„Polen holen ihre Staatsbürger ab. Und wir kriegen einen PDF-Anhang“
Ramla in Israel am Dienstagmittag. Susanne L. sitzt auf gepackten Koffern, das Handy in der Hand. „Wenn die Sirene jetzt losgehen würde, hätten wir noch 15 Sekunden“, sagt sie am Telefon. Dann müssen sie und ihre Cousine in den Schutzraum – ein fensterloser Betonwürfel mit Metalltür. „Draußen hört man die Explosionen. Das ist nicht schön.“
Seit dem 10. Juni ist die deutsche Touristin in Israel, zu Besuch bei ihrer Familie. Ihren vollständigen Namen will sie aus Sicherheitsgründen nicht veröffentlichen. Gleich am ersten Tag gab es Alarm im Zug. „Alle gingen runter in den Gang, Kopf einziehen, ducken.“ Die Raketen stammten von den Huthi-Rebellen im Jemen.
Zwei Tage später begann der Krieg zwischen Israel und Iran. Am Freitag schlugen erstmals Raketen in der Nähe ihrer Wohnung ein. Am Dienstag bereitet sich Susanne L. auf die Ausreise vor: Ein Rückholflug des Auswärtigen Amts soll sie über Jordanien nach Frankfurt bringen.
„Ich habe einen Platz im Flug. Der geht Mittwoch um 16 Uhr ab Amman. Aber zur Grenze muss ich irgendwie allein“, sagt sie. Ein vom deutschen Staat organisierter Transport zum Flughafen? Fehlanzeige. „Ich hätte mir gewünscht, dass man uns nicht so allein lässt – mit der Frage: Welcher Grenzübergang ist der richtige? Wo gelten Visa? Wie kommt man überhaupt dahin?“
Ihre Cousine wird sie fahren. Danach: 120 Kilometer per Taxi durch Jordanien – allein.
Tel Aviv zur selben Zeit: Elieser Zavadsky bleibt. Zusammen mit seiner Lebensgefährtin Ines Chavah Stenger habe er den Geburtstag seiner Mutter in Tel Aviv gefeiert, erzählt der jüdische Deutsche WELT. Am Freitagabend sei eine iranische Rakete in der Straße des Hotels des 60-Jährigen eingeschlagen: „Keine Hundert Meter entfernt. Die Fenster sind zersplittert. Wir haben im Bunker gewartet, zwei Etagen unter der Erde.“ Seitdem habe er das Hotel nicht mehr verlassen. „Für Juden ist es zu gefährlich, durch Jordanien zu reisen. Das Auswärtige Amt sagt: Gehen Sie auf eigene Verantwortung. Kein Schutz, kein Konvoi. Gar nichts.“
Der deutsche Staat organisiert also Flüge für seine Staatsbürger. Aber ob und wie sie es zum Flughafen in Jordanien schaffen: Das liegt in ihrer eigenen Verantwortung.
Als Susanne L. am Dienstagmorgen die E-Mail vom Auswärtigen Amt öffnet, zögert sie nur kurz. Der Link zum Rückholflug ist freigeschaltet, die Plätze sind begrenzt. „Ich habe sofort gebucht“, erzählt sie. Innerhalb weniger Minuten ist ihre Reservierung bestätigt – per Auto zur Grenze, per Taxi zum Flughafen, per Flugzeug nach Deutschland. Soweit der Plan.
Aber der schwierigste Teil beginnt vorher. „Ich habe stundenlang recherchiert: Welcher Übergang ist offen? Wo gelten Visa? Wo drohen stundenlange Kontrollen?“ Von offizieller Seite kommt dazu kaum etwas. „Ich musste mir alles selbst zusammensuchen. Meine Cousine hat auf Hebräisch telefoniert, ohne sie wäre das gar nicht möglich gewesen.“
Dass es keine gemeinsame Koordination für in Israel gestrandete Deutsche gibt, versteht sie nicht. „Man hätte uns wenigstens zusammenbringen können – per Mail, per Gruppe, irgendwas. Es reisen doch mindestens Hundert Leute zur gleichen Zeit an denselben Ort.“
Die Fahrt zum Grenzübergang empfindet sie als das größte Risiko. „Im Schutzraum weiß man, was zu tun ist. Aber auf offener Straße – was passiert, wenn dort Alarm ausgelöst wird?“ Auch die Weiterfahrt durch Jordanien sei nicht planbar. Es gibt keine Informationen, keine Begleitung, keine Garantie. „Ich muss darauf hoffen, dass da ein Taxi steht. Und dass es bezahlbar ist.“
Dass ausgerechnet der gefährlichste Teil der Flucht dem Zufall überlassen bleibt, mache sie wütend: „Ich bin nicht naiv. Ich weiß, dass es gerade schwer ist. Aber man hätte uns besser vorbereiten müssen.“
„Man überlässt uns einer Gefahr, die man nicht einmal benennt“
Zavadsky sagt, er habe kein Verständnis für die mangelhafte Planung. „Ich habe der Botschaft mehrfach geschrieben, ich habe angerufen, ich habe die Daten auf dem Online-Portal Elefand hochgeladen.“ Elefand ist das „Elektronische Erfassungssystem für Auslandsdeutsche“ des Auswärtigen Amts, in dem sich Deutsche registrieren können, damit sie im Krisenfall im Ausland kontaktiert und unterstützt werden können. Als Antwort sei eine automatische Antwort per E-Mail gekommen, erzählt Zavadsky. „Sie schreiben, wir sollen uns den Weg nach Amman selbst organisieren – egal, wie gefährlich das ist.“
Mit seiner Lebensgefährtin Ines Chavah Stenger, 63, hätte Zavadsky eigentlich schon am Sonntag zurück nach Berlin fliegen sollen. Gemeinsam harren sie nun im Hotel aus – zwischen ihrem Zimmer und dem Bunker. Der Grund ihrer Reise nach Israel sei ein Fest gewesen: „Meine Mutter hat am 1. Juni ihren 92. Geburtstag gefeiert“, erzählt er. Eine Jüdin, geboren in Polen, Überlebende des Holocaust. „Wir wollten mit ihr feiern – jetzt müssen wir zusehen, wie wir heil hier rauskommen.“
In seinem Hotel in Tel Aviv sei er nicht der einzige Bürger der Bundesrepublik. „Wir sind fast 20 Deutsche hier. Die meisten von uns sind Juden. Viele älter, manche allein. Niemand würde allein durch Jordanien fahren“, kritisiert er. „Wissen Sie, was das heißt? Man überlässt uns einer Gefahr, die man nicht einmal benennt.“
Andere Länder machen das aus Zavadskys Sicht besser: „Die griechische Botschaft hat ihre Leute per Bus an die ägyptische Grenze gebracht. Die Polen holen ihre Staatsbürger ab. Und wir? Wir kriegen einen PDF-Anhang.“ Sein Fazit fällt bitter aus: „Ich frage mich, ob wir einfach nicht wichtig genug sind. Als wäre unser Pass weniger wert.“
Dass es andere Möglichkeiten gegeben hätte, davon zeigt er sich überzeugt. Zavadsky spricht von Schiffen nach Zypern, von Konvois, von diplomatischer Koordination. „Man hätte einen Hafen wie Ashdod nutzen können. Man hätte Busse stellen können. Man hätte.“
Und so wartet er. Auf bessere Nachrichten, womöglich schon an diesem Mittwoch. Seine Hoffnungen ruhen etwa auf der israelischen Fluglinie El Al. „Wenn ich Glück habe, fliege ich dann. Wenn nicht, bleibe ich hier.“ Er betont: „Wir sind deutsche Staatsbürger. Aber im Ernstfall scheint das nicht zu zählen.“
Auf WELT-Anfrage teilt das Auswärtige Amt mit, man habe für Mittwoch und Donnerstag zwei Sonderflüge aus Amman organisiert – für jeweils bis zu 180 Passagiere. Die auf der Elefand-Liste registrierten Deutschen seien über die Details informiert worden. Eine Sprecherin erklärt: „Da der Flughafen Amman und die Grenzübergänge nach Jordanien derzeit geöffnet sind, organisiert das Auswärtige Amt die Rückflüge. Die Anreise zur Grenze liegt jedoch in der Verantwortung der Betroffenen.“
In der Begründung heißt es, die „volatile Sicherheitslage“ lasse eine staatlich koordinierte Fahrt derzeit nicht zu. Das Gleiche gelte für deutsche Staatsbürger im Iran. Für die Deutschen in Israel und dem Iran seien alle Ausreiseoptionen geprüft worden. Einige Grenzübergänge, wie die zu Jordanien und Ägypten, seien geöffnet, andere geschlossen. Das Ministerium verweist auf angepasste Reisewarnungen und den ständigen Austausch mit Botschaften und Konsulaten in der Region. Auf die Frage nach alternativen Optionen des Transports zu den jeweiligen Flughäfen – etwa Schutzkonvois, Busse oder Evakuierung per Schiff – gibt es keine konkrete Antwort.
Susanne L. meldet sich am Mittwochmorgen gegen elf Uhr bei WELT: Inzwischen sei sie mit dem Taxi am Flughafen in Amman angekommen. Die israelische Seite des Grenzübergangs zu Jordanien habe erst um 8.30 Uhr geöffnet – die Kontrollen seien aber zügig verlaufen.
Maximilian Heimerzheim ist Volontär im Innenpolitik-Ressort.
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