Wenn ganz Donezk russisch würde – Die gefährliche Entblößung der Ukraine
Die Einladung von Wladimir Putin nach Alaska sei zwar „nicht ganz so schlimm“ wie die der Taliban im Jahr 2019 nach Camp David, „aber es erinnert daran“, so John Bolton, ehemaliger Sicherheitsberater von US-Präsident Donald Trump. In einem Interview mit CNN sprach Bolton von einem „großen Sieg“ für den russischen Machthaber, „dem skrupellosen Anführer eines Paria-Staats, der in den USA willkommen geheißen wird“.
Am Freitag, dem 15. August, soll das Treffen zwischen Trump und Putin in Alaska stattfinden. Bis heute ist unklar, ob der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj dabei sein wird. Trump ist nach Angaben aus Regierungskreisen zwar weiterhin offen dafür, macht das Treffen mit Putin aber nicht davon abhängig.
„Dies ist ein großes und unnötiges Zugeständnis Amerikas an das kleinere, ärmere und viel weniger mächtige Russland“, meint der Militärexperte Mick Ryan, pensionierter, hochrangiger Offizier der australischen Armee. Die Entscheidung, die Ukraine auszuschließen, sei „sowohl moralisch als auch strategisch korrupt“. Europäische Staats- und Regierungschefs forderten am Wochenende, dass keine Entscheidungen ohne Kiew getroffen werden dürften, dass auch Europa an den Gesprächen beteiligt werden müsse – und als ersten Schritt ein Waffenstillstand.
Bundeskanzler Friedrich Merz kündigte am Sonntag in den ARD-„Tagesthemen“ an, dass er noch heute mit Trump telefonieren wolle, um über das Treffen in Alaska zu sprechen. „Wir können jedenfalls nicht akzeptieren, dass über die Köpfe der Europäer, über die Köpfe der Ukrainer hinweg über Territorialfragen zwischen Russland und Amerika gesprochen oder gar entschieden wird. Ich gehe davon aus, dass die amerikanische Regierung das genauso sieht“, so Merz.
In den vergangenen Tagen hatte man in Kiew und anderen europäischen Hauptstädten zunehmend verzweifelt versucht herauszufinden, was Putin dem amerikanischen Sondergesandten Steve Witkoff am Mittwoch als eventuellen Spielraum genannt hatte. Details über die Position des Kremls, der bisher mit für Kiew inakzeptablen Maximalforderungen alle Verhandlungen torpediert hatte, liegen bis heute im Dunkeln.
Laut verschiedenen Medienberichten und Experten wie dem amerikanischen Institute for the Study of War (ISW) könnte Moskau jedoch ein zentrales Element als Basis einer Waffenruhe ansehen: einen Rückzug der Ukraine aus den Teilen der Oblast Donezk, die Russland bisher nicht erobern konnte. Neben Luhansk, Saporischschja und Cherson zählt sie zu den vier ukrainischen Regionen, deren Annexion Putin im September 2022 verkündet hatte und sich durch völkerrechtswidrige Scheinreferenden hatte „bestätigen“ lassen. Luhansk ist nahezu vollständig von russischen Truppen besetzt, in Donezk leistet die Ukraine aber noch erbitterten Widerstand, ebenso in den beiden südlichen Regionen.
Witkoff hatte nach mehreren übereinstimmenden Berichten den ukrainischen Rückzug aus dem Gebiet Donezk in einem Telefonat mit Vertretern europäischer Staaten am 8. August als „einziges Angebot“ bezeichnet. Die ukrainische Zeitung „Kiew Independent“ berichtete unter Berufung auf eine Quelle im ukrainischen Präsidialamt, dass der Kreml als „Zeichen des guten Willens“ auch angeboten haben soll, sich aus den nordöstlichen Oblasten Charkiw und Sumy zurückzuziehen – vorausgesetzt, die Ukraine gibt freiwillig Donezk ab.
Mehrere europäische Beamte, die über das Treffen zwischen Putin und Witkoff am Mittwoch informiert waren, betonten laut einem Bericht des „Wall Street Journals“, dass der russische Machthaber seine ursprüngliche, härtere Position nicht wiederholt habe: dass die Ukraine entmilitarisiert und ihre Regierung ersetzt werden müsse und dass auch die Oblaste Cherson und Saporischschja, deren Hauptstädte von der Ukraine kontrolliert werden, an Russland abgetreten werden sollten.
Donezk ist zentral für die Verteidigung
Was auch immer der russische Machthaber vorschlägt: Für Kiew wäre ein Rückzug aus Donezk eine nahezu inakzeptable Option. Zum einen sind der Regierung von Präsident Wolodymyr Selenskyj rechtlich die Hände gebunden. Die ukrainische Verfassung verbietet die Abtretung von Staatsgebiet. „Niemand wird davon abweichen – und niemand wird es können“, erklärte Selenskyj auf Telegram. „Die Ukrainer werden ihr Land nicht an den Besatzer verschenken.“
Zum anderen hat Donezk eine zentrale militärische Bedeutung für die Landesverteidigung. „Würde die Ukraine der russischen Forderung nachgeben, wäre sie gezwungen, ihren ,Festungsgürtel‘ aufzugeben und dies ohne Garantie, dass die Kämpfe nicht wieder aufgenommen werden“, erklärte die Denkfabrik ISW in einer ihrer Analysen zum Ukraine-Krieg.
Tatsächlich liegt in der Region die wichtigste Verteidigungslinie des Landes – und zwar schon seit dem Jahr 2014. Damals hatten von Russland unterstützte Separatisten im Donbass in der Ostukraine die „Volksrepubliken Donezk“ (DNR) und „Luhansk“ (LNR) ausgerufen. Kurz zuvor hatten russische Soldaten ohne Hoheitsabzeichen (sogenannte „grüne Männchen“) im Februar völkerrechtswidrig die Halbinsel Krim besetzt.
Ab 2014 herrschte dann Krieg im Donbass, mit immer neuen Angriffen und Toten. Der ukrainische Festungsgürtel verhinderte schon damals die Vorstöße der feindlichen Truppen. Heute ist er allerdings noch weitaus widerstandsfähiger. Nicht umsonst braucht die russische Armee meist viele Monate, teils sogar Jahre, um Dörfer und Kleinstädte einzunehmen.
Der Festungsgürtel war innerhalb der letzten drei Jahre mit viel Aufwand und Geld ausgebaut worden. Noch in den letzten Monaten hatten ukrainische Pioniereinheiten weitere Verteidigungsanlagen hinzugefügt. Mit befestigten Schützengräben, Bunkern, Stellungen sowie Panzersperren und Stacheldrahtrollen hatte Kiew insbesondere die Schutzzonen im Ballungsraum der beiden großen Städte Kramatorsk und Slowjansk ausweiten lassen. Schon von Weitem sind die in der Sonne funkelnden, weißen „Drachenzähne“ zu sehen, die sich Kilometer um Kilometer durch Wiesen, Felder und Wälder ziehen.
„Für den Kreml und seine territorialen Ambitionen ist Donezk ein großes Hindernis“, konstatiert das ISW. Der Festungsgürtel bestehe aus insgesamt vier Großstädten und mehreren Städten und Siedlungen, „die sich von Norden nach Süden entlang der Fernstraße H-20 Kostjantyniwka-Slowjansk erstrecken und in denen vor dem Krieg insgesamt über 380.537 Menschen lebten“.
Die Orte verfügen über eine spezielle Verteidigungsinfrastruktur. Nicht umsonst war die russische Armee zu Kriegsbeginn im Frühjahr 2022 daran gescheitert, die Stadt Slowjansk einzunehmen, was laut ISW „den Erfolg der langfristigen Bemühungen der Ukraine unterstreicht“.
In den beiden letzten Monaten kommt die russische Armee zwar schneller voran und besetzt monatlich rund 500 Quadratkilometer. Trotzdem würde es bei diesem Tempo noch Jahre dauern, bis Moskau die Eroberung der gesamten Oblast verkünden könnte. Bis es so weit ist, würde der Verschleiß an Ausrüstung und der Verlust an Soldaten unvorstellbare Ausmaße annehmen.
Der kampflose Rückzug ukrainischer Soldaten aus dem Gebiet Donezk „als Voraussetzung für einen Waffenstillstand ohne Verpflichtung zu einer endgültigen Lösung würde Russland in eine sehr gute Position bringen“, stellt das ISW abschließend fest. Yaroslav Trofimov, der außenpolitische Chefkorrespondent des „Wall Street Journals“ schreibt dazu auf X: „Eine Aufgabe der stark befestigten Städte im Norden Donezks durch die Ukraine (...) wäre so ziemlich dasselbe wie die Aufgabe des Sudetenlandes durch die Tschechoslowakei im Jahr 1938: Sie würde die Verteidigung des Rests der Ostukraine erheblich erschweren.“
Ein Blick auf die Landkarte genügt: Ohne die Festung Donezk wären die Großstädte Charkiw, Dnipro, Saporischschja, Poltawa und irgendwann auch die Hauptstadt Kiew gefährdet. Allein aus Gründen der nationalen Sicherheit und der Schutzverpflichtung ihren Bürgern gegenüber kann die Ukraine einer Abgabe der verbliebenen Gebiete in Donezk nicht zustimmen. Außer, es gäbe tatsächlich ausreichende Sicherheitsgarantien dafür, dass Putin diesen Krieg nicht weiter fortsetzt. Doch danach sieht es derzeit nicht aus.
Alfred Hackensberger hat seit 2009 aus mehr als einem Dutzend Kriegs- und Krisengebieten im Auftrag von WELT berichtet. Vorwiegend aus den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens wie Libyen, Syrien, dem Irak und Afghanistan, aber auch aus Bergkarabach und der Ukraine.
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