In Russlands „Vorhof“ ist nichts mehr wie es war
Es waren ungewöhnlich klare Worte zwischen zwei eigentlich verbündeten Autokratien. Aserbaidschans Machthaber Ilham Alijew, eigentlich ein langjähriger Partner von Wladimir Putin, solidarisierte sich in einem Interview im Juli mit der Ukraine – und rief Kiew dazu auf, von Russland besetzte Gebiete zurückzuerobern.
Russische Kriegs-Blogger tobten; der Kreml war bemüht, den Vorgang herunterzuspielen. Zuvor hatten russische Behörden aserbaidschanische Staatsbürger verhaftet und misshandelt; worauf Aserbaidschan mit Festnahmen von Russen im eigenen Land reagierte. Im Dezember hatte die russische Flugabwehr ein aserbaidschanisches Passagierflugzeug abgeschossen. Alijew fordert von Russland seitdem ein Schuldeingeständnis und kündigte an, vor internationale Gerichte zu ziehen.
Die Vorfälle zeigen: Aserbaidschan lässt sich von Moskau nicht mehr alles gefallen. Und: Der Krieg in der Ukraine hat auch Einfluss auf den Südkaukasus, genauso wie die jüngste Eskalation zwischen Israel und dem Iran. In der Region, in der die Nachfolgestaaten dreier alter Imperien – dem russischen, dem osmanischen und dem persischen Reich – um Einfluss ringen, vollzieht sich seit geraumer Zeit eine Machtverschiebung.
Russland verliert an Einfluss, die Türkei und Aserbaidschan wollen das Machtvakuum füllen. Gleichzeitig hat sich nahezu unbemerkt von der Weltöffentlichkeit plötzlich ein Fenster für einen langfristigen Frieden zwischen Armenien und Aserbaidschan geöffnet – der die Kräfteverhältnisse in der Region entscheidend verändern würde. Anfang Juli hatten sich die beiden Länder nach über 30 Jahren Krieg erstmals ohne Vermittler getroffen, und kündigten an, einen Friedensvertrag anzustreben.
Am Freitag könnte dieser nun vollzogen werden. US-Präsident Donald Trump wird nach eigenen Angaben die beiden Staats- und Regierungschefs im Weißen Haus zu einer „offiziellen Zeremonie zur Unterzeichnung eines Friedensabkommens“ empfangen. Er freue sich darauf, den Präsidenten von Aserbaidschan, Ilham Alijew, und den Ministerpräsidenten von Armenien, Nikol Paschinjan, zu dem historischen Gipfel zu begrüßen, erklärte Trump am Donnerstag auf seiner Online-Plattform Truth Social. Zudem würden die USA mit beiden Ländern bilaterale Wirtschaftsabkommen unterzeichnen.
Und auch zwischen Armenien und der Türkei deutet sich nach Jahrzehnten der Spannungen eine vorsichtige Normalisierung an. Wie sehen die neuen Kräfteverhältnisse in der Region aus? Was hat jedes Land zu gewinnen – und zu befürchten? Ein Überblick.
Aserbaidschan
Das autokratisch geführte Aserbaidschan ist der am stärksten hochgerüstete Staat in der Region – und anders als Armenien und Georgien – bei der Energieversorgung unabhängig von Russland. Aserbaidschan besitzt selbst reiche Öl- und Gasvorkommen und profitiert von Russlands Krieg in der Ukraine doppelt: Einmal indirekt als Rohstofflieferant an die EU, die unabhängiger von Russland werden will, und indirekt, weil Russland den Südkaukasus als alternativen Absatzmarkt und für Sanktionsumgehungen braucht.
„Alijew strotzt gerade vor Selbstbewusstsein“, sagt Stefan Meister, Kaukasus-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) über Aserbaidschans Machthaber. Sein Land will die neue Sicherheitsmacht in der Region werden – zusammen mit der Türkei, wohin Baku beste Beziehungen unterhält. Außerdem ist Aserbaidschan verbündet mit Israel, mit dem es eng in Energie- und Rüstungsfragen kooperiert.
Die neuen Machtverhältnisse erlaubten es Alijew, einen 30 Jahre andauernden Konflikt zu seinen Gunsten zu beenden: Seit dem Zerfall der Sowjetunion haben Aserbaidschan und Armenien mehrfach um die Region Bergkarabach gekämpft, die völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört, aber von Armenien kontrolliert und besiedelt war. 2020 eroberte Aserbaidschan den Großteil der armenisch kontrollierten Gebiete und nahm 2023 den Rest ein. Russland, bis dato die Schutzmacht Armeniens, sah tatenlos zu.
In die Friedensverhandlungen mit Armenien ging Aserbaidschan mit Maximalansprüchen, fordert einen Korridor in die aserbaidschanische Exklave Nachitschewan. Dadurch würde das isolierte Armenien nicht nur Staatsgebiet, sondern auch die Außengrenze zum Iran verlieren – neben der zu Georgien die einzige derzeit offene Grenze, über die man Handel treiben kann. Für Jerewan eigentlich eine inakzeptable Option.
Armenien
Die Niederlage gegen Aserbaidschan und der Verlust von Bergkarabach waren für Armenien traumatisch – bahnten jedoch den Weg zur Beilegung des Konflikts. Dem Land bleibt auch kaum eine andere Wahl: Armeniens Position auf der geopolitischen Landkarte ist denkbar ungünstig.
Im Westen liegt die Türkei, die bis heute keine Verantwortung für den an den Armeniern verübten Genozid im Osmanischen Reich übernommen hat. 1993 brachen die beiden Länder ihre Beziehungen ab; bis heute sind die Grenzen geschlossen. Im Osten steht der langjährige Feind Aserbaidschan – nur nach Norden und Süden hat Armenien Optionen, Handel zu treiben.
Ausgerechnet der international geächtete Iran ist ein wichtiger Partner für Armenien; neben Georgien – dessen Regierung den Westkurs allerdings verlassen hat und seit Jahren wieder Richtung Russland driftet. Durch eine Einigung mit Aserbaidschan und der Türkei könnte Armenien Teil des „Mittleren Korridors“ werden, eine Russland umgehende Handelsroute von China nach Europa.
In Armenien fühlt man sich von Moskau verraten und tut viel dafür, die Abhängigkeit zu reduzieren. Durch eine Stärkung von Demokratie und Zivilgesellschaft sowie der Ratifizierung des Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs, möchte das Land den Weg Richtung Westen und EU einschlagen. Trotzdem bleibt die Abhängigkeit von Russland hoch; weite Teile der Infrastruktur und Energieversorgung werden von Moskau kontrolliert.
Russland
Russland betrachtet den Kaukasus seit dem Zarenreich als seinen Vorhof – hat im Zuge des Ukraine-Kriegs aber an Einfluss verloren. „Russland ist nicht mehr der Hegemon im Südkaukasus“, sagt DGAP-Experte Meister. Lange hatte es den Ex-Sowjetrepubliken im Kaukasus die Bedingungen diktiert. Nun braucht Russland die Länder als Transitraum und Absatzmarkt, um westliche Sanktionen zu umgehen – und muss plötzlich um Einfluss verhandeln.
Der Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien war für Russland günstig; Moskau verkaufte beiden Parteien Waffen und profitierte davon, dass sich die Kriegsparteien gegenseitig schwächten. Deswegen hat Russland auch kein Interesse an besseren Beziehungen zwischen Armenien und Aserbaidschan.
„Frieden schwächt die Position Russlands in der Region“, sagt der armenische Sicherheitsanalyst Areg Kochinyan. Genau das dürfte Trump nun aber erreichen.
Militärisch ist Russland in der Region immer noch dominant, derzeit aber in der Ukraine gebunden. Deswegen versucht Moskau seine Interessen über wirtschaftlichen Druck und Propaganda durchzusetzen. Man hat sich bereits auf den armenischen Regierungschef Paschinjan eingeschossen, den Moskau bei den 2026 anstehenden Wahlen durch einen prorussischen Kandidaten ersetzt sehen möchte.
Georgien
In Georgien ist das Szenario im Gange, das Russland auch in Armenien anstrebt: Das Land hat seinen klaren Westkurs abgebrochen und driftet wieder in den russischen Orbit.
Georgien war EU-Beitrittskandidat, nun droht Brüssel dem Land sogar mit Sanktionen. Die Regierungspartei Georgischer Traum versprach der Bevölkerung zwar die Annäherung an Europa, führte dann aber trotz monatelanger Proteste Gesetze gegen die Zivilgesellschaft nach russischem Vorbild ein und legte den Beitrittsprozess auf Eis.
Hinter dem Georgischen Traum steht der Oligarch Bidsina Iwanischwili, der durch Rechtsstaatsreformen im Sinne der EU seine Macht verlieren würde. Der Fall Georgien zeigt, wie schwierig ein Westkurs für ein Land sein kann, das seine russischen Beziehungen und Abhängigkeiten nicht völlig abgeschüttelt hat.
Wie es jetzt weitergeht
Die Zukunft der Region hängt auch von den Kriegen in der Ukraine und zwischen Israel und dem Iran ab. Sollten Russlands Truppen irgendwann aus der Ukraine abziehen, steigt das Risiko, dass Moskau mit militärischen Provokationen im Südkaukasus eingreift.
Und je schwächer der Iran ist, desto geringer ist der Handlungsspielraum Armeniens. Da die Türkei und Aserbaidschan sich als „Bruderstaaten“ verstehen, würde eine Grenzöffnung zwischen der Türkei und Armenien nur mit Zustimmung Aserbaidschans erfolgen. Trotzdem sieht Kaukasus-Experte Meister die Chancen auf einen Friedensvertrag als „so groß wie noch nie“ an.
Trump jedenfalls ist voller Vorfreude. Der Freitag werde „ein historischer Tag für Armenien, Aserbaidschan, die USA und die Welt“ sein, verkündete er. Das dreiseitige Dokument soll um 16.15 Uhr Ortszeit (22.15 Uhr MESZ) unterzeichnet werden.
Der Sender CBS berichtete, das Abkommen gewähre den USA das Recht, auf armenischem Gebiet einen Korridor von 43 Kilometern Länge anzulegen, welcher „Trump Straße für Internationalen Frieden und Wohlstand“ („Trump Road for International Peace and Prosperity“, kurz: TRIPP) genannt werden soll. Die EU, die auf Gaslieferungen aus Aserbaidschan angewiesen ist, schaut dem Treiben bislang nur zu.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke