„Aufforderung, dass sich Juden niemals und nirgendwo sicher fühlen sollen“
Am Dienstagvormittag beugt sich Kristin Pietrzyk im Verwaltungsgericht Berlin nach vorn, ein Justizbeamter schaltet das vor ihr stehende Mikrofon ein. „Dass wir hier überhaupt streitig verhandeln, bestürzt mich“, sagt die Rechtsanwältin, die regelmäßig Opfer von rassistisch und antisemitisch motivierten Straftaten vertritt.
„Der Kläger möchte ein diskriminierungsfreies Studienumfeld. Und Ihre Argumentation ist ernsthaft, unser Mandat hätte ein Konzept vorlegen müssen, wie Sie es besser machen können?“, fragt sie. „Sie formulieren an Betroffene von Ausgrenzung, dass sie Ihnen sagen müssten, wie Sie konkrete Diskriminierungen verhindern können. Die Wertung, die Sie hier präsentieren, ist fatal.“
Verhandelt wird an diesem Tag eine Klage des jüdischen Studenten Lahav Shapira gegen die Freie Universität (FU) Berlin. Das Berliner Hochschulgesetz verpflichtet Universitäten, „Diskriminierungen insbesondere wegen des Geschlechts, der ethnischen Herkunft, einer rassistischen oder antisemitischen Zuschreibung, der Religion und Weltanschauung, einer Behinderung, einer chronischen Erkrankung, des Lebensalters, der Sprache, der sexuellen und geschlechtlichen Identität sowie der sozialen Herkunft und des sozialen Status zu verhindern und bestehende Diskriminierungen zu beseitigen“. Shapira beantragt die Feststellung, dass die Universität dieser Verpflichtung nicht nachgekommen sei.
Der 32-Jährige war im Februar 2024 von seinem Lehramts-Kommilitonen Mustafa E.-H. A., einem Deutschen mit palästinensischer Familiengeschichte, außerhalb der Universität angegriffen und schwer verletzt worden. Das Amtsgericht Berlin-Tiergarten verurteilte den Täter im April dieses Jahres wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren. Das Urteil ist bislang nicht rechtskräftig.
Vor dem Angriff hatte Shapira bei einer Hörsaal-Besetzung israelfeindlicher Gruppen an der FU Berlin Plakate entfernt, auf denen Israels Staatsgründung als Landraub bezeichnet worden war. „Der Kläger hatte sich israelsolidarisch positioniert“, sagt der Richter Lars Jenssen am Dienstag.
In einer WhatsApp-Gruppe von Lehramtsstudenten hatten Kommilitonen antisemitische Verschwörungsmythen über Shapira verbreitet. „Die regieren nicht nur die Welt, sondern sogar unsere Gruppe“, schrieb darin etwa ein User mit dem Nutzernamen Mohamed. Bei Demonstrationen auf dem Universitätsgelände wurde seit dem genozidalen Hamas-Massaker am 7. Oktober 2023 mehrfach zu Gewalt gegen Israelis aufgerufen. Shapira wurde in Israel geboren und lebt seit 2002 in Deutschland.
Als die Rechtsanwältin Pietrzyk am Dienstag die Gegenseite wie beschrieben scharf kritisiert, geht es gerade um die Zulässigkeit der Klage. Der Anwalt der Freien Universität hatte kurz zuvor vorgetragen, das Klagebegehren sei nicht konkret genug. „Selbst, wenn die beantragte Feststellung getroffen würde, wissen wir ja trotzdem noch nicht, was wir machen wollen“, sagt er. „Wenn an uns etwas herangetragen wird, das wir nicht getan haben, können wir uns nur damit auseinandersetzen, wenn gesagt wird, was wir hätten tun müssen.“ Was die Universität bereits getan habe, um antisemitische Vorfälle zu verhindern, will der Anwalt nicht vortragen. „Das ist in diesem Verfahren nicht streitentscheidend.“
Pietrzyk setzt erneut zu einer deutlichen Erwiderung an. „Ich hoffe, ich habe Sie falsch verstanden“, sagt sie. Wenn eine jüdische Studentengruppe in einem offenen Brief mitteile, ihre Mitglieder fühlten sich nicht mehr sicher, „dann sind Ihre Bemühungen schon gescheitert“. Der Gesetzgeber verpflichte die Hochschulen, präventiv und repressiv zu handeln, um Diskriminierungen zu verhindern. „Sie sitzen hier und sagen“, – in diesem Moment zeigt sie auf ihren Mandanten Lahav Shapira – „er hat als jüdischer Studierender nicht an Sie heranzutreten und etwas einzufordern“, sagt sie.
„Hetzjagden in sozialen Medien und auf dem Campus“
Dann meldet sich Shapira selbst zu Wort. Der schwere Angriff auf ihn basiere darauf, „dass bestimmte Veranstaltungen an der Uni zugelassen werden“, sagt er. „Es kam zu Hetzjagden, in sozialen Medien und auf dem Campus. Regelmäßig kommt es zu Gewaltaufrufen; Israelis und Juden werden zu Kolonisatoren und Rassisten erklärt. Ich habe mich eigentlich nur an der Uni eingeschrieben, um einem Studium nachzugehen.“ Von Mitarbeitern der FU sei ihm und anderen jüdischen Studenten angeboten worden, von zu Hause aus weiterzustudieren. „Wir müssen uns in Gruppen organisieren, damit wir in die Mensa gehen können, weil droht, dort angefeindet zu werden.“
Der Student, Bruder des Comedians Shahak Shapira, berichtet zudem über Gespräche mit der Hochschulleitung. Ihm und seinen Mitstreitern sei gesagt worden, sie sollten die Accounts israelfeindlicher Gruppen beobachten und Ankündigungen von Protestaktionen an die Universität melden – und sie sollten antisemitische Plakate und Schmierereien selbst entfernen. „Damit hat man uns angreifbar gemacht.“
Dies hatte Shapira bereits im Februar 2024 in einem WELT-Interview berichtet. „Die Hochschulleitung würde niemals bewusst Maßnahmen ergreifen oder anregen, die Studierende persönlich in Gefahr bringen“, teilte die FU nach der Veröffentlichung mit. Im Gespräch mit WELT stützten daraufhin drei weitere jüdische Studenten die Aussage von Shapira.
Für Dienstagnachmittag hat die Hochschulgruppe „Waffen der Kritik“ aus dem Spektrum der antiimperialistischen radikalen Linken – der Gruppenname bezieht sich auf ein Zitat von Karl Marx – zu einer Diskussionsveranstaltung unter dem Titel „Wie wir die Intifada globalisieren“ eingeladen. Die Veranstaltung war in einem von Studenten selbstverwalteten Raum innerhalb der Universität angekündigt worden. Intifada ist das arabische Wort für Volksaufstand. Während der sogenannten Zweiten Intifada zwischen 2000 und 2005 verübten palästinensische Terroristen mehr als 130 Selbstmordanschläge. Mehr als 1000 Israelis wurden dabei ermordet.
„Jüdinnen und Juden müssen die heutige Veranstaltung als Bedrohung ihrer körperlichen Unversehrtheit auffassen“, sagt Shapiras Anwältin Kristin Pietrzyk. „Das ist die Aufforderung, dass sich Juden niemals und nirgendwo sicher fühlen sollen.“ Einer der Anwälte der FU sagt, er sitze wöchentlich in Amtsgerichtsverfahren zu Strafanzeigen der Universität gegen Hörsaalbesetzer. „Aus dem Stegreif werden wir zur Veranstaltung heute nichts sagen.“
Lasse Schauder, Bundesvorsitzender des Jungen Forums der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, sagt WELT, es sei „sinnbildlich für das Versagen der FU im Umgang mit jüdischer Sicherheit“, dass während des Prozesses gegen die Universität diese „gewaltverherrlichende Veranstaltung“ stattfinde.
Das Gericht verkündet am Nachmittag, die Verhandlung zu vertagen. Da der Kläger vorgetragen habe, sich in seinen Grundrechten verletzt zu sehen, will die Kammer die Beteiligten dazu erneut anhören. Ein Urteil könnte im Oktober fallen.
„Antisemitismus an und um Hochschulen ist ein Problem in allen deutschen Universitätsstädten“, sagt Benjamin Steinitz, Geschäftsführer des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias).
Shapira sagt nach dem Verhandlungstag, er wäre froh, „wenn wir als jüdische Studierende nicht weiter auf uns allein gestellt werden“. Die Leitung der FU schaue immer noch weg. „Ich gehe nur noch mit einem Security in die Uni.“
Politikredakteur Frederik Schindler berichtet für WELT über die AfD, Islamismus, Antisemitismus und Justiz-Themen. Im September erscheint im Herder-Verlag sein Buch über den AfD-Politiker Björn Höcke. Zweiwöchentlich erscheint seine Kolumne „Gegenrede“.
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