„Wenn es ernst wird, laufen wir nicht einfach weg“
Knapp 300 deutsche Soldaten beteiligen sich an der Mission der Vereinten Nationen im Südlibanon, kurz Unifil. Die Bundeswehr leitet die Maritime Task Force, geführt von dem deutschen Flottillenadmiral Richard Kesten. Tausende Blauhelmsoldaten aus verschiedenen Ländern patrouillieren zudem am Boden entlang der sogenannten „Blue Line“, seit dem Jahr 2000 die Demarkationslinie zwischen Israel und Libanon.
Nach knapp eineinhalb Jahren Krieg zwischen der schiitischen Miliz Hisbollah und Israel liegen im Südlibanon zahlreiche Orte in Trümmern. Israel wirft sowohl Unifil als auch der libanesischen Regierung vor, die Bewaffnung der proiranischen Hisbollah-Miliz in der Grenzregion zugelassen zu haben. Tatsächlich kontrollierte sie in den vergangenen Jahren weite Teile des Südlibanon – und nicht die Regierung.
WELT: Admiral Kesten, Sie haben den Krieg zwischen der Hisbollah und Israel ab Sommer 2024 im südlibanesischen Frontgebiet verbracht. Was haben Sie vor Ort erlebt?
Richard Kesten: Meine Kameraden und ich haben mehr als 700 Stunden im Bunker verbracht und haben die Zerstörung des Ortes Naqoura, wo wir stationiert sind, mit eigenen Augen verfolgt.
WELT: Wie intensiv war diese Zeit?
Kesten: Im Juli 2024, als ich ankam im Südlibanon, war es noch relativ übersichtlich. Da hat die Hisbollah täglich Raketen auf Israel abgefeuert, und die israelische Armee reagierte sofort mit einem Gegenschlag. Das waren stetig wiederkehrende Schusswechsel. Als Ende 2024 dann aber die Bodenoffensive der Israelis losging, haben sie das mit massivem Artilleriefeuer und mit Fliegerbomben und Beschuss von See aus unterstützt. Dadurch haben sie den israelischen Bodentruppen ein Vorrücken ermöglicht. Durch die massive Hisbollah-Präsenz und das schwierige Gelände konnte Israel aber nur langsam vorstoßen. Allein um Naqoura hat man zwei Wochen lang gekämpft.
WELT: Die UN-Truppen standen ohne robustes Mandat quasi hilflos zwischen den Fronten. Warum haben Sie das Frontgebiet nicht verlassen?
Kesten: Israel hat ja zu Beginn der Bodenoffensive die UN-Truppen gebeten, den Südlibanon zu verlassen. Das wurde durch die UN abgelehnt, da sonst ja das gesamte Mandat überflüssig geworden wäre. Wir haben dann in Naqoura versucht, den Betrieb irgendwie am Laufen zu halten. Denn: Wenn es ernst wird, laufen wir nicht einfach weg. Die Versorgung wurde aber schwieriger. Wir mussten uns genau überlegen, wie wir uns bewegen.
WELT: Es kam laut Berichten mehrfach zum Beschuss auf UN-Truppen.
Kesten: Wir hatten im Hauptquartier selbst diverse Direktbeschüsse mit verletzten ausländischen Unifil-Kräften. In einem Gebäude in unserem Camp ist zudem eine Rakete eingeschlagen, auch da gab es Verletzte. Diese Einschläge der Fliegerbomben, teilweise nur einige Hundert Meter von uns entfernt, waren schon massiv. Das habe ich als Marineangehöriger zuvor nicht erlebt.
WELT: War dieser Beschuss auf UN-Truppen ein Versehen? Oder passierte dies gezielt?
Kesten: Einmal hat ein israelischer Kampfpanzer einen UN-Wachturm angelasert, und unmittelbar danach ist es dort eingeschlagen. Wahrscheinlich gab es keinen Befehl, aber es war unprofessionell. Einmal ist ein UN-Soldat nachts am Zaun lang gegangen, ihm wurde seitlich in den Oberkörper geschossen mit einer Bordmaschinenwaffe.
WELT: Die UN-Friedenstruppen haben kein robustes Mandat. Das heißt, sie können nicht eigenständig mit Waffengewalt eingreifen, sondern bleiben bewaffnete Beobachter. Welchen Beitrag können Sie so überhaupt leisten?
Kesten: Unifil vervielfacht die Möglichkeiten der Libanesen, aber auch der Israelis. Aber diese Möglichkeiten müssen auch in dem Sinne genutzt werden. Wenn die Libanesen vor Ort nicht aktiv sind, ist Unifil allein sinnlos. Israel erwartet, dass Unifil die Aufgabe übernimmt, die Hisbollah zu entwaffnen. Die Bevölkerung im Südlibanon wiederum erwartet von Unifil, von israelischen Luftschlägen geschützt zu werden. Klar ist: Es muss der libanesische Staat sein, der das Gewaltmonopol und die Kontrolle im Südlibanon hat. Wenn der Staat aber kein Geld für den Wiederaufbau hat, wird er sich in der Gesellschaft nicht durchsetzen.
WELT: Innerhalb der Unifil heißt es, dass die Kommunikation mit Israel sehr eingeschränkt sei. Blauhelmsoldaten berichten, dass sie den Eindruck hätten, eher als feindliche Einheit wahrgenommen zu werden.
Kesten: Es gibt einen Notrufkontakt mit den Israelis. Aber Unifil legt Wert darauf, dass die Kommunikation mit Israel nicht ausfranst, sondern zentral über das Hauptquartier in Naqoura läuft. Dort wird das dann über das israelische Militärministerium an die Truppen weitergegeben. Wenn der Libanon Israels Vertrauen zurückgewinnen sollte, kann das nur mit starker staatlicher Präsenz vor Ort gelingen. Dabei kann Unifil unterstützen.
WELT: Was genau machen die deutschen UN-Truppen dafür?
Kesten: Deutschland stellt derzeit die Fregatte „Brandenburg“ mit rund 200 Besatzungsmitgliedern. Wir leiten die maritime Taskforce von Unifil, zu der neben dem deutschen noch ein indonesisches, bangladeschisches, türkisches und griechisches Schiff zählen. Diese Schiffe patrouillieren vor den libanesischen Küstengewässern und überprüfen Handelsschiffe. Wir kategorisieren sie als „verdächtig“ oder „unverdächtig“. Ziel ist vor allem, den Waffenschmuggel in den Libanon zu unterbinden.
WELT: Was passiert, wenn Sie ein Schiff unter Verdacht haben?
Kesten: Wird ein Schiff als „vessel of interest“ eingestuft, übernimmt die libanesische Küstenwache die Durchsuchung – noch vor dem Einlaufen in den Hafen. Aktuell begleiten deutsche Soldaten diese Einsätze. Viele der überprüften Schiffe kommen aus der Türkei, Ägypten oder der Ukraine.
WELT: Bis zum vergangenen Jahr galt der Landweg über Syrien als die zentrale Route für den Waffenschmuggel in den Libanon. Gilt das noch?
Kesten: Unter dem alten Assad-Regime war der Landweg entscheidend. Der Seeweg spielte für die Hisbollah kaum eine Rolle. Aber das könnte sich jetzt ändern. Im April wurden im Hafen von Tripoli drei Container mit Sturmgewehren und Waffenteilen entdeckt. Trotzdem: Einen systematischen Waffenschmuggel über See sehen wir bislang noch nicht. In den Vorjahren war das fast gar kein Thema, weil der Landweg zu bequem war. Wir sehen, dass die Hisbollah derzeit angeschlagen ist und vorsichtiger agiert. Alle wissen, dass eine Wiederbewaffnung der Hisbollah einen israelischen Gegenschlag auslösen würde.
WELT: Mich hat im Südlibanon in den vergangenen Tagen überrascht, wie massiv viele Grenzdörfer und Hisbollah-Hochburgen durch den Krieg seit Ende 2023 zerstört wurden. Wie kampfstark und einflussreich ist die Miliz noch?
Kesten: Die Hisbollah ist eine Bewegung, die in viele Bereiche der Gesellschaft Einfluss nimmt: die Feuerwehr, die Krankenversorgung, die Schulen, die Stadtverwaltungen. Aber seit Ende 2023 wurde die Miliz empfindlich getroffen, weil die israelische Aufklärung im Libanon sehr umfassend ist. Gerade die Depots an weitreichenden Waffen der Hisbollah im Südlibanon hat Israel zu einem großen Anteil zerstört. Ich nehme neben den hohen personellen Verlusten auch eine Kriegsmüdigkeit wahr. Die Sorge war im Libanon schon groß, dass Kämpfer der Miliz nach Beginn des Kriegs dem Iran beispringen könnten. Aber davon haben wir nichts gesehen.
WELT: Auch bei Aufmärschen der Hisbollah im Libanon kann man derzeit eine gewisse Zurückhaltung wahrnehmen. Abseits der üblichen Kampfparolen gegen Israel wirkte die Stimmung unter vielen Anhängern gedämpft.
Kesten: Wir haben Hinweise, dass die Entschädigungen für zerstörte Häuser und die sogenannten „Märtyrerrenten“ für die Familien gefallener Kämpfer oft noch ausbleiben. Israel hat extrem viel Wert der Hisbollah zerstört. Allein im Ort Naqoura, wo ja auch wir mit Unifil stationiert sind, wurden 90 Prozent aller Häuser zerstört. Im Vergleich zu 2006, wo die Hisbollah noch sehr finanzstark und mächtig war, herrscht nun Enttäuschung unter Anhängern. Das wäre natürlich jetzt die Chance, dass der libanesische Staat dieses Vakuum einnimmt.
WELT: Wie leistungsfähig ist die libanesische Armee?
Kesten: Die Marine hat ein gutes, hoch motiviertes Offizierskorps. Aber die Armee insgesamt ist in einem kritischen Zustand. Es fehlt an einem festen, professionellen Personalstamm. Viele Soldaten erhalten nur ein Drittel oder Viertel ihres früheren Gehalts – sie müssen Nebenjobs machen, um ihre Familien zu ernähren.
WELT: Haben Sie wirklich den Eindruck, dass der libanesische Staat jetzt Ernst macht im Kampf gegen Hisbollah?
Kesten: Die Lage hat sich deutlich geändert. Unifil geht auch ohne die libanesischen Streitkräfte im Südlibanon auf Patrouille und sucht Gebiete ab. Und über den sogenannten Mechanismus – zu dem die USA, Frankreich, Israel, Libanon und Unifil gehören – werden der libanesischen Armee bestimmte Aufgaben zugewiesen. Das heißt: Wenn ein Waffendepot der Hisbollah im Südlibanon gefunden wurde, erhält die libanesische Armee ein paar Stunden Zeit, um dies zu beseitigen. Falls das nicht passiert, führt häufig die israelische Armee Luftschläge durch.
Ibrahim Naber ist seit 2022 WELT-Chefreporter. Er berichtet regelmäßig von der Front in der Ukraine sowie aus anderen Kriegs- und Krisengebieten.
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