Das Überleben der Geiseln ist wichtiger als das politische Überleben von Netanjahu
Haben Sie schon mal von Rom Braslavski gehört? Der heute 21-Jährige war am 7. Oktober 2023 Security auf dem Psytrance-Festival „Supernova“ in Israel, fünf Kilometer von der Sperranlage um den Gaza-Streifen entfernt. Als die Terroristen der Hamas den Rave überfielen, dort vergewaltigten, mordeten und entführten, half Rom Braslavski mehreren Feiernden bei der Flucht. Dann wurde er selbst nach Gaza verschleppt.
Eineinhalb Jahre wussten seine Freunde und Verwandte nicht, ob er noch lebt. Eineinhalb Jahre voller Ungewissheit, Angst und Verzweiflung. Erst im April dieses Jahres gab es ein erstes Lebenszeichen. Die Terrorgruppe Palästinensischer Islamischer Dschihad veröffentlichte ein knapp siebenminütiges Video, das den jungen Mann in Gefangenschaft zeigt. „Holt mich hier raus“, sagt er. Sein Oberkörper ist von Schürfwunden geprägt, offensichtlich leidet er an starkem Juckreiz.
Seine Familie erfuhr nicht etwa von der israelischen Regierung von dem Lebenszeichen, sondern aus sozialen Medien. Eine „Schande für den Staat Israel“, nannte die Mutter der Geisel das. „Rom, mein lieber kleiner Bruder, wir haben dich nicht wiedererkannt“, schrieb sein Bruder Amit nach der Veröffentlichung. „Du siehst aus, als wärst du um Jahre gealtert, aber wir können immer noch deine Güte und den Rom erkennen, den wir so sehr vermisst haben.“ Für die Familie endete der 7. Oktober bis heute nicht. Rom Braslavski befindet sich noch immer in Gaza.
Braslavski ist deutscher Staatsbürger – so wie sechs andere Geiseln, die sich noch immer in der Gewalt palästinensischer Terrorgruppen befinden. Die Namen dieser deutschen Geiseln wurden noch nie im Plenum des Deutschen Bundestags ausgesprochen, von keiner Partei. Es sind Tamir Nimrodi (20), Alon Ohel (24), Tay Chen (20), Tamir Adar (38) sowie die Zwillingsbrüder Gali und Ziv Berman (27). Tamir Adar wurde von der Hamas ermordet, seinen Leichnam geben die Terroristen nicht frei. In Deutschland ist kaum bekannt, dass viele der Entführten nicht nur israelische, sondern auch deutsche Staatsbürger sind.
Im Zusammenhang mit der „Wiedergutmachung“ für die Opfer des Nationalsozialismus können Nachkommen von NS-Verfolgten, die von den Deutschen ausgebürgert worden waren, die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten. Die meisten der vielen deutschen Staatsbürger unter den Geiseln sind also Nachfahren von deutschen Juden, die während der Zeit des Nationalsozialismus aus Hitler-Deutschland fliehen mussten.
Wie kann es sein, dass dieser Umstand in Deutschland so wenig bekannt ist? Warum müssen die Angehörigen dieser Geiseln deutsche Politiker immer wieder so eindringlich bitten, sich ihres Schicksals anzunehmen?
Über fünf Monate nach der jüngsten Freilassung von Geiseln gibt es nun endlich wieder einen neuen Hoffnungsschimmer. In der Nacht auf Donnerstag wurde bekannt, dass die Hamas der Freilassung von zehn Geiseln zustimmt. Vorgesehen ist eine Unterbrechung der Kampfhandlungen für zunächst 60 Tage. Israel hat damit erneut kein Abkommen erreicht, das die Freilassung jeder einzelnen Geisel beinhaltet. Schließlich befinden sich noch 50 Verschleppte in Gaza, von denen 20 noch leben sollen.
Wieder wird es eine grausame Trennung geben. Nach 642 Tagen Gefangenschaft, Hunger, Gewalt und Folter ist jeder Fall ein humanitärer Fall. Eine Trennung zwischen Jungen und Alten, Männern und Frauen, Soldaten und Zivilisten ist nach einer derart langen Zeit nicht mehr nachvollziehbar. Dass es erneut zu dieser Auswahl kommen wird, ist eine Tragödie.
Selbstverständlich liegt das Haupthindernis bei der Hamas. Für Israel ist ein kompletter und dauerhafter Waffenstillstand schwer hinnehmbar, wenn die Hamas nicht besiegt wurde – schließlich verfolgen die Terroristen weiterhin das Ziel, so viele Israelis wie möglich zu ermorden, und würden jede sich ihnen bietende Gelegenheit nutzen, damit wieder anzufangen.
Die Hamas macht außerdem die Freilassung Hunderter palästinensischer Gefangener zur Bedingung, unter denen sich häufig verurteilte Terroristen und Mörder befinden. Und sie hält absichtlich Informationen über die verbliebenen Geiseln zurück und verzögert die Verhandlungen immer wieder, um Zeit zu gewinnen. Klar ist: Der Krieg könnte sofort enden, wenn die Terroristen sich ergeben und die Geiseln freilassen.
Netanjahus Sorgen für den Fall, dass der Krieg endet
Nicht unbeachtet bleiben darf allerdings auch, dass in Israel seit Monaten Zehntausende Demonstranten auf die Straße gehen, die dem Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu vorwerfen, die Rettung der Geiseln militärischen Maximalzielen und seinem persönlichen Machterhalt unterzuordnen. Dafür spricht einiges. Netanjahu weiß, dass seine rechtsextremen Koalitionspartner keine Einigung akzeptieren würden, die den Krieg beenden würde. Sie fordern offen eine Besetzung und Wiederbesiedlung des Gaza-Streifens.
Dann könnte auch die politische Verantwortung für das Versagen, Israels Bürger zu schützen, sichtbar werden. Auch unter konservativen Politikern und Militärs gibt es Stimmen, die sagen: Netanjahu fürchtet das Ende des Kriegs, weil ihm dann seine Macht entgleiten könnte.
Rom Braslavski, der junge Mann vom „Supernova“-Festival, hat nicht zuerst an sich gedacht. Er rettete zwei junge Frauen aus der Gefahrenzone. Sich selbst konnte er nicht mehr retten.
Wer ihn und die übrigen Geiseln befreien will, darf ihre Leben nicht länger den eigenen politischen Interessen unterordnen. Netanjahu sollte den Mut aufbringen, den Stimmen der Familien Gehör zu schenken, statt sie zu ignorieren. Ihre Forderung ist eindeutig: Rettet die Geiseln – alle, jetzt. Ohne weitere Auswahllogik, ohne taktisches Kalkül.
Die Zeit läuft ab. Das Überleben der Geiseln ist wichtiger als das politische Überleben von Netanjahu.
Politikredakteur Frederik Schindler berichtet für WELT über die AfD, Islamismus, Antisemitismus und Justiz-Themen. Im September erscheint im Herder-Verlag sein Buch über den AfD-Politiker Björn Höcke. Zweiwöchentlich erscheint seine Kolumne „Gegenrede“.
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