Es gibt Texte, von denen weiß man als Journalist, dass man sie irgendwann schreiben wird. Meist, weil man sie unbedingt schreiben will. Von diesem Text aber ahnte ich nicht einmal, dass ich ihn jemals schreiben würde. Ich will ihn auch immer noch nicht schreiben. Aber ich muss.

Israel ist nicht einfach ein Land für mich. Ich bin Deutscher. Zwar trage ich keine persönliche Schuld an dem schlimmsten aller Menschheitsverbrechen, in dessen Folge dieser Staat erst entstand, ich genieße die Gnade der späten Geburt, wie sie Helmut Kohl mal verrutscht nannte. Aber ich kann nicht an Israel denken, ohne an die deutsche Schuld gegenüber Juden zu denken. Sie sprang mich an, wenn ich las und hörte über den Holocaust, und vielleicht noch mehr, wenn ich las und hörte über die Jahre danach, über das deutsche Schweigen und Verschweigen, das Relativieren, die ganze furchtbare "Vergangenheitsbewältigung", die am Ende doch nicht immer eine war.

Das neue stern-Cover zeigt eine Palästinenserin mit ihrem abgemagerten Kind

Und es sprang mich an in all den Jahren, als viele Leute sich ungeheuer aufregen konnten über alles, was Israel tat, ohne auch nur zu registrieren, was andere Menschen und Staaten den Juden angetan hatten oder noch immer antaten. Diese ganze Heuchelei, auch an den Universitäten, an denen ich studierte, wo Israel meist das Böse (und der Völkerrechtsverletzer) schlechthin war und die (fast ausnahmslos autokratischen) Länder in seiner Nachbarschaft zu verkappten Friedensfürsten verklärt wurden. Die Verharmlosung des neuen Antisemitismus, von Terrororganisationen wie der Hamas, das Ausblenden ihrer Propaganda, dazu deren Versagen (oder Verweigern), demokratische Institutionen aufzubauen, wie es sie in Israel gibt.

Das ist seit der Hamas-Attacke auf Israel am 7. Oktober 2023 noch mal schlimmer geworden, rund 1200 Tote, 251 Entführte. Wer diese Gräueltat rechtfertigen wollte mit israelischen Fehlern (wie es geschah), der könnte auch sagen, den Terror vom 11. September 2001 hätten sich die Amerikaner selbst eingebrockt. "Nie wieder ist jetzt", so haben wir damals beim stern getitelt. Und wenn früh manche sagten, man müsse aber auch die katastrophalen Zustände in Gaza auf den Titel heben, zögerte ich: Ausgerechnet wir als deutsches Magazin sollten das jüdische Leid ins Verhältnis setzen? Klar, wir berichteten über die Verwüstungen unter den Palästinensern, aber dass Israel sich legitim verteidigte, daran mochte ich lange nicht zweifeln.

Diese Gefühle sind nicht verschwunden, sie sind noch immer da. Und doch sind andere Gefühle dazugekommen, die auch immer da waren, die ich aber lange unterdrückt habe. Ich habe mir vom ersten Tag an die Bilder angeschaut, die es aus Gaza in unsere Redaktion spülte, und sie taten mir weh, und sie taten vielleicht noch mehr weh, weil ich kurz vor dem Angriff Vater von Zwillingen geworden war. Was wäre, wenn deren Ärmchen so dünn wären? Wenn sie morgens schreien würden vor Hunger, und mittags, und abends, nachts sowieso, und ich nichts tun könnte?

Mit Würde hat dieser Zustand nichts mehr zu tun

Selbst wenn der Krieg morgen zu Ende wäre: Die Mehrheit der knapp 2,1 Millionen Palästinenser hat kein Zuhause mehr. Ein Blick von der israelischen Seite der Grenze offenbart das Ausmaß der Verwüstung. Mindestens 70 Prozent der Gebäude sind nach jüngsten Erhebungen der Hebrew University in Jerusalem zerstört und unbewohnbar, etwa 88 Prozent des Küstenstreifens nach Angaben des UN-Nothilfebüros OCHA mittlerweile unter Kontrolle des israelischen Militärs (IDF). Die Bevölkerung sei auf zwölf Prozent des Gazastreifens zusammengepfercht. Seit dem Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 starben in Gaza 60.000 Menschen © REUTERS
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Aber es sind nicht nur diese menschlichen Gefühle, so sehr wir auf diese hören sollten. Es sind auch die Fakten. Israel hat sich in einen Vergeltungskrieg hineingesteigert, der weder Maß kennt noch, und das ist fast schlimmer, ein klares Ziel. Israel ist aber das falsche Wort, man müsste schreiben: die israelische Regierung. Denn die Mehrheit der Israelis will laut Umfragen längst Frieden. Fast 60.000 Menschen sind nach Angaben palästinensischer Behörden tot, darunter wohl 18.000 Kinder. Viele weitere droht der Hungertod hinzuraffen. Israelische Soldaten beschießen Zivilisten, deren einziges Vergehen es ist, nach Essbarem zu suchen. Israel kontrolliert nun fast 90 Prozent des Gazastreifens, rund zwei Millionen Menschen drängen sich auf einem Gebiet, das so groß ist wie ein Stadtteil von Berlin. 

Es herrscht die Hölle auf Erden, das sagen nicht israelfeindliche Kreise, das sagen so gut wie alle, die Krieg kennen, etwa der Generaldirektor des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, Pierre Krähenbühl: "Wenn Gaza die Zukunft des Krieges ist, dann habe ich Angst um die Zukunft der Menschheit." Es geht, so ist in US-Medien zu lesen, nicht mehr um die Frage, ob Israels Existenz gesichert werden muss – es geht um die Frage, wie sehr Israel dominieren darf. Benjamin Netanjahu agiert wie Donald Trump oder Viktor Orbán, er entledigt sich lästiger Kritiker und all derer, die gegen ihn ermitteln. Er führt diesen Krieg um des Krieges willen, genauer: um seiner eigenen Macht willen. "Wie im Drehbuch der Populisten", schreibt die "Süddeutsche Zeitung", "verwandelt sich Israel, das doch die leuchtende Demokratie im Nahen Osten sein sollte, in haltloser Geschwindigkeit in ein System, das auf Netanjahu zugeschnitten ist." Es gibt Momente, in denen man sagen muss: Es reicht.

In Amerika war dieser Moment spätestens gekommen, als die Folter-Fotos aus Abu Ghraib zeigten, wie sehr sich das Land im "Krieg gegen den Terror" moralisch verrannt hatte. Ich weiß, wie schwierig die aktuelle Lage politisch ist, ich beneide keinen deutschen Politiker darum, Israel Grenzen aufzeigen zu müssen. Sollen ausgerechnet wir Deutsche Israel Waffen vorenthalten, obwohl das Land immer noch bedroht ist, immer noch umgeben von Staaten, die offen über seine Auslöschung reden? Sollen gerade wir Deutsche etwa künftig Israel boykottieren, durch Sanktionen im Stile von "Deutsche, kauft nicht bei Juden!"? Die Anerkennung Palästinas, wo nicht einmal eine taugliche politische Führung existiert, wäre höchstens symbolisch.

© stern

So können Sie helfen

Die Menschen in Gaza brauchen humanitäre Hilfe. Dieser Link führt Sie zum Spendenformular der Stiftung stern – Hilfe für Menschen e.V. Wir leiten Ihre Spende an renommierte Organisationen weiter, die dafür Sorge tragen, dass die Unterstützung vor Ort ankommt.

Es muss etwas geschehen, über eine Luftbrücke hinaus, auch wenn ich die Hamas für eine unfassbar zynische Terrororganisation halte; auch wenn mich die Bilder der immer noch gefangen gehaltenen israelischen Geiseln zu Tränen rühren. Der Gazakrieg muss enden, und ja, auch wir Deutschen müssen dazu beitragen. Denn er ist nicht mehr auf (berechtigte und sehr verständliche) Selbstverteidigung angelegt, sondern längst auf Zerstörung, auf Rache, auf Hass. Wir müssen zum Ende dieses Krieges beitragen, nicht trotz unserer Geschichte, sondern wegen unserer Geschichte. Israel zu sagen, wann es aufhört, Israel zu sein – das kann auch eine Form der deutschen Staatsräson sein. 

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