Es ist einer der Tage in der deutschen Militärgeschichte, an dem klar wurde, dass es so nicht weitergehen kann: Am 14. Oktober 1806 erlitt das Königreich Preußen in zwei parallelen Schlachten – bei Jena und bei Auerstedt – eine vernichtende Niederlage gegen die Truppen Napoleons. Die Doppelschlacht markierte nicht nur das Ende der preußischen Vormachtstellung in Mitteleuropa: Sie leitete auch eine Phase grundlegender Reformen ein, offenbarten die Niederlagen doch die Rückständigkeit des preußischen Militärs und Staates – sowohl organisatorisch als auch gesellschaftlich.

Auch fast Jahre später ist dieser „Jena-Auerstedt-Moment“ noch in der Führung des Militärs, heute in Form der Bundeswehr, allgegenwärtig, wie sich bei einer Tagung an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg zeigte. So ein Moment soll sich nicht wiederholen – und angesichts wachsender geopolitischer Spannungen und hybrider Bedrohungen warnte der Generalinspekteur der Bundeswehr, Carsten Breuer, bei seinem Besuch eindringlich vor einer trügerischen Sicherheit. Deutschland stehe im Zentrum europäischer Verteidigungsanstrengungen – als logistische Drehscheibe für Nato-Partner, als Unterstützer der Ukraine und zunehmend auch als potenzielles Ziel feindlicher Aktivitäten.

„Unsere Gegner denken nicht mehr in den klassischen Kategorien von Frieden, Krise und Krieg. Sie sehen Krieg als Kontinuum“, sagte Breuer. Hybride Angriffe – etwa durch Spionage, Desinformation oder Sabotage – zielten auf die Schnittstellen zwischen innerer und äußerer Sicherheit. Die Digitalisierung und die Offenheit demokratischer Gesellschaften hätten diesen Methoden eine neue Wirksamkeit verliehen. „Der Werkzeugkasten hybrider Kriegsführung ist heute deutlich effektiver als früher.“

Die Antwort auf diese Bedrohung könne nur eine umfassende Gesamtverteidigung sein – ressortübergreifend, gesamtstaatlich und gesamtgesellschaftlich. Deutschland habe hier erheblichen Nachholbedarf, wie auch internationale Vergleiche zeigten, etwa mit Blick auf die nordeuropäischen Staaten. Breuer forderte eine engere Verzahnung ziviler und militärischer Akteure – nicht erst im Krisenfall, sondern bereits im Alltag: „Kooperation beginnt mit einem gemeinsamen Lagebild.“

„Hoffnung ist kein Führungsprinzip“

Diese Forderung ist auch ein Ergebnis der Arbeit im Lehrgang „Generalstabs-/Admiralstabsdienst National 2023“ der Führungsakademie, der nach einer zweijährigen Ausarbeitung ein umfassendes Konzept zur Stärkung der deutschen Gesamtverteidigung vorgelegt hat. Im Zentrum steht der Vorschlag zur Einrichtung eines „Ständigen Stabs für Nationale Resilienz, Sicherheit und Verteidigung“ im Bundeskanzleramt. Dieser soll als zivil-militärisches Koordinierungselement fungieren – in Frieden, Krise und Krieg.

Ein weiteres zentrales Element ist das Projekt „Territorial Hub“: eine technologische Plattform zur Schaffung eines gesamtstaatlichen Lagebilds. Informationen aus Bund, Ländern und Streitkräften sollen in Echtzeit zusammengeführt werden, um eine effektive Lagebeurteilung und Operationsführung zu ermöglichen.

Auch die Übungskultur soll reformiert werden. Das Konzept „Übungsmosaik Deutschland“ sieht eine flächendeckende, skalierbare Systematik vor – vom Landkreis bis zur Großübung. Ergänzt werden soll dies durch ein zentrales Ausbildungszentrum für Gesamtverteidigung und Krisenreaktion. Auch die strategische Kommunikation müsse entscheidend gestärkt werden. Eine ressortübergreifende Strategie solle die Bevölkerung sensibilisieren und Desinformation entgegenwirken. Außerdem solle die Reserve flexibler werden und mithilfe von künstlicher Intelligenz besser auf verschiedene Situationen reagieren können.

Breuer lobte die Initiative der Lehrgangsteilnehmer und betonte die Notwendigkeit, entsprechende Schritte einzuleiten – und zwar schnell. Mit Blick auf die sicherheitspolitische Lage warnte der Generalinspekteur vor einem möglichen „Kulminationspunkt“ im Jahr 2029. Verschiedene Faktoren könnten dazu führen, dass ein groß angelegter Krieg im Nato-Gebiet möglich werde. „Wir hoffen, dass es nicht passiert – aber Hoffnung ist kein Führungsprinzip.“

Zur Frage der Wehrpflicht sagte Breuer: Ein neuer Wehrdienst sei nötig, um die angestrebte Personalstärke von 360.000 Soldaten zu erreichen. Denn: „Nach unseren bisherigen Erkenntnissen wird es nicht möglich sein, den Personalbedarf allein über den bestehenden Arbeitsmarkt zu decken. Deshalb benötigen wir in irgendeiner Form einen neuen Wehrdienst.“ Dieser würde die notwendige Aufruffähigkeit sicherstellen.

Gleichzeitig betonte er die gewachsene gesellschaftliche Verankerung der Bundeswehr. „Unsere Soldatinnen und Soldaten sind mitten in der Gesellschaft – das hat sich in den letzten Jahren immer wieder gezeigt.“ Deswegen würde er den umstrittenen Begriff der „Kriegstüchtigkeit“ auch nur auf den Bereich der Bundeswehr beziehen, ansonsten gehe es um die Wehrhaftigkeit der Bevölkerung, und die beginne schon mit dem Anlegen von Wasservorräten.

Zur nuklearen Abschreckung, etwa durch den aktuell diskutierten Schutzschirm, äußerte sich der Generalinspekteur zurückhaltend. Diese Abschreckung lebe von ihrer strategischen Ambivalenz. „Je mehr wir darüber sprechen, desto mehr Einblick gewähren wir potenziellen Gegnern – und das wäre gefährlich.“

Trotz aller Herausforderungen zeigte sich Breuer optimistisch: Die Bundeswehr sei bereits heute verteidigungsbereit, mit der Nato sei auch jetzt ein „tonight fight“ möglich. Mit den Investitionen aus dem „Sondervermögen“ und einer Verstetigung der Verteidigungsausgaben werde sich diese Fähigkeit weiter verbessern. „Wenn wir heute angegriffen würden, könnten wir uns verteidigen – und wir würden es auch tun.“

Jörn Lauterbach ist Redaktionsleiter Hamburg und Nordrhein-Westfalen.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke