Seit Kriegsbeginn hält unser Autor Kontakt zu Menschen in Gaza. Ständig muss er sich fragen: Was ist wahr? Was Propaganda? Und soll man auch Hamas-Sympathisanten interviewen? 

Manchmal dauert es lange, bis Zaher mir antwortet. Meine Nachrichten dringen nicht immer sofort durch in das windige Zelt, das der 66-Jährige sich im Westen von Gaza-Stadt selbst zusammengesteckt hat. Seit Monaten lebt er dort mit seinen Söhnen, seinen Schwiegertöchtern und seinen Enkeln. Es sind nur wenige Kilometer von hier in ihr altes zerbombtes Haus in Beit Lahija. Und doch eine Ewigkeit zurück ins alte Leben.  

Wenn Zaher Netz hat, schickt er mir oft Fotos. 

Einen Schnappschuss der Auberginen, die er in die krümelige Erde vor seinem Zelt gepflanzt hat. Sie sind sein ganzer Stolz. "Um ein schönes Umfeld zu schaffen", schreibt er dazu.  

Ein Bild seines Enkels, der grinsend ein Glas in die Kamera hält. "Er war sehr glücklich heute über sein Mittagessen. Ein Stückchen Brot und Tee. Ohne Zucker." 

Ein Selfie von sich selbst, einem greisen Mann mit Knubbelnase, Hut und treuen Augen, die in tiefen Höhlen liegen. "Ich habe 15 Kilo abgenommen und kann keine langen Strecken mehr gehen."  

Zaher und ich sind uns im wahren Leben noch nie begegnet. Seine Nummer habe ich vor einigen Monaten eher zufällig von einem seiner Verwandten in Deutschland bekommen. Seitdem teilt er mit mir den täglichen Kampf ums Überleben.  

Es war nie so einfach und so schwer, über Krieg zu berichten

Was ich sicher sagen kann: Zaher und seine Familie leiden. Jeden Tag. Sie hungern. Sie erzittern vor den Bombeneinschlägen wenige Straßen weiter. Sie fürchten seit 21 Monaten den Tod. Doch nicht alles, was Zaher mir schreibt, kann ich bis ins letzte Detail prüfen. Dieser fremde Mann zum Beispiel, den er neulich fotografierte – ausgemergelt, mit nackten Füßen, rücklings auf der Straße liegend – ist er wirklich vor Erschöpfung zu Boden gesunken? Kann ich alles glauben, was Zaher mir erzählt? Was ist wahr? Was vielleicht nur Hörensagen? Flüsterpost? Oder gar, wie Israels Regierung sagen würde: Hamas-Propaganda? 

Gaza stellt uns Journalisten vor ein zermürbendes Dilemma. Es war wohl nie so einfach und gleichzeitig so schwer, über einen Krieg zu berichten.  

Einfach, weil wir inzwischen in einer Welt leben, die bis in ihren letzten Winkel durchdigitalisiert ist. Ein Kollege erzählte mir letztens vom Redaktionsalltag während des Irakkriegs 2003. Für sein Büro ließ er sich einen Anschluss des arabischen Senders Al-Jazeera einrichten. Es war damals eine der wenigen, öffentlich zugänglichen Informationsleitungen zwischen Bagdad und Hamburg.  

Heute mögen Menschen in Gaza alles verloren haben – ihr Haus, ihre Kinder, ihre Würde – aber ein Smartphone und ein Facebook-Profil besitzen die meisten noch. Nachrichten aus dem Krieg verbreiten sich schneller denn je. Israel bombardiert eine Schule, die zuletzt als Flüchtlingsunterkunft diente? Minuten später kursieren Fotos und Videos davon im Netz. Ein Livestream des Leids.   

Mit Würde hat dieser Zustand nichts mehr zu tun

Selbst wenn der Krieg morgen zu Ende wäre: Die Mehrheit der knapp 2,1 Millionen Palästinenser hat kein Zuhause mehr. Ein Blick von der israelischen Seite der Grenze offenbart das Ausmaß der Verwüstung. Mindestens 70 Prozent der Gebäude sind nach jüngsten Erhebungen der Hebrew University in Jerusalem zerstört und unbewohnbar, etwa 88 Prozent des Küstenstreifens nach Angaben des UN-Nothilfebüros OCHA mittlerweile unter Kontrolle des israelischen Militärs (IDF). Die Bevölkerung sei auf zwölf Prozent des Gazastreifens zusammengepfercht. Seit dem Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 starben in Gaza 60.000 Menschen © REUTERS
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Schwer, weil wir all diese Informationen irgendwie filtern und verifizieren müssen. Der klassische Weg, das als Reporter zu tun, wäre: hinfliegen, hinsehen. Mit der palästinensischen Mutter sprechen, deren Baby nur halb so viel wiegt wie ein gleichaltriges, gesundes deutsches Kind. Die Essensausgabe an den Verteilzentren der undurchsichtigen Gaza Humanitarian Foundation (GHF) beobachten, die amerikanische Privatfirmen und die israelische Armee gemeinsam betreiben, und bei denen laut Vereinten Nationen (UN) bereits mehr als 1000 Hilfesuchende getötet wurden. Zu den Trümmern fahren, die israelische Kampfjets hinterlassen, um den oft erhobenen, aber auch oft unbelegten Vorwürfen aus Tel Aviv nachzugehen, in dieser Klinik oder jenem Wohnhaus hätte sich eine Kommandozentrale der Hamas befunden.  

All das bleibt mir, bleibt uns Medien verwehrt.  

Seit Beginn des Krieges im Oktober 2023 blockiert Israel den Zugang nach Gaza für ausländische Journalisten –  mit wenigen, wohl choreografierten Ausnahmen. Vereinzelt bot die Armee Touren durch ausgehobene Hamas-Tunnel an –  mit Zivilisten konnten die Reporter dabei nicht sprechen. Zuletzt organisierte man einen Ausflug auf die palästinensische Seite des Grenzübergangs Kerem Schalom, um palettenweise Hilfsgüter zu präsentieren, die von Lastwagen der UN angeblich nicht abgeholt würden. Die UN selbst sagt: Das passiere, weil Israel den Transport der Güter oft nicht genehmige oder nur unzureichend vor Plünderungen schütze.  

Meinung Dieses Bild berührt Sie nicht mehr? Dahinter steckt Absicht

Vor wenigen Tagen begleitete der BBC-Reporter Jeremy Bowen einen der ersten Flüge der internationalen Luftbrücke über Gaza. Die Ansage der Israelis: Sein Kamerateam sollte nicht durch das kleine Bullauge des Militärflugzeugs filmen. Niemand sollte das zerbombte Gaza dort unten zu Gesicht bekommen. Gezeigt wird, was genehm ist: symbolische, fallschirmgestützte Hilfspakete. Viel zu wenige, um die Not der Menschen in Gaza wirklich zu lindern. Doch die internationale Gemeinschaft kann sagen: Wir helfen. Und Israels Premier Benjamin Netanjahu kann sagen: Wir lassen helfen.  

Ich fragte: "Wie ist die Lage?" Seine Antwort: "Scheiße"

Um aus der Ferne über den abgeschotteten Küstenstreifen zu berichten, sind wir also angewiesen auf Augenzeugenberichte von Menschen wie Zaher. Gaza ist klein. Halb so groß wie Hamburg, aber knapp zwei Millionen Menschen. Man kennt sich, Telefonnummern werden weitergereicht.  

So ist in den vergangenen fast zwei Jahren ein Netz an Kontakten entstanden, deren Geschichten für sich genommen zwar kein vollständiges Bild aus Gaza zeichnen. Doch übereinandergelegt ergeben sie ein Mosaik der Verzweiflung. 

Da ist zum Beispiel Hala, eine junge Ärztin in Chan Junis, die erzählt, sie würde lieber verhungern, als zu den Verteilzentren der GHF zu gehen. "Das ist eine Todesfalle", sagt sie.   

Da ist Mohammed, der über den Tod von Verwandten so nüchtern schreibt wie über das Wetter: "Mein Cousin wurde vor zehn Tagen ermordet."   

Da sind Menschen, die für die UN oder NGOs nach Gaza reisen; die aber zunehmend resignieren angesichts der nicht besser werdenden humanitären Situation. Letztens schrieb ich einem deutschen Rettungssanitäter: "Wie ist die Lage?" Seine lakonische Antwort: "Scheiße."  

Der Klinikchef aus Gaza und ein Vorwurf

Internationale Helfer können für uns Dinge vor Ort unabhängig einordnen. Doch sie genießen gewisse Privilegien im Kriegseinsatz. Ihre Unterkünfte sind "deconflicted", was bedeutet, dass Israels Armee ihre genauen Koordinaten kennt und – in den allermeisten Fällen – nicht angreift. Sie haben Geld, Verpflegung, Strom, und ein Rückflugticket in die Heimat.  

Das neue stern-Cover zeigt eine Palästinenserin mit ihrem abgemagerten Kind

Für die aktuelle stern-Titelgeschichte wollte ich deshalb mit jemandem sprechen, der zugleich Retter und Opfer ist. Mit einem Mann, der den Tod der anderen verhindern will und ihm selbst jeden Tag ins Auge blickt. Ich gelangte an die Kontaktdaten von Fadel Naim, dem Klinikdirektor des Al-Ahli-Krankenhauses in Gaza-Stadt, eines der letzten noch funktionstüchtigen Spitäler im Norden.  

Naim, 59, stammt aus Gaza, praktiziert dort seit 2003 als Chirurg, hat sein medizinisches Grundstudium aber in Erlangen absolviert. Noch heute kennt er Wörter wie "Blutarmut". Auch andere Medien zitierten ihn bereits, unter anderem die "Zeit", die britische BBC, die Nachrichtenagentur Reuters, das angesehene US-Magazin "The New Yorker".  

Wir verabredeten uns zu einem Telefoninterview für Sonntagabend. Anderthalb Stunden lang erzählte mir der Direktor von Amputationen ohne Narkose, von abgemagerten Patienten, von vor Hunger erschöpften Kolleginnen. Davon, dass er selbst aufgehört habe, die Toten in seiner Verwandtschaft zu zählen. Es seien einfach zu viele gewesen.  

An diesem aufwühlenden Gespräch gibt es nur einen Haken: Fadel Naim wird vorgeworfen, der Hamas nahezustehen. Wir haben uns dennoch entschlossen, das Interview mit ihm abzudrucken.  

Klinik in Not "Wir haben das einzige CT in Gaza"

Ja, es gibt da diesen Post auf Naims privatem Facebook-Account, fast zehn Jahre alt, 4. September 2015: Es sind Fotos von der Hochzeitsfeier einer seiner Töchter. Darauf zu sehen: Anscheinend auch Ismail Hanija, damals Hamas-Führer, später dann Leiter des Politbüros der Terrororganisation. Israel brachte ihn vorigen Juli durch einen Anschlag in Teheran zur Strecke. 

Dass leitendes medizinisches Personal in Gaza Kontakte zur Hamas pflegt, ist nicht außergewöhnlich. Klinikdirektor wird man in einem solch totalitären System nicht, wenn man sich nicht mindestens neutral verhält. Die Krankenhäuser unterstehen dem von der Hamas geführten Gesundheitsministerium, von dem sie etwa Gelder, Materialien und Blutkonserven erhalten. Die Hamas, das sind nicht nur mordende, in Tunneln vergrabene Terrormaulwürfe, sondern auch: Vollzeitbürokraten in Anzügen.  

Kein Raum mehr für Empathie, nur noch für Hass

Und ja, Naim machte im Netz auch schon Stimmung gegen Israel. Den jüdischen Staat bezeichnete er als "Feind" – nur einen Tag, nachdem die Hamas am 7. Oktober 2023 auf grauenhafte Weise 1200 Menschen massakrierte und 251 Geiseln nach Gaza entführte, von denen immer noch einige dort gefangen sind. Doch zur traurigen Wahrheit des Nahostkonflikts gehört eben auch: Kippt das Tischgespräch im arabischen Raum auf das Thema Israel, landen schnell unerträgliche antisemitische Sätze auf dem Teller. Und spricht man in Israel über Palästinenser, ist es oft genau umgekehrt. Zionisten! Islamisten! Tiere! Nach Jahrzehnten des Blutvergießens sind die Gräben zwischen beiden Lagern an vielen Stellen unüberwindbar geworden. Da ist kein Platz mehr, keine Kraft für Empathie mit der Gegenseite. Nur noch Hass. 

Wer bin ich, ein in Frieden und Wohlstand aufgewachsener 28-jähriger Deutscher, ausgerechnet darüber zu urteilen?  

Letztlich lässt sich nicht abschließend beurteilen, wie Fadel Naim heute wirklich zur Hamas steht. Er hätte es mir wohl auch nicht verraten. Über Politik wollte er nicht sprechen. Es relativiert nicht, dass seine Mutter von einem israelischen Luftschlag getötet wurde, wie er mit stockender Stimme berichtet; es schmälert nicht die horrenden Zustände in seinem Krankenhaus, die die Weltgesundheitsorganisation, viele NGOs und andere Medienberichte bestätigen; und es radiert auch die Tatsache nicht einfach aus, dass er ein Mensch ist, der anderen Menschen das Leben rettet, und der selbst in Frieden und Gesundheit leben möchte. 

© stern

So können Sie helfen

Die Menschen in Gaza brauchen humanitäre Hilfe. Dieser Link führt Sie zum Spendenformular der Stiftung stern – Hilfe für Menschen e.V. Wir leiten Ihre Spende an renommierte Organisationen weiter, die dafür Sorge tragen, dass die Unterstützung vor Ort ankommt.

Wenn auf meinem Handy die Privatnachrichten aus Gaza aufleuchten, ist es meist schon abends. Die Palästinenser in der dämmernden Hölle auf Erden. Ich auf der Hantelbank, dem Weg zum Feierabenddrink mit Freunden, im weichen Bett. Seit 21 Monaten geht das jetzt so.  

An Silvester hatte ich mir drei Dinge für das neue Jahr vorgenommen: Weniger rauchen. Mehr auf mich selbst achten. Endlich von vor Ort aus Gaza berichten. Um alle drei Vorsätze steht es nicht sonderlich gut.  

Regelmäßig beklagt Benjamin Netanjahu die angebliche Voreingenommenheit der westlichen Medien. Er diskreditiert glaubwürdige Quellen wie die UN. Er brandmarkt Berichte als Propaganda und Fake News. Es gäbe einen einfachen Weg, diesen Vorwurf zu entkräften: einen uneingeschränkten Zugang der Medien zu Gaza. Dass Israels Premier diesen nicht gewährt und auf absehbare Zeit wohl auch nicht gewähren wird, hat offensichtliche Gründe: Was er zu sehen, zu lesen und zu hören bekäme, würde ihm noch mehr missfallen als ohnehin schon.   

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