Nach Asyl-Urteil – „Dann muss die Frage erlaubt sein, ob der Richter vielleicht befangen ist“
Volker Boehme-Neßler ist Rechtswissenschaftler und Professor für Öffentliches Recht und Medien- und Telekommunikationsrecht an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Mit WELT TV sprach er über das Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts vom Montag, demzufolge die Zurückweisungen mehrerer Asylsuchender hinter den deutschen Grenzen rechtswidrig waren.
WELT: Herr Boehme-Neßler, wie schätzen Sie das Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts ein? Hagelt es da noch eine Reihe weiterer Klagen, wenn da einfach so weitergemacht wird?
Volker Boehme-Neßler: Das kann schon sein. Trotzdem müssen wir uns klarmachen: Das ist keine Grundsatzentscheidung, was wir gesehen haben. Das ist das erste Urteil eines Verwaltungsgerichts. Es ist noch nicht einmal eine endgültige Entscheidung, sondern eine vorläufige Eilentscheidung. Also: Die Bedeutung ist nicht so groß, wie es im Augenblick in der Öffentlichkeit scheint. Es ist völlig klar: In dieser Frage sind unheimlich viele Einzelfragen, sind Detailfragen juristisch hochumstritten. Deswegen wird es zu einer ganzen Reihe von Klagen kommen. Es gibt jetzt immer wieder Entscheidungen von unterschiedlichen Verwaltungsgerichten. Nicht nur in Berlin, sondern auch in München, in Passau und so weiter. Es geht in die nächste Instanz. Und dann entwickelt sich allmählich eine Linie in der Rechtsprechung. Und irgendwann gibt es dann die definitive Entscheidung der obersten Instanz des Bundesverwaltungsgerichts. Wir sind erst am Anfang eines juristischen Klärungsprozesses. Das ist kein Grundsatzurteil, das die ganze Praxis der Migrationspolitik über den Haufen wirft.
WELT: Dennoch gab es viel Aufregung über dieses Urteil. Da kam auf, dass der zuständige Richter aus Berlin ein grünes Parteibuch hat. Ist das ein Problem?
Boehme-Neßler: Das ist grundsätzlich erst mal kein Problem. Gerichte müssen natürlich möglichst objektiv und neutral entscheiden. Richter dürfen nicht mit einer vorgefassten Meinung an Prozesse gehen, an denen sie beteiligt sind. Das ist ganz wichtig. Wir müssen darauf vertrauen können, dass die Gerichte objektiv und neutral sind. Gleichzeitig sind Richter aber auch Bürger in der Demokratie. Sie dürfen eine politische Meinung haben und sie dürfen auch Mitglied einer Partei sein. Das heißt, das Parteibuch alleine ist kein Problem, solange der Richter trotzdem neutral und objektiv entscheidet.
Die Frage ist, was mit anderen Äußerungen ist, die der Richter in der Öffentlichkeit macht. Wenn der Richter sich permanent zu einem bestimmten Thema äußert und eine ganz dezidierte Meinung hat, und dann bekommt er den Fall auf den Tisch – dann ist die Frage natürlich tatsächlich erlaubt, ob der Richter vielleicht befangen ist. Es geht im Augenblick durch die Medien, dass der Richter, über den wir reden, tatsächlich sich auch in seinen Social-Media-Accounts immer wieder dezidiert zu Migrationsfragen geäußert hat. Das müsste man nachprüfen. Wenn das tatsächlich stimmt, dann muss die Frage erlaubt sein, ob er vielleicht befangen ist.
WELT: Wenn wir jetzt noch mal auf die Praxis schauen, die Innenminister Dobrindt weiterführen möchte: Wenn jetzt gesagt wird, da wird nachgeschärft – kann man sagen, wenn wir jetzt diesen und jenen Schritt gehen, dann ist das rechtssicher und man kann weitermachen? Sie haben ja bereits erwähnt, dass es da so viele kleine Punkte gibt, gegen die man klagen könnte?
Boehme-Neßler: So einfach ist das nicht. Das hängt eben auch damit zusammen, dass das System juristisch nicht mehr richtig funktioniert. Es ist inzwischen so kompliziert, dass es allmählich dysfunktional wird. Aus meiner Sicht ist der entscheidende Punkt: Gibt es eine Notlage? Da reden wir über diesen berühmten Artikel 72 (im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union AEUV, d. Red.). Der besagt, man kann von der Dublin-Verordnung und anderen komplizierten Regelungen abweichen, wenn es eine nationale Notlage gibt. Darauf beruft sich Herr Dobrindt, auch Merz hat davon schon gesprochen. Jetzt ist die Frage: Haben wir eine Notlage? Diese Notlage müsste man einfach – und das meint Dobrindt, glaube ich, auch mit ‚nachschärfen‘ – genauer begründen. Wir haben ja das Problem, dass unsere Migrationsinfrastruktur überlastet ist. Manche Landräte und Bürgermeister reden zum Beispiel schon davon, dass sie die Anzahl an Flüchtlingen nicht mehr bewältigen können. Und wir haben auch noch ein langfristigeres Problem: Wir müssen ja die Flüchtlinge, die hier sind und hier bleiben, auch langfristig integrieren. Da ist die Frage: Wo endet die Integrationsfähigkeit einer Gesellschaft? Das sind ganz große, grundlegende Probleme. Und mit denen, denke ich, wenn man die genug begründen würde, könnte man auch eine Notlage begründen. Und damit könnte man dann zumindest vorübergehend von den europäischen Regeln abweichen.
„Natürlich gibt es bei dieser Masse an Fällen auch ganz viel Missbrauch“
WELT: Wenn wir beim Thema Asyl sind, da hört man ja auch immer wieder, dass die Klagen gegen abgelehnte Asylbescheide exponentiell gestiegen sind. Weil sich offensichtlich mehr damit beschäftigt wird. Da hört man aber jetzt auch, dass da immer wieder Pflichtverteidiger gestellt werden. Das ist ja auch völlig in Ordnung. Allerdings wird auch bei einem zweiten und einem dritten abgelehnten Bescheid wieder ein Pflichtverteidiger vom Staat gestellt. Warum ist das so? Könnte man diese Praxis auch abschaffen?
Boehme-Neßler: Wir sehen jetzt praktisch, wie der Rechtsstaat an seine Grenzen und über seine Grenzen gebracht wird. Es ist normal im Rechtsstaat, dass man gegen staatliche Maßnahmen klagen kann. Das ist auch eine ganz wichtige Errungenschaft, dass der Staat sozusagen nicht machen kann, was er will, sondern von Gerichten kontrolliert wird. Und es ist auch eine wichtige Errungenschaft, dass der Staat in manchen Fällen Verteidiger stellt oder Rechtsvertreter stellt, Anwälte stellt. Was wir allerdings merken ist, dass das in dieser Masse nicht mehr funktioniert. Das Asylsystem funktioniert an allen Ecken und Enden nicht mehr. Jetzt sehen wir hier, dass auch das Rechtsschutzverfahren nicht mehr funktioniert, einfach weil es viel zu viele sind. Man kann nicht pauschal sagen, dass das missbraucht wird. Aber natürlich gibt es bei dieser Masse an Fällen auch ganz viel Missbrauch. Da müsste man auch politisch reagieren und Regeln ändern.
Das Interview wurde für WELT TV geführt. In dieser Online-Fassung wurde es zur besseren Lesbarkeit leicht gekürzt und redaktionell bearbeitet.
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