Mit ihrer Ignoranz gegenüber dem Leid in Gaza isoliert sich die Bundesregierung. Und macht sich zum Komplizen einer Politik, die Hunger als Waffe einsetzt. Ein Gastbeitrag von Sawsan Chebli.

28 Staaten – darunter Frankreich, Italien, Großbritannien, Spanien, Norwegen, Australien und Kanada – haben Israel in einer gemeinsamen Erklärung aufgefordert, den Krieg in Gaza unverzüglich zu beenden. Deutschland hat sich diesem Aufruf nicht angeschlossen. Es ist nicht das erste Mal, dass die Bundesregierung sich in der Frage von Leben und Tod, von Recht und Unrecht, von Krieg und Frieden in Bezug auf Gaza ins Abseits stellt – aber es ist womöglich eines der folgenreichsten Male.

Denn die politische Botschaft ist eindeutig: Deutschland stellt sich nicht an die Seite des Völkerrechts. Nicht an die Seite des humanitären Prinzips. Nicht an die Seite von internationalem Recht. Nicht an die Seite der Mehrheit seiner internationalen Partner. 

© Christophe Gateau / Picture Alliance

Zur Person

Sawsan Chebli, geboren 1978 in Berlin als Tochter palästinensischer Flüchtlinge, ist Mitglied der SPD. Sie war Sprecherin des Auswärtigen Amts unter Frank-Walter Steinmeier und Staatssekretärin für bürgerschaftliches Engagement im Berliner Senat

Stattdessen duckt es sich weg, mit dem kalkulierten Risiko, sich zum Komplizen einer Politik zu machen, die Hunger als Waffe einsetzt, zivile Infrastruktur systematisch zerstört, öffentlich kommuniziert, Menschen vertreiben zu wollen und alle roten Linien, Grenzen, bestehenden Regeln und Gesetze überschreitet.

Gaza: Was bleibt von unserer historischen Verantwortung?

Das alles ist Ausdruck einer deutschen Staatsräson, die sich jedem ernst gemeinten Versuch verweigert, Druck auf Israels Regierung auszuüben. Selbst dann, wenn deren Politik nicht nur Völkerrecht bricht, sondern auch die fundamentalen Interessen Deutschlands und Europas beschädigt. Selbst dann, wenn erwiesen ist, dass jeder Tag, den dieser Krieg andauert, das Leben von Dutzenden Menschen kostet.

Was bleibt von unserer historischen Verantwortung, wenn sie uns nicht dazu verpflichtet, uns massivem Unrecht entgegenzustellen?

Deutschland isoliert sich mit dieser Entscheidung international immer weiter. Es verspielt Ansehen, Glaubwürdigkeit und moralische Autorität. Während andere Staaten führen, bleibt Deutschland stumm. Während andere Verantwortung übernehmen, betreibt man Realitätsverweigerung. Anstatt sich der Gewalt entgegenzustellen, äußert man sich heuchlerisch "besorgt", als seien die Toten in Gaza Opfer einer Naturkatastrophe, für die niemand verantwortlich ist. Man befasst sich lieber mit der Frage, ob der Vorwurf des Genozids in Gaza antisemitisch ist, anstatt sich für den Schutz von Menschenleben einzusetzen.

"Genozidales Verhalten" Der Plan ist da – warum geht das Töten in Gaza dann immer weiter?

Diese Doppelmoral hat Folgen – nicht nur außenpolitisch, sondern auch innenpolitisch. Für Millionen Menschen mit palästinensischen oder arabischen Wurzeln in Deutschland und auch für deutsche Muslime ist das Schweigen der Bundesregierung ein Schlag ins Gesicht. Es zeigt ihnen: Ihre Stimmen, ihr Leid, ihr Schmerz zählen nicht. Allein das untergräbt schon das Vertrauen in Demokratie und Rechtsstaat. 

Die Extremisten können sich entspannt zurücklehnen

Die Folgen reichen jedoch darüber hinaus und betreffen auch Deutsche ohne "Migrationshintergrund". Diejenigen, die systematisch versuchen, den Zusammenhalt zu zerstören, die Glaubwürdigkeit der liberalen Gesellschaft zu unterminieren und unser politisches System verächtlich zu machen, können sich entspannt zurücklehnen: Die Bundesregierung und Deutschlands politische Elite liefert ihnen gratis die Munition, um zu demonstrieren, dass das, was an unseren Schulen über Menschenrechte, Werte gelehrt wird, eine Farce ist. Weil es nur dann gilt, wenn es politisch opportun ist. Dass Deutschland zwar ständig vor den Folgen von Desinformation und Fake News warnt, aber Fakten und wissenschaftliche Erkenntnisse – etwa zur Frage eines Genozids in Gaza – dann zurückstellt, wenn sie mit der politisch gewollten Realität kollidieren. Ob man diesen Zusammenhang im politischen Berlin begriffen hat?

Deutschland präsentiert sich heute als ein Land, das sich selbst entmächtigt, weil es nicht in der Lage ist, seine eigenen Versprechen ernst zu nehmen. Ein Land, das die internationale Ordnung verteidigen will, es sei denn, es kommt etwas anderes dazwischen. Ein Land, das zwar überall Einfluss haben will, aber zu vergessen scheint, was es damit eigentlich erreichen will.

Hinweis: Gastbeiträge im stern bilden nicht notwendigerweise die Meinung der Redaktion ab. Wir lassen ein breites, demokratisches Meinungsspektrum zu Wort kommen.

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