Als Kind trug er ein Pazifisten-Halstuch. Im stern schreibt der SPD-Politiker Hubertus Heil, warum er heute anders tickt – und das "Manifest" falsch ist. Ein Gastbeitrag.

Ich bin im Frieden geboren. 1972, in einer Zeit, in der Bundeskanzler Willy Brandt leidenschaftlich für seine Ostpolitik kämpfte. Meine Mutter, Jahrgang 1937, hat als Kind dagegen im Krieg Schreckliches erlebt: Einer ihrer Brüder fiel noch in den allerletzten Tagen vor Kriegsende, als sechzehnjähriger Soldat in einem sinnlosen Abwehrkampf. Sie selbst erlebte den Einmarsch der Roten Armee in Pommern, wurde Vollwaise, und verlor die Heimat ihrer Kindheit. 

Auch deshalb wurde meine Mutter eine überzeugte Anhängerin der Ostpolitik. Sie war Tochter einer preußischen Offiziersfamilie und wurde durch ihre eigenen Kriegserfahrungen zur Antimilitaristin. Als 1983 auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag in Hannover leidenschaftlich über den Nato-Doppelbeschluss und die Nachrüstung gestritten wurde, trug sie wie selbstverständlich das lila Halstuch mit der Aufschrift „Für ein Nein ohne jedes Ja zu Massenvernichtungswaffen“. Und als ihr 10-jähriger Sohn hatte ich auch eins. Es waren diese familiären Prägungen, die mich als jungen Mann dazu brachten, den Dienst an der Waffe zu verweigern und Zivildienst zu leisten. 

Dem Abschlachten von Menschen nicht tatenlos zusehen

Wir erlebten 1989/90 das friedliche Ende des Kalten Krieges und die deutsche Einheit. Der US-amerikanische Historiker Francis Fukuyama träumte gar leichtfertig vom Ende der Geschichte. Doch schon die Balkankriege der 90er Jahre widerlegten diese These und änderten auch meinen persönlichen Blick auf die Dinge. War es nicht notwendig, im Zweifelsfall militärisch zu intervenieren, anstatt dem Abschlachten von Menschen wie in Srebrenica tatenlos zuzuschauen?

Eine Entscheidung wie aus der griechischen Tragödie

Als ich 1998 als junger SPD-Bundestagsabgeordneter in den Bundestag einzog, musste ich ziemlich bald darüber mit abstimmen, ob sich die Bundeswehr im Kosovokrieg das erste Mal in ihrer Geschichte an einem militärischen Kampfeinsatz beteiligt. Auf dem SPD-Parteitag zu dieser Frage flogen zwar keine Farbbeutel wie bei den Grünen gegen Joschka Fischer, aber es gab heftige Diskussionen. 

Ein Friedenspolitiker der SPD warb für den Kosovo-Einsatz

Ausgerechnet der von vielen als moralische Instanz der Friedensbewegung wahrgenommene Erhard Eppler warb mit aller Kraft für den Einsatz. Seine Argumente waren für mich überzeugend. Er erklärte plausibel, dass es manchmal in der Politik Entscheidungssituationen gibt, die an griechische Tragödien erinnern: Egal wie man sich entscheidet, man lädt immer moralische Schuld auf sich.

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick

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Entscheidend sei, womit man mehr Schuld auf sich lade: Wenn man militärisch interveniere und damit auch zivile Opfer und das Leben von Soldaten riskiere oder weiter tatenlos zuschaue, dass Menschen in noch größerer Zahl als Opfer eines mörderischen Imperialismus sterben. Wir sind also nicht nur dafür verantwortlich was wir tun, sondern auch dafür, was wir unterlassen. Ich habe dem Einsatz damals zugestimmt. 

Meinung zum "Manifest" Wir müssen aufrüsten – aber Streit darüber muss erlaubt sein

Meine Mutter starb 2014. In diesem Jahr annektierte Putin die Krim und meine Tochter wurde geboren. Heute, in diesen unsicheren und unfriedlichen Zeiten frage ich mich als Vater zweier Kinder und sozialdemokratischer Außenpolitiker: In welche Welt wachsen unsere Kinder hinein? Was ist heute die richtige deutsche Außen- und Sicherheitspolitik? Wie sorgen wir tatsächlich für dauerhaften Frieden und wie sichern wir unsere Freiheit?

Dieser CDU-Minister hat den richtigen Ton

Die Antworten auf diese großen Fragen in dieser unübersichtlichen Welt fallen nicht leicht. Dass unsere Gesellschaft und auch die Volkspartei SPD leidenschaftlich debattieren, ist richtig. Aber solche Debatten müssen letztendlich auch geklärt und entschieden werden. Ich kenne und schätze viele persönlich, die das sogenannte Manifest in der SPD unterzeichnet haben, und ich finde es falsch, ihnen unlautere Motive zu unterstellen. Ich will gleichwohl ihrer Position deutlich widersprechen. 

Als eine verantwortungsvolle Regierungspartei darf die SPD nicht falsch abbiegen. Sie wird mit Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius den sicherheitspolitischen Kurs fortsetzen, den Olaf Scholz 2022 mit der Zeitenwende-Rede eingeschlagen hat. Ich finde zudem, dass auch der CDU-Außenminister Johann Wadephul in den ersten Wochen seiner Amtszeit den richtigen Ton angeschlagen hat. Die SPD sollte sich nicht zu schade sein, ihn vor der maßlosen Kritik mancher Medien und von Teilen der CDU/CSU in Schutz zu nehmen.

Eine Zeitenwende in zwei Schritten

Zu den außenpolitischen Realitäten, denen wir uns stellen müssen, gehört die doppelte Zeitenwende. Der erste Teil der Zeitenwende ist und bleibt Wladimir Putins Angriffskrieg auf die Ukraine. Zuvor galt eine Friedensordnung, die maßgeblich von den sozialdemokratischen Bundeskanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt geprägt wurde. Sie bedeutete, dass Staatsgrenzen in Europa nicht mittels militärischer Gewalt verschoben werden dürfen. Diese europäische Friedensordnung hat Putin zerstört, darüber dürfen wir uns keine Illusionen machen. 

Zum zweiten Teil der Zeitenwende gehört die zweite Amtszeit von Donald Trump. Als europäische Demokratien erleben wir, dass wir uns auf unseren wichtigsten Verbündeten außerhalb Europas nicht mehr verlassen können, wenn es um unsere Sicherheit und Freiheit geht. Deshalb müssen wir massiv mehr in unsere eigenen militärischen Fähigkeiten investieren. Gleichzeitig müssen wir weiterhin die Ukraine in ihrer Selbstverteidigung unterstützen. 

Die Zeitenwende ist keine Absage an Diplomatie

Die doppelte Zeitenwende heißt aber nicht das Ende jeder Diplomatie – im Gegenteil. So ist es etwa zwingend notwendig, im Falle eines Waffenstillstands (der kein Diktatfrieden Putins sein darf) auch die USA für Sicherheitsgarantien für die Ukraine an Bord zu holen. Die Antwort auf die doppelte Zeitenwende ist auch nicht das pure Denken in militärischen Kategorien oder das Ende der Besonnenheit, die streng darauf achtet, dass aus diesem Krieg keine unverantwortliche Konfrontation zwischen Russland und der Nato wird. Diesen Behauptungen von AfD und BSW muss die SPD mit Taten und Worten entgegentreten. 

Kein "Wandel durch Anbiederung"

Es ist mehr als ärgerlich, wenn Wagenknecht und Co. ein verfälschtes Bild der Ostpolitik von Willy Brandt zeichnen. „Wandel durch Annäherung“ war in den 1960er und 1970er Jahren eben nicht „Wandel durch Anbiederung“. Es war eine kluge Politik, die im Kalten Krieg Interessenausgleich zur Friedenssicherung in Europa suchte, ohne die eigenen demokratischen Werte zu verraten. Die Bundeskanzler Willy Brandt und Helmut Schmidt waren keine Militaristen, aber eben auch keine naiven Pazifisten, die die Sicherheitsinteressen unseres Landes vernachlässigt haben. Es waren diese SPD-Bundeskanzler, die in Zeiten der Ostpolitik massiv in die Fähigkeiten der Bundeswehr investiert haben. Ostpolitik hieß nicht, sich von Realitäten weg zu träumen. Im Gegenteil: Ostpolitik bedeutete vielmehr, Realitäten erst einmal anzuerkennen, sich aber nicht mit den Verhältnissen abzufinden. 

Der Nato-Doppelbeschluss war richtig

Wenn die Zeiten sich ändern, muss verantwortliche Politik auch heute in der Lage sein, sich selbst zu verändern. Aus Verantwortung vor unserer deutschen Geschichte und der Geschichte meiner eigenen Familie werde ich niemals Militarist werden. Heute sehe ich natürlich manches anders als der 10-jährige Hubertus Heil mit dem lila Halstuch: Helmut Schmidt hatte mit dem Nato-Doppelbeschluss recht! Und ich würde auch heute den Wehrdienst wahrscheinlich nicht mehr verweigern. Gleichzeitig möchte ich auch heute nicht so reden wie einige, die früher absolute Pazifisten waren und sich nun wie zackige Talkshowgeneräle äußern. 

1979 trat Helmut Schmidt auf dem Kirchentag in Nürnberg auf – Hubertus Heil hörte als Kind zu © privat

Ich bin mir heute sicher: Eine deutlich stärkere Bundeswehr für die Landes- und Bündnisverteidigung als Teil einer plausiblen Abschreckung ist notwendig, um unseren Frieden und unsere Freiheit zu sichern. Ja, man muss auch mit schwierigen Regimen in dieser Welt reden, aber man darf dem aggressiven Imperialismus Putins nicht naiv begegnen. Der Wunsch nach Frieden allein schafft noch keinen. Frieden verlangt heute viel mehr harte Arbeit, Besonnenheit und mutige Entscheidungen.

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