Okay, die Ferien seien Friedrich Merz ausnahmsweise gegönnt. Doch danach wird es Zeit, endlich mal auf die zu hören, die sich wirklich auskennen: uns Ostdeutsche natürlich.

Noch ist kein Brillenkaiman bei Dormagen aufgetaucht und kein Problembär aus Italien eingewandert. Nicht einmal eine falsche Löwin wurde in der märkischen Savanne gesichtet. 

Doch das Sommerloch ist schon da. Es saugt alles auf, was uns journalistisch Schaffenden eben noch groß und wichtig erschien, die parlamentarischen Eklats, die parteipolitischen Gefechte und die schmutzigen Gesänge der AfD. Viel existenzieller ist jetzt, wie stark der Wind auf Rügen bläst, wie viel die Maß im Chiemgau kostet und wie voll der Strand auf Mallorca ist.

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Nachdem das Sommerloch im vergangenen Jahr landtagswahlkampfbedingt pausiert hatte, verschluckt es gerade die gesamte politisch-mediale Hauptstadtblase samt ihren Aufgeregtheiten in einem beeindruckenden Tempo. Sogar für Friedrich Merz beginnt demnächst der Urlaub, wobei er sicherheitshalber darauf wartet, bis auch Bayern in die Ferien geht. Schließlich weiß ein Kanzler nie, was der zugehörige Ministerpräsident so anstellt.

Und nach den Ferien die Richterwahl 

Der Defekt eines Sommerlochs ist leider, dass es nicht alles verdauen kann. Denn das, was tatsächlich groß und wichtig ist, einschließlich der Kriegs-, Krisen- und Klimakalamitäten, spuckt es nach den Ferien verlässlich wieder aus. 

Und ja, sorry, darunter wird auch die so bezeichnete Richterwahl sein.

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Deshalb wäre es vielleicht besser, wenn sich der Kanzler nicht am unvermeidlichen Tegernsee von der SPD erholte, sondern an irgendeinem Gewässer in der Lausitz, im Vogtland oder in der Uckermark. Zum einen hat er, wie bereits an anderer Stelle beklagt, seit seinem Amtsantritt noch kein ostdeutsches Flächenland betreten. Zum anderen erführe er dort nebenbei alles über Minderheitsregierungen, parlamentarische Pattsituationen und Sperrminoritäten – und über die enormen Widrigkeiten, die damit verbunden sind.

Merz könnte sich etwa in Sachsen von seinem CDU-Stellvertreter Michael Kretschmer erzählen lassen, wie er mithilfe der Linkspartei einen Haushalt beschloss. In Thüringen wiederum würde ihm Präsidiumsmitglied Mario Voigt mitteilen, dass die Richter- und Staatsanwaltsausschüsse seit Monaten nicht besetzt werden können, weil die AfD die nötige Zweidrittel-Mehrheit blockiert. Und in Brandenburg dürfte ihm der Sozialdemokrat Dietmar Woidke davon berichten, wie Sahra Wagenknecht seine Koalition mit dem BSW in unregelmäßigen Abständen zu erpressen versucht.  

© Sascha Fromm

Ganz Naher Osten

stern-Autor Martin Debes berichtet vorrangig aus den fünf östlichen Bundesländern. In seiner Kolumne schreibt der gebürtige Thüringer auf, was im Ganz Nahen Osten vorgeht – und in ihm selbst

Es wäre eine Art Repetitorium für den Kanzler. Denn die Ministerpräsidenten haben Merz schon einiges eingepaukt. Sie warnten ihn vor Zufallsmehrheiten im Bundestag mit der AfD und davor, sich allzu selbstsicher in eine geheime Kanzlerwahl zu begeben. Und sie erläuterten ihm, wie unfassbar kompliziert es in einem Parlament wird, wenn sich aus der Mitte heraus keine Zweidrittel-Mehrheit mehr organisieren lässt. Aber ach, er hörte einfach nicht.

Friedrich Merz: "Das bleibt schwierig"

Dabei scheint Merz das Thema inzwischen zumindest intellektuell durchdrungen zu haben. "Wir haben schwierige Mehrheitsverhältnisse im Deutschen Bundestag", sagte er im ARD-Sommerinterview und prophezeite: "Das bleibt schwierig." Wahlen mit knappen Mehrheiten würden "ein Stück weit politische Normalität in unserer Demokratie".

Doch das Problem ist, dass Merz bislang bloß das neue Normal beschreibt, aber nicht danach handelt. Er durchläuft damit jene frühe Entwicklungsphase, in der sich die ostdeutsche Politik vor einigen Jahren befand, als auch dort noch Ministerpräsidenten und Koalitionen wider besseres Wissen ins eigene Scheitern stolperten.

Dies bedeutet: Der Kanzler und sein Fraktionschef Jens Spahn müssen sich endlich ernsthaft damit auseinandersetzen, was in Erfurt, Dresden und Potsdam geschieht – und was womöglich im nächsten Jahr nach den Landtagswahlen in Magdeburg und Schwerin passieren wird. Zu den zentralen Lehren gehört, dass Union und Linkspartei gemeinsam abstimmen können, ohne den inhaltlich und strategisch notwendigen Abstand zueinander aufzugeben. Der Abgrenzungsbeschluss der CDU von 2018, in dem eine Äquidistanz nach links wie rechts außen festgelegt wurde, ist von der ostdeutschen Wirklichkeit längst überholt. 

Dass zwischen extremem Linkspopulismus und dem populistischen Rechtsextremismus auch bei der Wählerschaft ein großer Unterschied besteht, analysierte zuletzt ausgerechnet Renate Köcher, deren Allensbach-Institut so etwas wie der demoskopische Hoflieferant der Union ist. "AfD-Anhänger unterscheiden sich gravierend von den Anhängern aller anderen Parteien", schrieb sie in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". 69 Prozent seien mit dem demokratischen System in Deutschland unzufrieden, nur 17 Prozent seien für die europäische Integration. 

Die Anhänger der Linken sind laut Köcher "völlig anders gepolt" und "weitaus näher an den Mitte-Parteien als AfD-Anhänger". Das gelte auch für das Institutionen- und Systemvertrauen.

Ich habe die Tage mal mit Andreas Bühl telefoniert. Er kommt aus Ilmenau, wo ich einst zur Schule ging. Heute leitet er in Erfurt die CDU-Landtagsfraktion. Wir sprachen darüber, dass jetzt auch im Bundestag Stimmen von Linke oder AfD benötigt werden, um Verfassungsrichter zu wählen – und dass seine Bundespartei damit erkennbar noch nicht so recht umgehen kann. 

"Die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag sind nun einmal so, wie sie sind", sagte Bühl. "Priorität muss haben, dass das Bundesverfassungsgericht vollständig besetzt ist und der Bundestag auch bei Grundgesetzänderungen handlungsfähig bleibt."

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Bühl stellt sich auch nicht immer geschickt an. Im vergangenen Herbst setzte er unnötig brachial die Wahl eines CDU-Abgeordneten zum Landtagspräsidenten durch, obwohl das alleinige Vorschlagsrecht für den Posten der AfD zustand. Es war eine in jeder Hinsicht unschöne Vorstellung – aber eben auch wieder eine jener ostdeutschen Erfahrungen, aus denen die gesamte Republik Lehren ziehen sollte. 

Der Fraktionsvorsitzende kennt die Rechtsextremisten aus dem Parlament; Björn Höcke sitzt im Plenarsaal nur wenige Meter von ihm entfernt. Und so wie die meisten Ostdeutschen kennt er die Anhänger der Partei auch aus seiner Nachbarschaft oder dem Freundeskreis. Mehr noch: Sein älterer Bruder sitzt für die AfD im Bundestag. 

Auch deshalb differenziert Bühl. Als Abgeordneter stützte er einst de facto eine Linke-geführte Regierung. Und als Regierungsfraktionschef organisiert er jetzt Mehrheiten mit den Stimmen der Linken. 

Dass dies insbesondere in Westdeutschland auf Unverständnis stößt, weiß er. Das rühre daher, sagt er, dass man sich dort noch "in einer komfortableren Mehrheitssituation" befinde. Aber: "Auch das kann sich ändern."

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