Ob sie jetzt mehr reisen könne, will der Moderator eingangs von Angela Merkel wissen – notfalls inkognito? „Inkognito ist nicht so einfach. Eine Sonnenbrille alleine hilft nicht“, antwortet Merkel und erntet wohlwollendes Gelächter im Saal.

Die Altkanzlerin gibt ein Live-Interview in Prag – einer Stadt, zu der sie engere Beziehungen hat, als vielen bekannt ist. In den 1980er-Jahren absolvierte sie hier drei mehrmonatige Forschungsaufenthalte.

Die Idee, ein Interview vor Publikum stattfinden zu lassen, sei von Merkels Team ausgegangen, hört man von ihrem Buchverlag. Etwas ironisch wirkt es, dass die Auswahl auf das tschechische Magazin „Respekt“ gefallen ist, dessen Schriftzug nun das Bühnenbild der Lucerna-Halle rahmt – das war schließlich auch der Wahlkampf-Slogan ihres Nachfolgers Olaf Scholz.

Nun hat man vieles von dem, was Merkel an diesem Abend erzählt, bereits von ihr gehört. Ihre Memoiren, „Freiheit“, erschienen bereits im vergangenen Herbst. Nach dem medienwirksamen Interviewdebüt als Kanzlerin a.D. im Berliner Ensemble wurde die Aufmerksamkeit geringer, zuletzt trat sie in überschaubarem Rahmen wie dem „Südwest Presseforum Spezial“ auf. Oft sind es Wohlfühltermine. Nur ab und zu macht Merkel noch mit einem Zitat von der Seitenlinie von sich reden.

Möglicherweise ist heute so ein Abend, doch dazu später mehr.

Hört man sich bei den Besuchern um, erfährt man, dass Merkel wegen ihrer Herkunft in Tschechien sehr beliebt war – zumindest bis zur Flüchtlingskrise. Diese habe die konservative tschechische Gesellschaft in zwei Hälften gespalten. Vor allem abseits der Metropolen habe man für ihre Politik der offenen Grenzen kein Verständnis gehabt.

Das Befremden gab es auch umgekehrt. „Ich habe auch kein Verständnis, dass einige Länder gesagt haben, wir beteiligen uns nicht auch nur ein bisschen an einer Quote“, erinnert sich Merkel an die Zeit um 2015 – unter besagten Ländern befand sich auch Tschechien, Merkel spricht jedoch gezielt Ungarn an.

Dass man „syrische Flüchtlinge hin- und herjagt, ihnen Fahrkarten gibt, ihnen keine Fahrkarten gibt, sie in Unsicherheit wiegt, dafür hatte ich nullkommanull Verständnis“, bekräftigt sie. Sie sei der Meinung, es mache sich niemand unter Einsatz seines Lebens auf den Weg über das Mittelmeer, wenn es nicht eine „große Perspektivlosigkeit“ gebe.

Auf die Bemerkung, in Deutschland für ihre Flüchtlingspolitik Gegenwind bekommen zu haben, erwidert sie, große Unterstützung erfahren zu haben. Bei den Bundestagswahlen zwei Jahre später sei sie zwar „mit keinem tollen Ergebnis“ gewählt worden, aber konnte mit ihrer Partei wieder den Bundeskanzler stellen. Indes habe es dann auch wieder Kritik gegeben, als sie mit dem türkischen Präsidenten Erdogan ein Abkommen aushandelte.

„Da waren viele mittel- und osteuropäische Länder recht passiv“, sagt Merkel. „Die haben gesagt, lass die Merkel mal machen“. Heute sei sie sehr froh, dass ein neues Asylsystem in der Europäischen Union verabschiedet wurde und hoffentlich bald in Kraft trete.

In der Zwischenzeit ist in Deutschland mit der AfD eine rechte Partei durch die Flüchtlingskrise aufgestiegen. Ob sie nicht etwas dagegen hätte tun können – notfalls durch Entscheidungen gegen ihre Prinzipien?

„Ich hätte es mir im Rückblick nie vorstellen können, dass ich zustimme, dass man bis hin zu Wasserwerfern gegen Flüchtlinge an der deutsch-österreichischen Grenze versucht, diese Flüchtlinge wieder zurück nach Österreich oder Ungarn zu schicken“, antwortet Merkel entschieden.

Man kann davon ausgehen, dass an diesem Abend eher Fans als Kritiker im ausverkauften Saal sind. Trotzdem bleibt es bis auf das leise Schnattern in den Kopfhörern der Gäste – das Gespräch wird simultan aus dem Deutschen übersetzt – im Publikum still. Zu viel Gravitas liegt auf den Themen, die auch heute die Weltlage bestimmen.

Auch beim Ukraine-Krieg wird Merkel mit ihren früheren Entscheidungen konfrontiert. Was mache sie so sicher, dass es damals richtig war, anders zu handeln als die Polen und die Balten, die vor allem auf die Minimierung von Gaslieferungen und Abschreckung setzten?

Dass Deutschland seine militärischen Fähigkeiten schneller hätte erhöhen müssen, gibt Merkel zu. „Nur Abschreckung ohne diplomatische Kontakte habe ich nicht für richtig gehalten“, sagt sie. Es zeige sich auch jetzt, dass Russland den Krieg aufgrund der militärischen Stärke der Ukraine nicht gewinnen könne, aber es gleichzeitig auch diplomatische Bemühungen geben müsse.

Es sei „auch manchmal eine Arbeitsteilung gewesen. Deutschland hat dann schon die diplomatischen Kontakte gemacht und die anderen haben sich auch ein bisschen darauf verlassen, dass schon jemand noch mit Putin spricht“. Der Ukraine die Vorstufe zur NATO-Mitgliedschaft zu geben, habe sie für „sehr gefährlich“ gehalten – in den drei bis fünf Jahren, in denen die Ukraine noch nicht den Schutz von Artikel 5 gehabt hätte, hätte Putin nicht tatenlos zugesehen. „Da komme ich leider zu dem gleichen Ergebnis, dass ich es wieder so machen würde“.

Gegen Ende dreht sich das Gespräch um den Krieg in Gaza. Europäern werde bei ihrer Reaktion auf die Art der israelischen Kriegsführung oft Doppelmoral vorgeworfen, erinnert der Moderator. Merkel kontert: Die Hamas habe am 7. Oktober Israel angegriffen und vertrete die Auffassung, der Staat Israel müsse vernichtet werden. Sie benutze erkennbar die Zivilbevölkerung als Schild gegen die Angriffe, um selbst als Struktur zu überleben.

Und dann wird Merkel plötzlich ungewöhnlich deutlich – wesentlich deutlicher als Bundeskanzler Friedrich Merz und Außenminister Wadephul, die kürzlich Kritik gegenüber der Netanjahu-Regierung formulierten.

„Israel besteht nicht nur aus Ministerpräsident Netanjahu. Dessen Position, wie er diesen Krieg führt – auch mit welcher Erbarmungslosigkeit gegen die Zivilbevölkerung im Gazastreifen – teile ich nicht“, sagt Merkel. „Ich bin da auch auf der Seite gerade all derer, die gegen Netanjahu auch in Israel, bis hin zu hohen Militärs, protestieren“.

„Das kann mich aber nicht dazu bringen, dass ich sage, nun werde ich aber Israel in seinem Kampf um seine Existenz nicht mehr unterstützen“, so Merkel. „Die Antwort kann nicht sein, weil ich mit der Politik von Netanjahu nicht einverstanden bin, stelle ich meine Unterstützung für den Staat Israel und damit auch für die vielen, die selbst kritisch zu Netanjahu sind, infrage." Für diese Aussage erhält sie Applaus im Saal – zum ersten Mal seit Beginn des Interviews.

Schließlich erinnert Merkel selbst an eine Doppelmoral in der Debatte. Durch den Krieg im Jemen hungerten gerade wahrscheinlich 15 Millionen Menschen, darunter viele Kinder, sagt Merkel. Die hätten so gut wie gar keine Lobby. Aber: „Wenn es dann um Israel geht, dann wird Israel sehr an den Pranger gestellt.“

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