Angst essen Demokratie auf
Bevorzugt an einem Montag in einer bevorzugt ostdeutschen Stadt lässt sich immer öfter anhören, was die Neonazis gerade zu hetzen haben, über migrantische "Invasoren", jüdische "Globalisten" und linke "Wokisten", und ja, "die Demokraten".
Das ist wirklich keine schöne Erfahrung. Doch sie hat einen entscheidenden Vorteil: Hier verkleidet sich niemand als das, was er nicht ist. Sondern man klärt die Fronten selbst. Sie, das sind die Faschisten. Und wir, das sind die Demokraten.
Doch jenseits dieser eher simplen Versuchsanordnung gestaltet es sich etwas komplizierter. Trotzdem – oder deshalb – machen es sich viele einfach. Inzwischen gilt es oftmals als erste Demokratenpflicht, lauthals zu bekunden, wer von den anderen kein Demokrat ist. Aus dieser Pflicht folgt, die somit festgestellten Nicht-Demokraten von jeder Macht fernzuhalten oder sie bestenfalls zu verbieten. Ansonsten drohe die Wiederholung dessen, was vor bald 90 Jahren geschah.
Adolf Hitler und die "wahre Demokratie"
Abgesehen davon, dass neben den historischen Parallelen ebenso die eklatanten Unterschiede der gesellschaftlichen Umstände zu bewerten sind, wirkt tatsächlich ein Muster bekannt. Adolf Hitler behauptete in der Opposition gerne, dass die NSDAP die "wahre Demokratie" verteidige. Nachdem er seine totalitäre Diktatur errichtet hatte, rühmte er sich, "in der Demokratie mit der Demokratie die Demokratie besiegt" zu haben.
Was eine moderne Demokratie ausmacht, erscheint erst einmal offenkundig: freie, gleiche und geheime Wahlen, dazu Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit und all die anderen Grundrechte. Gewaltenteilung und Gleichberechtigung. Schutz des Privateigentums bei gleichzeitiger Gemeinwohlorientierung. Schutz von Minderheiten.

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Trotzdem ist der Begriff Demokratie seit Platons Zeiten eine rhetorische Kampfzone. Oder neudeutsch formuliert: Es wurde schon immer wild drauflos geframt. Ich etwa lebte einst in der Deutschen Demokratischen Republik. Im Gegensatz zum faulenden Kapitalismus der Bundesrepublik gab es dort ein Recht auf Arbeit, auf Wohnraum und auf Fünf-Pfennige-Brötchen. Das mit der freien Meinung und dem Reisen sollte dann nach dem endgültigen und weltweiten Sieg des Sozialismus kommen.
Montesquieus Gewaltenteilung wurde in der DDR eher nicht gelehrt. Dafür sehr ausführlich die Dialektik von Marx. Er formulierte mit Engels im Kommunistischen Manifest, dass das "Proletariat zur herrschenden Klasse zu erheben" sei, um "den Kampf um die Demokratie zu gewinnen". Wir wissen leider, wie diese demokratische Idee von Lenin und Stalin weiterentwickelt wurde – und aktuell von Kim Jong-un in der, wie könnte es anders sein, Demokratischen Volksrepublik Korea.
Und dennoch: Worte wirken. In der DDR lebte ich in einer "sozialistischen Demokratie", und ja, ein kleines bisschen wollte ich auch daran glauben. So wie viele Bürgerrechtler hielt ich den "demokratischen Sozialismus", der 1968 in Prag niedergeschlagen wurde, für ein realistisches Modell. Ein "dritter Weg" erschien gangbar.

Ganz Naher Osten
stern-Autor Martin Debes berichtet vorrangig aus den fünf östlichen Bundesländern. In seiner Kolumne schreibt der gebürtige Thüringer auf, was im Ganz Nahen Osten vorgeht – und in ihm selbst
Die Historikerin Christina Morina schrieb zuletzt, dass in der DDR der "strategische, symbolische, propagandistische – oder schlicht: simulative – Bezug auf die Demokratie" eine zentrale Rolle spielte. "Generationen von Ostdeutschen" hätten ihn "akzeptiert und geglaubt, eingefordert und gelebt, kritisiert und verachtet".
Ich teile diese Analyse, auch wenn ich mit Morinas Schlussfolgerung, dass deshalb die DDR eine "Demokratieanspruchsgeschichte" besaß, nichts anfangen kann. Vielmehr erinnert mich ihre These an die SED-Propagandaformel vom "Friedensstaat" DDR.
Aber wie gesagt: Worte wirken. Umfragen und Studien zeigen, dass sehr viele Ostdeutsche eine anders gewachsene Idealvorstellung von Demokratie besitzen. Sie wünschen sie sich direkter, aber auch autoritärer und zentralistischer, dazu mehrheitsfokussierter und serviceorientierter. Die obrigkeitsgesteuerte DDR-Prägung konkurriert hier merklich mit dem Selbstermächtigungsgefühl von 1989, aber auch den Demütigungserfahrungen der Transformation.

Kolumne: Ganz naher Osten Der Friedensstaat DDR – oder wie wir uns selbst betrügen
Inzwischen wählen 30 bis 40 Prozent der Ostdeutschen die AfD, also eine Partei, die von der Konkurrenz nicht als demokratisch akzeptiert wird. Die Begründung: Ähnlich wie die NSDAP wolle die AfD das liberale parlamentarische System von innen heraus überwinden. Nach einer Machtübernahme werde die AfD nach dem Vorbild von Viktor Orbán die Freiheit von Opposition und Medien einschränken, Forschung und Bildung domestizieren und so schrittweise ein autoritäres Regime einführen.
Da ist einiges dran. Der AfD-Rechtsextremist Björn Höcke selbst nennt Orbáns "illiberale Demokratie" als Vorbild. Und seine Parteichefin Alice Weidel schwärmt von Donald Trump. Gleichzeitig, und auch das ist eine historische Parallele, geriert sich die AfD als Verteidigerin der Demokratie gegen das "Kartell" der Altparteien. Sie plädiert für Volksabstimmungen in einer Mehrheitsgesellschaft der "normalen Menschen" und einer "autochthonen Bevölkerung". Die Partei agitiert gegen das Parteiensystem, von dem sie selbst profitiert und sät Zweifel am Rechtsstaat, der sie schützt.
Zur Wehrhaftigkeit gehören nicht nur Verfassungsartikel
Und so wird nun, zusätzlich zu der sogenannten Brandmauer, mal wieder ein Verbotsverfahren gegen die AfD gefordert. Schließlich, so heißt es, habe Weimar gezeigt, dass eine Demokratie wehrhaft sein müsse. Oder sie gehe unter.
Auch da ist einiges dran. Aber zur Wehrhaftigkeit gehören nicht nur Verfassungsartikel und deren Interpretation, sondern Mut, Selbstbewusstsein und Selbstkritik. Eine mutige Demokratie versteckt sich nicht hinter den Gutachten eines Nachrichtendienstes. Eine selbstbewusste Demokratie ändert oder beugt nicht Regeln und Geschäftsordnungen, wie es ihr gerade passt. Und eine selbstkritische Demokratie differenziert zwischen Angriffen auf ihre Grundordnung und begründeten Anwürfen.
Nicht alles, was legal ist, ist auch legitim. Dafür gibt es allein aus diesem Jahr einige Beispiele. Dass die grüne Abgeordnete Katrin Göring-Eckardt in Erfurt mit 3,1 Prozent der Erststimmen in den Bundestag einzog, während der Augsburger CSU-Wahlkreisgewinner Volker Ullrich es mit 31,1 Prozent nicht ins Parlament schaffte, so wie 22 andere angebliche Sieger, dürfte mit der Verfassung überein gehen, aber nicht mit demokratischer Logik.
Das lässt sich Betrug nennen
Auch dass der alte Bundestag noch mal schnell ein gigantisches Schuldenpaket im Grundgesetz implantierte, weil die Union die Linken draußen halten wollte, geht nur de jure in Ordnung. Politisch war der Vorgang ebenso verheerend wie sein Inhalt: CDU und CSU vollzogen exakt das Gegenteil von dem, was sie im Wahlkampf versprochen hatten. Das lässt sich durchaus Betrug nennen.
Und der Umgang mit der AfD? Dass jede aktive Zusammenarbeit ausgeschlossen wird, halte ich für notwendiger denn je. Und dass der Bundestag kein AfD-Mitglied zum Vizepräsidenten wählt, ist die souveräne Entscheidung eines Verfassungsorgans. Doch dass sämtliche der AfD zustehende Ausschussvorsitze nicht besetzt werden und dass die SPD als kleinere Fraktion nicht ihren Saal herausrücken will, nützt nicht der Demokratie, sondern nährt Zweifel an ihr.
Das alles ist kein Zufall, sondern liegt im langjährigen Trend. Die deutsche Demokratie erneuert sich nicht mehr. Wer heute das einfordert, was einst der Grundgesetzartikel 146 versprach, wird ausgelacht oder gar beschimpft. Und wer Volksbegehren auf Bundesebene verlangt, gilt mindestens als Populist. Dass einst SPD und Grüne selbst sehr dafür waren, ist egal. Denn das war halt vor dem Brexit.
Die Gesellschaft bunkert sich ein
Die offene Gesellschaft erstarrt aus Angst vor ihren Feinden. Und sie bunkert sich ein, mit Schutzformeln in Verfassungen und Geschäftsordnungen. Sie droht damit eine Entwicklung zu nehmen, die sie richtigerweise verhindern will.
Dabei kann ich diese Angst gut verstehen. Ich wache mit ihr beinahe jeden Tag auf und gehe mit ihr wieder ins Bett, und dazwischen beschäftige ich mich beruflich damit.
Doch um ausnahmsweise Fassbinder zu paraphrasieren: Angst essen Demokratie auf.
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