Mein Vater wollte das Haus in Syrien auf keinen Fall verlassen“, sagt der deutsch-syrische Oberarzt Tameem Alhammoud. Die Familie sei zwar geschockt gewesen, dass Regierungskräfte in ihre Heimatprovinz Suweida einmarschieren wollten. „Aber was sollte schon passieren“, habe der Vater argumentiert. Schließlich habe es im Dorf weder Waffen noch Milizionäre gegeben, die gegen die Regierung kämpften. „Aber die Regierungskämpfer brachten meinen Vater um, räumten die Häuser aus und verbrannten das Dorf“, sagt Alhammoud im Gespräch mit WELT. Das ist erst etwas mehr als eine Woche her.

Seit zehn Jahren lebt der 39-Jährige in Deutschland. Heute ist er Neurologe in einem renommierten Krankenhaus in Berlin. Aufgewachsen ist Alhammoud in Thaala, einem 7000-Einwohner-Dorf in Suweida, der Provinz im Süden Syriens, die mehrheitlich von Drusen bewohnt ist. Die religiös-ethnische Minderheit macht etwa drei Prozent der syrischen Bevölkerung aus.

In den vergangenen zwei Wochen kam es in und um Suweida zu Kämpfen zwischen Regierungstruppen und lokalen Kämpfern der Drusen. Bei diesen Auseinandersetzungen sind laut einer noch nicht vollständigen Zählung der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) bereits 1265 Menschen ums Leben gekommen. Rund 200 Menschen wurden demnach Opfer standrechtlicher Hinrichtungen durch die Regierungskräfte des syrischen Übergangspräsidenten Ahmed al-Scharaa.

„Meine Schwester fand meinen Vater auf der Terrasse, erschossen, mit Fliegen auf seiner Leiche. Sie begrub ihn unter einem Baum im Garten“, berichtet Alhammoud. „Zuvor hatten die Dschihadisten ihre Gewehre an den Kopf meiner Schwester gehalten. Sie bekannte sich zum Islam, weil sie Angst hatte, dass sie sie umbringen würden. Sie hörte, wie die Kämpfer vor dem Haus anderen Kämpfern sagten, das Haus sei bereits geplündert worden, die Frau darin sei alt und hässlich. Sie war erleichtert, dass sie sie nicht vergewaltigen oder entführen würden.“

Solche Schreckensgeschichten mussten die Angehörigen der Opfer verkraften – auch in Deutschland, wo schätzungsweise einige tausend Drusen leben und zahlreiche familiäre Verbindungen nach Suweida pflegen.

„Die Katastrophe ist so groß“, sagt Salim Azzam, ein Chemieingenieur aus Dresden, zu WELT. „Jeder in meinem Umfeld hat jemanden verloren. Wir haben einige Zeit gebraucht, um zu verstehen, wie groß der Hass gegen uns ist. Selbst syrische und arabische Leitmedien verbreiteten Hetze, Propaganda und Mobilisierungsaufrufe gegen die Drusen. Wir waren kollektiv entsetzt. Wozu das Ganze?“

Das Morden im „Gebirge der Drusen“, wie die Region genannt wird, begann mit einer Fehde zwischen drusischen und beduinischen Milizionären. Offiziell hieß es, die Regierung Scharaas schicke Truppen zur Vermittlung zwischen beiden Konfliktparteien. Doch bereits auf dem Weg nach Suweida haben Regierungstruppen Videos aufgenommen, in denen sie die Drusen als „Schweine“ beschimpfen und ihnen mit einem blutigen Schicksal drohen. Zahlreiche Aufnahmen fluteten die sozialen Medien.

In den Drohvideos spielen Regierungskämpfer mit Rasierklingen. In der tradierten Kultur der Drusen gilt der Schnurrbart als Zeichen der Identität und Würde. Später filmten sich die Regierungskämpfer dabei, wie sie drusischen Männern tatsächlich den Schnurrbart abschneiden oder rasieren.

Gesten der Erniedrigung, bei denen es aber nicht blieb. In einem der brutalsten Videos der vergangenen zwei Wochen fragt ein Kämpfer einen verwundeten, unbewaffneten Mann, ob er „Muslim oder Druse“ sei. Der Mann antwortet, er sei Syrer. „Was heißt Syrer?“, antwortet der Regierungskämpfer. Als der Verwundete zugab, Druse zu sein, wurde er mit mehreren Schüssen getötet.

Diese Aufnahmen und Augenzeugenberichte dienen den Angehörigen der Opfer als Beweismittel und Dokumente für das religiös-ethnisch motivierte Massaker gegen die drusische Minderheit. „Die Schockstarre ist vorbei“, sagt der in Dresden lebende Azzam. „Nun ist es an die Zeit, die Verbrechen aufdecken, die von den Regierungskräften und ihren Verbündeten begangen worden sind.“

Beteiligt an den Taten waren nicht nur offizielle Regierungskämpfer. Während der Schlacht riefen Stammesführer in Syrien, die mit den Beduinen Suweidas verwandt sind, zur Mobilisierung in ganz Syrien auf. Zehntausende Stammesmänner marschierten nach Suweida, um die Regierungskräfte zu unterstützen. Suweida wurde bombardiert. Internet, Festnetz und Strom wurden abgeschaltet. In einer Fernsehansprache würdigte der Übergangspräsident al-Scharaa die Unterstützung der Stämme – zum Erstaunen der drusischen Opfer und ihrer Angehörigen.

Zehntausende sind auf der Flucht

„Scharaa, den ich immer noch mit seinem dschihadistischen Namen Dscholani nenne, trägt die komplette Verantwortung für die Massaker“, sagte Azzam. „Wenn er sich als alleinige Staatsmacht in Syrien stilisieren will, dann muss er sich auch für die Tötungen, Plünderungen und Brände seiner Kämpfer verantworten.“

Aufgrund der Gewalttaten in Suweida mussten mehr als 93.000 Menschen ihre Häuser verlassen, berichtet das UN-Amt für humanitäre Angelegenheiten (OCHA). Das ist die größte Fluchtbewegung in Syrien seit dem Sturz des Diktators Baschar al-Assad im vergangenen Dezember. Gewalt, Flucht und Vertreibung betrafen jedoch nicht nur die Drusen. Noch immer werden Hunderte Beduinenfamilien aus Suweida evakuiert. Eine temporäre Maßnahme, um weitere Eskalationen zu vermeiden, so die Argumentation aus Damaskus.

Neben seiner Arbeit als Chemieingenieur ist Azzam Vorsitzender des in Deutschland eingetragenen Vereins Sanad. Der Verein kümmert sich unter anderem um die Angehörigen der Opfer früherer islamistischer Massaker in Suweida. Als die Kämpfe dort ausbrachen, koordinierte Azzam gemeinsam mit einem 14-köpfigen Team die Lieferung und Verteilung von Medikamenten und Lebensmitteln in der Region. In Deutschland organisierte der Verein Demonstrationen, um Solidarität mit der angegriffenen Minderheit zu bekunden.

Diese Demonstrationen dienten unter anderem der „Stabilisierung der Angehörigen“, sagt der Menschenrechtsaktivist und Sprecher von Pro Asyl, Tareq Alaows. „Seit den Massakern verbringen wir unsere ganze Zeit am Handy und konsumieren Nachrichten. Bei einem laufenden Massaker hat man nicht das Privileg, zu trauern. Auf den Kundgebungen können die Menschen das jetzt tun. Nur so können wir besser zum Schutz unserer Angehörigen in Syrien beitragen und die Kriegsverbrechen des neuen Regimes dokumentieren“, so Alaows.

Kein Vertrauen in die Zentralregierung

Alaows selbst habe vergangene Woche drei Verwandte in Suweida verloren, sagt er. Von Deutschland fordert er, dass die Bundesregierung sich dafür einsetze, „dass UN-Kräfte den Schutz der Minderheiten in Syrien sichern“, denn „die syrische Regierung ist aktuell Teil des Konflikts – und wir haben kein Vertrauen in sie. Wenn die Schuldigen nicht zur Verantwortung gezogen werden, dann wird sich in Syrien ein Regime etablieren, dem Minderheiten schutzlos ausgeliefert sind.“

Inzwischen hat die Bundesregierung die Massaker verurteilt. Azzam fordert jedoch, dass Deutschlands Beziehungen zu den Machthabern in Damaskus neu bewertet werden. „Dieses Regime hat in sieben Monaten Tausende von Menschen umgebracht“, sagt er. „Das Land braucht eine unabhängige Wahrheitsfindungskommission. Eine terroristische Regierung soll nicht sich selbst kontrollieren dürfen.“

Azzam berichtet, dass selbst auf deutschen Straßen die Massaker an den Drusen in Syrien teilweise mit Beifall bedacht worden seien. „Bei einer Demonstration in Berlin hat uns ein Passant mit Auslöschung gedroht“, sagt der 39-jährige. Einige Passanten hätten ihre Hände demonstrativ so bewegt, als hielten sie Scheren in der Hand.

Doch trotz des Hasses und der Gewalt will Alaows die Hoffnung in die syrische Gesellschaft nicht verlieren. „Ich weiß, dass viele in Syrien es nicht gut finden, was gerade passiert. Aus allen konfessionellen und ethnischen Gruppen des Landes erhalte ich Solidaritätsbekundungen“, sagt er, „denn viele wissen, dass die Angriffe auf Suweida die Zukunft Syriens bestimmen werden. Wenn es Dscholani jetzt gelingt, die drusische Bevölkerung und andere Minderheiten zu unterdrücken, dann haben wir den Kampf für ein friedliches, demokratisches Syrien bereits verloren.“

Amin Al Magrebi ist Volontär an der Axel Springer Academy. Für WELT schreibt er unter anderem über Syrien und den Nahost-Konflikt.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke