Am Sonntag fand auf Bürgerinitiative zum fünften Mal die Kundgebung „Bad Freienwalde ist bunt“ in der gleichnamigen Stadt in Brandenburg statt. Plötzlich dann, kurz vor Beginn zur Mittagszeit, griffen vermummte Schläger die Versammlung mit Volksfestcharakter an. Beobachter ordneten sie der rechtsextremen Szene zu. Die „taz“ zitiert einen Augenzeugen, dem zufolge einer der Angreifer eine schwarz-weiß-rote Sturmhaube trug.

Bürger schritten ein und vertrieben die Angreifer. Auf der Website der Veranstalter „Bad Freienwalde ist bunt“ heißt es dazu, „was danach geschah“: „Wir haben zum fünften Mal die Vielfalt in unserer Kleinstadt im Osten Brandenburgs gemeinsam mit Menschen aus der Region und Gästen, mit queeren Menschen, Menschen mit Flucht- und Migrationserfahrung und Menschen mit Behinderung generationenübergreifend gefeiert.“

Samuel Signer, 36, war Versammlungsleiter des Fests. Beruflich ist er Referent beim Netzwerk für Demokratie und Courage und arbeitet mit Schülern. WELT: Herr Signer, wo waren Sie am Sonntag kurz vor zwölf Uhr?

Samuel Signer: Circa zehn Minuten davor hatten wir uns zusammengesetzt mit den Ordner*innen. Wir machen das Fest im fünften Jahr, und wir achten dabei immer auf unseren Schutz, weil wir uns leider auf niemand anderen verlassen können. Als wir gerade diese letzte Besprechung hatten, rannten auf einmal von der Westseite des Marktplatzes die Angreifenden auf das Fest. Irgendwas zwischen acht und 14 Personen kamen die Anhöhe runtergestürmt, alle vermummt, zum Teil mit Schlagwerkzeugen in der Hand, ich habe Stöcke gesehen. Wir sind natürlich alle sofort aufgesprungen und in diese Menschenmenge der Angreifenden reingerannt, um sie aufzuhalten.

WELT: Was ist dann passiert?

Signer: Die Angreifenden wirkten sehr erschreckt. Wir haben geschafft, sie bis zur Grenze unserer Veranstaltung zu treiben, indem wir ihnen schreiend hinter gerannt sind, um ihnen klarzumachen, dass sie nicht willkommen sind.

WELT: Was hatten die Angreifer vor, glauben Sie?

Signer: Es wirkte, als wollten sie die Stände vor Festbeginn verwüsten, vielleicht die Veranstaltungstechnik zerstören. Der offizielle Beginn war ja erst um zwölf Uhr. Als der Angriff kam, waren vielleicht 50 Leute da, inklusive der Ordner*innen. Und fast alle haben sich sofort gegen die Angreifenden gestellt. Es gibt ja ein Video, das zeigt, wie eine ältere Frau mit einem Topf nach einem Nazi jagt. Fantastisches Bild.

Nach wenigen Sekunden haben die dann „Abbruch, Abbruch“ geschrien. Solche Kommandos zeigen, dass sie vorbereitet und organisiert waren. Als sie abgehauen sind, haben sie leider noch mehrere Leute angegriffen und verletzt. Einer Person ist gegen die Brust getreten worden, was auf die Kampffähigkeit der Nazis hindeutet. Das Bein so hochzubekommen ist nicht ohne. Und zwei Leuten wurde ins Gesicht geschlagen.

WELT: Mit der flachen Hand oder geboxt?

Signer: Geboxt mit Quarzsand-Handschuhen, die die Schlagkraft verstärken. Wir konnten aber alle Angegriffenen vor Ort versorgen, niemand musste ins Krankenhaus.

WELT: Hatten Sie Angst?

Signer: Das war Adrenalin pur, aber wir es war für uns nicht überraschend, dass es irgendwann zu solch einem Angriff kommt. Aber ich würde trotzdem sagen, es war eine unglaublich gruselige Situation auch für mich, und ich hatte danach auf jeden Fall Angst, als das Adrenalin nachgelassen hat.

WELT: Die Polizei war nicht vor Ort. Hatten Sie im Vorfeld als Versammlungsleiter die Polizei gebeten, Präsenz zu zeigen?

Signer: Ja. Ich habe der Presse heute entnommen, dass die Polizeiführung der Meinung war, dass, weil es das fünfte dieser Feste in Folge war, davon auszugehen war, dass keine große Gefahr besteht. Eine absurde Einschätzung, weil es bei jeder einzelnen Veranstaltung Gefahr für uns gab. Und die Polizei war nie da. Jetzt verbreitet man, es sei Polizei zugegen gewesen, was nicht stimmt – es war eine Streife irgendwo anders in der Stadt unterwegs und Wasserschutzpolizei von der Oder ganz in der Nähe.

Nach dem Angriff kamen über 20 Polizisten, um die Veranstaltung zu bewachen, auch der Innenminister (René Wilke, parteilos, d. Red.). Den Aufwand hätte man sich sparen können, wären von Anfang an zwei bis vier Beamte vor Ort gewesen. Das ist nicht die Schuld der Beamten, zu denen ich auch persönlich ein gutes Verhältnis habe, sondern der Polizeiführung.

WELT: Das Fest ging dann weiter – und wurde sogar größer als erwartet?

Signer: Es kamen 400 Leute, in den letzten Jahren waren es um die 250. Es gab eine große Welle der Solidarität, nachdem die Nachricht von dem Angriff die Runde macht. Es klingt absurd, nach dem Angriff, zwischen so vielen Beamten, teils mit Maschinengewehr: Die Stimmung war fantastisch. Die Leute vor Ort sind eben schlimme Sachen gewohnt. Die lassen sich davon aber nicht unterkriegen. Die Neonazis wollten das Fest kaputtmachen und uns auch. Und nichts davon ist ihnen wirklich gelungen.

WELT: War Sonntag ein Dammbruch? Diese Neonazis haben nicht klandestin ein linkes Kulturzentrum angegriffen, sondern am helllichten Tag ein kleines Stadtfest, sozusagen eine unbestimmte Gruppe von normalen Bürgern.

Signer: Das war kein „unbestimmter Angriff“, sondern einer auf ein antifaschistisches Straßenfest, geprägt von queeren Menschen und Migrantinnen, von antifaschistischen und antirassistischen Initiativen. Insofern reiht sich dieser Angriff ein in eine Reihe von Übergriffen „am hellichten Tag“, auf CSDs etwa oder auf Antifaschist*innen am Berliner Bahnhof Ostkreuz vor einem Jahr. Es stimmt, der Angriff wirkt erst einmal sehr krass, und es war sehr krass, aber steht eben in dieser Kontinuität.

WELT: Trotzdem, neben der politischen Ausrichtung: Es war ein kleines Straßenfest in einer 10.000-Einwohner-Stadt mit Trommler- und Jugendtheatergruppen, das Angriffsziel wurde. In Berlin oder Köln wäre der friedliche Ablauf eine Selbstverständlichkeit. Ist es großstädtische Ignoranz, sich zu wundern, dass ein Vorfall wie in Bad Freienwalde passiert?

Signer: Ich will nicht Ignoranz unterstellen. Aber was stimmt: Was eine Selbstverständlichkeit sein sollte – ein friedlicher Ablauf –, ist es an vielen Orten nicht mehr. In ostdeutschen Kleinstädten ist jedes Fest, das offen sagt, wir lassen hier keine Menschenverachtung zu, per se schon politisch, egal ob Sie das wollen oder nicht. Die Gewalt hat sich, wie an anderen Orten auch, angekündigt: Ungefähr 50 Ankündigungsplakate für das Fest sind heruntergerissen worden.

Schon bei früheren Festen und ähnlichen Veranstaltungen in der Stadt hatten wir Personen aus dem rechtsextremen Milieu, die Fotos gemacht haben. Leute von der Neonazi-Partei Dritter Weg, die Flyer gegen uns verteilt haben. Personen, die Zigaretten auf Besuchende geschnippt haben. Einmal sind Jugendliche auf einem E-Roller mit einem Teleskop-Schlagstock in der Hand ganz nah an das Festgeschehen rangefahren; andere haben das White-Power-Symbol gezeigt und deutlich gemacht, dass sie übergriffig werden wollen, sobald sie jemanden einzeln antreffen.

WELT: Welchen Begriff haben Sie dafür – rechtsextremen Straßenterror?

Signer: Viele sprechen von einer Wiederkehr der Baseballschläger-Jahre. Und ich glaube, das passt in das Bild von dem, was ich gestern gesehen habe.

WELT: In Brandenburg ist vor Kurzem die Neonazi-Gruppierung „Letzte Verteidigungswelle“ ausgehoben worden, die Mitglieder sind teils sehr junge Teenager. Die Angreifer in Bad Freienwalde wirkten ebenfalls eher jung. Was ist das für eine Jugendkultur, woher kommt das?

Signer: Es sind ganz verschiedene Strömungen, glaube ich, die da zusammenkommen. Kaum erwähnt in der öffentlichen Debatte wird: Wir haben hier in Märkisch-Oderland einfach Neonazis, die gibt es schon immer, und die bekommen Kinder, und diese Kinder erziehen sie zu neuen Neonazis. Das ist der harte Kern, das können Sie an einzelnen Familienbiografien klar nachweisen. Diese Kinder und Jugendlichen wiederum können stimmungs- oder tonangebend in Schulen werden. Im Netz wird die Schülerschaft dazu aufgeheizt von hochkarätigen TikTok-Videos, die sie ansprechen.

Und gleichzeitig befeuern Äußerungen in den sonstigen Medien die Lage: Gegen Geflüchtete zu sein, ist ja gerade von der AfD über die CDU bis hin zur SPD angesagt – so fühlen sich die Jugendlichen auf jeden Fall bestärkt darin, radikale Positionen einzunehmen. Und all das trifft auf Jugendliche, die zum Teil wenig Perspektiven haben, die ihre Schulzeit während der Corona-Zeit verbracht haben. Und direkt danach kommt die nächste Krise, der Krieg, das ist für die alle total krass. Währenddessen gibt es immer weniger Lehrkräfte in Brandenburg, die das alles auffangen müssen. Und die Rechten bieten ganz einfache Antworten, für die die Jüngeren einfach super ansprechbar sind.

WELT: Und die Kräfteverhältnisse?

Signer: Na ja, wir sehen zwar: 30 Prozent wählen die AfD, natürlich ein riesiges Problem, aber auch 70 Prozent der Personen wählen sie nicht. Das Problem ist aber, und ich kann es Ihnen nur genau sagen für meinen beruflichen Fachbereich Schule: Diese theoretische Mehrheit schweigt überwiegend. Wenn Sie an einer Schule 200 Schüler*innen haben, denen 20 bis 30 organisierte rechte Jugendliche gegenüberstehen, können die das Klima prägen, weil eine große Mehrheit der Schüler*innen und teilweise auch Lehrkräfte demgegenüber erst mal teils ignorant gegenübersteht.

Das Ziel von politischer Bildung müsste daher sein – egal, ob sie Jugendliche oder Erwachsene anspricht –, diese Ignoranz zu durchbrechen und den Menschen Mut zu machen, sich einzumischen, ihre Gesellschaft zu gestalten. Und in dieser Situation soll an der außerschulischen politischen Bildung gespart werden. Auch das ist absurd.

Jan Alexander Casper berichtet für WELT über innenpolitische Themen.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke