Formel, die er 2024 mit einem Notdekret eingeführt hat, koppelt die Renten zwar an die Monatsinflation, lässt aber jeden Ausgleich für frühere Verluste außen vor. Was einmal verloren ist, bleibt verloren – solange es keinen Sonderausgleich gibt“, sagt Moses.
Im Grunde sei das ungerecht, so der Experte. „Denn während Rentner verzichten müssen, wurden gleichzeitig Exportsteuern gesenkt.“ Weil der Ökonom sich zum Ziel gesetzt hat, Argentinien mit einem Konjunkturaufschwung aus der Krise zu führen, kommt er der Wirtschaft entgegen.
Experten fordern seit Jahren echte Strukturreformen für Renten- und Steuersystem sowie das Arbeitsrecht. Dafür fehlt Milei aber die Mehrheit im Parlament – noch. Und Kompromisse strebt er gar nicht erst an. Stattdessen setzt er wieder einmal alles auf eine Karte: auf die kommenden Wahlen und neue Mehrheitsverhältnisse im Parlament.
Die ökonomischen Kennziffern sprechen schon einmal für ihn: Die Wirtschaftskommission für Lateinamerika und Karibik (CEPAL) sieht Argentinien mit einem prognostizierten Wachstum von fünf Prozent als Spitzenreiter in der Region. Zudem ist die Armutsrate laut einer am Wochenende veröffentlichten Studie des Instituts ExQuanti auf den niedrigsten Stand seit 2018 gefallen. Das gilt allerdings nicht für die Rentner: Sie sind deutlich ärmer geworden.
Tobias Käufer ist Lateinamerika-Korrespondent. Im Auftrag von WELT berichtet er seit 2009 über die Entwicklungen in der Region.
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