Klapperstorch, Klima, Kanibalismus: Müssen wir den Zugvogel neu denken?
Unklar, ob es dafür einen fachlicheren Ausdruck gibt, aber der Boden hat etwas sehr angenehm Wobbeliges. "Normalerweise würden wir hier ohne Gummistiefel nicht laufen können", sagt Bernd Petri und schreitet voran durch die grasbewachsene Wobbeligkeit, bis dorthin, wo sie dann nicht mehr ganz so grasbewachsen ist. Im Winter stand hier noch das Wasser. Ein einzelner Storch stochert im trockenen Boden. Dann fliegt er weg, in Richtung eines der großen Storchennester in den alten Pappeln. Am Abend werden es hier hunderte Exemplare sein.
Die Gegend um das südhessische Groß-Gerau, noch im Schatten des Frankfurter Großflughafens, ist eine der storchenreichsten in ganz Deutschland, ja sogar Europa. Bernd Petri ist hier aufgewachsen, hat in den Sechzigern mit großen Kinderaugen die letzten Störche bewundert und als Erwachsener ihre Wiederkehr erlebt. Jetzt ist er Ornithologe und der Storchenfachmann im Nabu-Bundesverband.
Störche schmeißen Störche aus dem Nest
Dass die Feuchtwiesen auf dem Niedermoorgebiet im hessischen Ried in diesen späten Maitagen ohne Gummistiefel zu begehen sind, das ist dem Storch auch schon aufgefallen. Der trägt zwar eher selten Schuhwerk, aber die seit dem Winter anhaltende Trockenheit macht den weiß gefiederten Freunden hier wie in vielen Teilen Deutschlands gehörig zu schaffen. "Die haben jetzt wirklich seit drei, vier Wochen Stress", so Petri. Mäuse? Insekten? Würmer? Nada. Auch denen ist es zu trocken. Sie sind in tiefere Schichten abgetaucht und durch den verdorrten Oberboden kommt man mit dem Schnäbelchen ohnehin nicht weit.

"Es gibt vermehrt Storchenpaare, wo letztlich auch junge Störche aus dem Nest geworfen werden oder auch selbst gefuttert oder verfüttert werden." Die Schauergeschichte, die Bernd Petri da mit Blick auf die Feuchtwiesen-Idylle zum Besten gibt, ist, nüchtern betrachtet, der Lauf der Natur, wenn Nahrungsknappheit herrscht. Dieser Lauf wird zurzeit auch andernorts beobachtet und sorgt dafür, dass es zumindest ein, zwei Nachfahren schaffen. Nur fürs Protokoll: Auch wenn es naheliegt, sollten Menschen nicht eingreifen und ausgestoßenen Storchennachwuchs aufziehen. Das sei nur etwas für ausgewiesene Fachleute wie auf dem Storchenhof in Loburg östlich von Magdeburg, sagt Petri.

Langanhaltende Trockenheit wie in diesem Jahr zählt zu den Klimafolgen, die im Zuge der Erderwärmung in Deutschland häufiger werden. Langfristig kann das der Storchenpopulation im Land schaden. Und das wäre bedauerlich, schließlich hat sie sich gerade erst erholt. Diese Erholung betrifft vor allem die westziehenden Störche, also jene, die sich vom Deutschland westlich der Elbe im Winter ihren Weg Richtung Spanien oder Nordafrika bahnen. Von den vor zwanzig Jahren 4000 deutschen Brutpaaren war nur ein Viertel Westzieher. Der Rest nahm die gefährlichere, lange Route in Richtung Türkei bis hin nach Südafrika. Die Zahl der Brutpaare hat sich inzwischen mehr als verdreifacht, aber nur noch ein Viertel sind Ostzieher. Durch die Verluste auf ihrer Ostwanderung stagniert die Population, die wenigen Zuwächse sind aus dem Westen rübergemacht. Ja, auch das gibt’s.
Den Weststörchen zugute kommt auch das warme Klima, insbesondere entlang des Rheins, von dem auch Groß-Gerau nicht weit entfernt liegt. Dass es in den vergangenen Jahren noch ein bisschen wärmer geworden ist, bringt uns dazu, dass wir unser Bild vom Zugvogel wohl etwas korrigieren müssen. Zwar ziehen Störche auch im Winter noch dorthin, wo es sich von den Temperaturen her aushalten lässt und – vor allem – genügend Futter verfügbar ist. Aber für manche reichen da auch fünfzig Kilometer innerhalb Deutschlands. Und einige bleiben sogar gleich an Ort und Stelle.

Einen Sinneswandel im Tun der Störche hat auch Andrea Flack festgestellt, Wissenschaftlerin am Max-Planck-Institut für Verhaltensforschung in Konstanz. "Das sehen wir hauptsächlich bei älteren Störchen, die früher aus ihren Überwinterungsgebieten zurückkehren oder auch im Herbst vielleicht länger hierbleiben." Insgesamt ziehen die älteren Störche also weniger. Vielleicht noch nach Spanien, dort ist das Futterangebot auf Reisfeldern und Müllkippen ausreichend. Diese prototypischen Zugvögel sind gar nicht so reiselustig, wie wir denken, denn Langstreckenflüge sind für die Tiere nicht gerade ungefährlich.
Goldner Westen der Störche
Die kurze, komfortable Westroute scheint attraktiver zu sein als die lange Ostroute. "Und deswegen verschiebt sich dieser Zugkorridor so ein bisschen Richtung Westen", so Andrea Flack. Dass der Klimawandel Zugvögeln entgegenkommt, wäre ihr zufolge aber die falsche Schlussfolgerung: "Wenn die Vögel früher zurückkommen und hier anfangen wollen zu brüten, ist es eventuell so, dass die Nahrung noch gar nicht da ist." Oder manche Insekten sind in ihrem Entwicklungsstadium schon durch und fallen als Fressen weg.
Ortswechsel: Bernd Petri steuert in Richtung Mülldeponie Büttelborn, direkt an der A67, der Storchenautobahn, die manche Kraftfahrende schon dazu bewegt haben soll, einen Gang runterzuschalten. Auf der Deponie kennt man den Ornithologen schon. Warum, wird klar, als Petri gelernt den Müllbergpfad nach oben lenkt und auf halber Höhe zum Stehen kommt: Hier, wo der ungetrennte menschliche Unrat lagert, tummeln sich pünktlich zum Lunch an die hundert Weißstörche. In bester Gesellschaft einiger Milan-Greifvögel durchsuchen sie das nach Verwertbarem, was wir Restmüll nennen.

Das rastlose Stochern geht mit vertrauten Klängen einher, dem klassischen Klappern des Klapperstorchs. Und mit eher unvertrauten: Ja, Störche können fauchen, wenn ihnen die Kameradinnen und Kameraden zu sehr auf die Füße treten. Zwischen und in den bunten Plastiksäcken müssen sich offensichtlich allerhand Fleischreste und andere verwertbare Lebensmittel versteckt haben, die den Vögeln Nahrung bieten.
Das idyllische Bild vom Storch, der sich in der Pappel oder auf einem Schornstein eingenistet hat, elegant durch die Landluft segelt und so viel Natürlichkeit ausstrahlt, dass es zum Wappentier des Nabu gereicht hat, dieses Bild ist auf einmal ganz weit weg. Ganz freiwillig sind die Tiere auch nicht hier, sondern nur, weil ihnen ihr eigentlicher Lebensraum nicht mehr genug Nahrung bietet, sofern er überhaupt noch existiert.
Die Junggesellen hier auf der Deponie feiern Party
Das Zusammenleben zwischen Mensch und Storch, hier auf der Deponie scheint es irgendwie zu funktionieren. "Es sind einfach Verwerter der Sachen, die die Menschen sinnloserweise nicht nutzen", sagt Petri. Vor allem noch unverpaarte Störche tummeln sich hier: "Also Junggesellinnen und Junggesellen sind hier auf der Deponie und die feiern Party, die haben noch nicht so den Ernst des Lebens."
Störche auf der Deponie: Gefährliches Futterglück
Diese Party, dieses Resteessen mit Ausblick bis zur Skyline von Frankfurt – unterm Strich ist es vielmehr ein Pakt mit dem Teufel als willkommene Symbiose. Gerade mit dem Haushaltsmüll können die Tiere unbeabsichtigt Dinge zu sich nehmen, die nicht in einen Storchenmagen gehören. Das kann mitunter bis zum Tod der Vögel führen. Petri hat bereits beobachtet, wie ein Ring um den Schnabel eines Storches ihn daran gehindert hat, eben den zu öffnen.
Aus Richtung Deponie kommt einer geflogen und zieht über die Feuchtwiese. Bernd Petri sieht es sofort: "Der hat was geschluckt, hat Futter dabei. Und das wird dann im Nest ausgespeit." Bleibt zu hoffen, dass es Küchenabfälle sind und keine Verpackungsteile. Das Verhältnis zwischen Mensch und Storch ist also kompliziert und der Klimawandel wird es noch komplizierter machen. Denn ob und wie sich fehlender Nachwuchs, aber auch Überwinterungen in Deutschland in den Ökosystemen bemerkbar machen werden, lässt sich jetzt noch nicht sagen. Das Gute: Der Storch ist pragmatisch und anpassungsfähig. "Aktuell ist es so, dass die Störche die letzten Jahre von dem Lebensraum profitieren, den die Menschen gestalten." Nur ob das so bleibt? Bernd Petri hat zumindest ein Auge drauf.
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