Die Bundesregierung hat den Anfang gemacht, nun zieht Polen mit Grenzkontrollen nach. Ob damit gleich der Schengen-Raum in Gefahr ist, erklärt EU-Experte Raphael Bossong.

Polen hat als Reaktion auf deutsche Grenzkontrollen sie nun auch wieder eingeführt. Droht der EU ein Domino-Effekt, der den Schengen-Raum bedroht?

Raphael Bossong: Da ist eine Vorhersage schwierig. Bei einem Domino-Effekt weiß man ja – anders als von der deutschen Regierung herbeigesehnt – nicht, wohin die Steine fallen. Es kann schon sein, dass es einen Nachahmungseffekt gibt und ein oder zwei weitere EU-Staaten Grenzkontrollen einführen. Aber den gewünschten Effekt der Bundesregierung, dass die EU-Staaten sich auf eine weitere Verschärfung der Zuständigkeitsregeln für Asylanträge einigen, den sehe ich nicht.

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Sorge bereiten mir andere Dinge: Zum einen die Berufung auf Artikel 72 im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), durch die eine "nationale Notlage" erklärt wird, um die europäischen Regeln zu Asyl- und Migrationsfragen nicht mehr anzuwenden zu müssen. Das kann Nachahmer finden. Und zum anderen das dröhnende Schweigen dazu seitens der EU-Kommission. Wenn jeder EU-Staat machen kann, was er will und keine Konsequenzen drohen, dann gerät der Schengen-Raum in Gefahr – spätestens bei der nächsten Krise.

Rächt sich nun das Dublin-III-Abkommen, durch das Staaten mit einer EU-Außengrenze stärker von Asylverfahren betroffen sind?

Das ist eines der Strukturprobleme der EU-Migrationspolitik. Die aktuelle Regelung verleitet Staaten dazu, mögliche Asylbewerber nicht zu registrieren, damit sie weiterziehen und in anderen Ländern ihren Erstantrag stellen.

© Stiftung Wissenschaft und Politik / PR

Zur Person

Dr. Raphael Bossong ist Stellvertretender Forschungsgruppenleiter der "Stiftung Wissenschaft und Politik" in Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die EU sowie Migrations- und Asylpolitik.

Die Reform, die kommendes Jahr in Kraft treten soll, ist zwar keine Lösung, verstärkt aber immerhin wieder die Solidarität zwischen den EU-Staaten in Sachen Migration. Zumindest ist es ein Einstieg in ein geregeltes Verfahren. Aber rechtspopulistische Regierungen wie in Italien bleiben ein Problem. Das Land nimmt seit einem Jahr überhaupt keine Asylbewerber zurück. Dieses Kämpfen mit harten Bandagen von rechtspopulistischen Regierungen für die eigenen Interessen erschwert die Diskussion über Migration – vor allem, wenn in der Bevölkerung der Eindruck entsteht, dass das funktioniert.

Wie sehen Sie das Beispiel USA und deren Einsatz gegen illegale Migration?

Präsident Donald Trump setzt ICE (United States Immigration and Customs Enforcement, eine Art Eingreiftruppe des Ministeriums für Homeland Security, Anm. d. Red.) ja nicht nur gegen Illegale ein. Aber der Umgang mit Migration zeigt auch die Verfassung einer Gesellschaft. Dieses "Härte zeigen" schadet dem Grundkonsens einer Gesellschaft und macht ihn letztendlich kaputt. Ich sehe auch in Deutschland das Risiko, dass gesellschaftliche Grundsätze und die Gewaltenteilung infrage gestellt werden.

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9. Guinea Eine kleinere Anzahl von Asylbewerbern aus Guinea und der Elfenbeinküste (Côte d'Ivoire) sucht meist in Frankreich Zuflucht.
Zwischen Neujahr und Ende Mai 2024 haben 1623 Menschen aus Guinea in Deutschland einen Asylantrag gestellt. © Pacific Press Agency / Imago Images
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Wie könnte eine gemeinsame europäische Lösung aussehen?

Wir brauchen jedenfalls geregelte Verfahren an den Außengrenzen oder auch in Drittstaaten. Aktuell nehmen die Asylbewerberzahlen ab, aber das ist eher eine Fügung in der erweiterten europäischen Nachbarschaft und keine Folge von Binnengrenzkontrollen. Wir wissen nicht, was die Reduktion der US-Entwicklungshilfe in Krisenregionen auslöst und wie die Lage in der Ukraine sich entwickelt. Bis zur nächsten Krise sollten wir in Europa die Migrationsdebatte weniger polarisiert führen und eine gemeinsame Basis gefunden haben für den Ausbau der legalen Migration. Vertrauen, Solidarität und Rechtstreue der EU-Staaten müssen wieder in den Vordergrund rücken.

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Sind die Grenzkontrollen eher hilfreich oder eher hinderlich auf dem Weg zu so einer einvernehmlichen Lösung?

Deutschland und Polen sind ja eher innenpolitisch getrieben bei der Einführung von Grenzkontrollen. Da ist es schwierig, einen gemeinsamen, kooperativen Geist der EU zu wecken. Die Frage, die die Bundesregierung nun beantworten müsste, lautet: Wie kommen wir da wieder raus? Momentan argumentiert Bundeskanzler Merz ja eher damit, dass die Grenzkontrollen nötig sind, bis die EU die Migration irgendwann geregelt hat. Aus dieser rhetorischen Sackgasse müssen wir raus. Dafür halte ich die Grenzkontrollen eher für hinderlich.

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