Immer weniger Frauen bringen ein Kind zur Welt. Die werdenden Eltern sind im Schnitt deutlich älter, ihre Wünsche haben sich gewandelt, die Ärzte haben mehr medizinische Möglichkeiten. Roland Zimmermann hat fast 40 Jahre als Frauenarzt gearbeitet, von 2002 bis 2022 war er Direktor der Klinik für Geburtshilfe am Universitätsklinikum Zürich und Universitätsprofessor für das gleiche Fachgebiet. Heute ist er als Berater für Kliniken und andere Organisationen tätig.

Frage: Herr Zimmermann, wie erklären Sie sich den Geburtenrückgang?

Roland Zimmermann: Das hat viel mit der gesellschaftlichen Entwicklung zu tun. Früher hatten die Menschen sechs, sieben Kinder, weil sie wussten, dass nicht alle überleben werden. Heute reichen vielen Paaren ein, zwei Kinder – diese werden im Normalfall ein langes Leben haben. Dazu kommt, dass Frauen im Schnitt immer später Kinder haben. Wer mit 37 erstmals ans Schwangerwerden denkt, bekommt vermutlich keine Großfamilie mehr.

Frage: Das Durchschnittsalter von Müttern bei der Geburt lag 1990 noch bei 28,9 Jahren. Heute liegt es bei 32,4. Welche Folgen hat die Entwicklung genau?

Zimmermann: Die Fruchtbarkeit nimmt ab einem gewissen Alter mit jedem Lebensjahr weiter ab. Ältere Frauen werden seltener schwanger und haben mehr Fehlgeburten. Es ist halt nicht so, wie es uns die Werbung glauben machen will, dass uns eine bessere Ernährung und Medizin ewige Jugend schenkt.

Frage: Schon vor Jahren sagten Sie: „Im Gebärsaal ist es wie auf dem Fußballplatz: Zwischen 20 und 32 ist man am leistungsfähigsten.“ Bleiben Sie dabei?

Zimmermann: Natürlich. Es ist einfach so: Für vieles gibt es im Leben ein Leistungsoptimum. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine 22-Jährige leicht schwanger wird und eine unkomplizierte Schwangerschaft und Geburt hat, ist viel größer als bei einer 34-Jährigen. Ab 40 wird alles nochmals schwieriger.

Frage: Allerdings hat die Medizin heute mehr Möglichkeiten. Betrachtete man lang jede Frau ab 35 als Risikoschwangere, handhabt man das heute pragmatischer.

Zimmermann: Was wollen Sie auch sonst tun? Es ist einfach die neue Normalität. Mein Chef hat damals in seinen Lehrbüchern ab 30 von Risikoschwangerschaften geschrieben. Aber es macht schlicht keinen Sinn, einen Großteil der Schwangeren in die Risikoklasse einzuteilen. Man muss auch nicht den Teufel an die Wand malen: Betrachten wir die absoluten Werte, sind viele Risiken selbst bei älteren Schwangeren relativ gering. Aber sie sind halt da.

Frage: Von welchen Risiken sprechen wir?

Zimmermann: Je älter die Eizelle ist, desto höher ist etwa das Risiko, dass der Embryo einen Chromosomendefekt hat. Bis 30 liegt die Wahrscheinlichkeit bei rund einem Promille, dass ein Kind Trisomie 21 hat. Bei 35-jährigen Müttern ist etwa ein Viertelprozent der Embryonen betroffen, bei 40-Jährigen rund ein Prozent, bei 50-Jährigen sind es zehn Prozent.

Frage: Frauen im gebärfähigen Alter lassen sich vermehrt Eizellen einfrieren, um bei der Familiengründung Zeit zu gewinnen. Eine gute Idee?

Zimmermann: Lässt sich eine 38-Jährige eine Eizelle einpflanzen, die sie mit 28 hat einfrieren lassen, dann hat das Kind kein erhöhtes Risiko für Chromosomenstörungen. An den mütterlich bedingten Risiken ändert sich dadurch jedoch nichts. Ältere Schwangere haben häufiger Bluthochdruck, erhöhte Blutfettwerte und Schwangerschaftsdiabetes.

Frage: Sie sprachen von 50-jährigen Schwangeren. Haben Sie solche Fälle betreut?

Zimmermann: Ja. Mir ist ein tragischer Fall in Erinnerung geblieben: Die Frau hatte einen Herzinfarkt. Man muss sich vorstellen: In der Schwangerschaft nimmt die Herzleistung um 40, 50 Prozent zu. Das ist, wie wenn Sie ständig einen Dauerlauf machen, immer leicht traben. Die meisten Frauen halten das problemlos aus, mit zunehmendem Alter kommt es jedoch eher zu Problemen.

Frage: Heute lassen sich auch mehr Paare künstlich befruchten. Ist das ebenfalls eine Folge der späteren Familiengründungen?

Zimmermann: Nicht nur. Daneben spielt die Erwartung eine Rolle: Heute geben sich viele Paare vielleicht ein halbes Jahr oder ein Jahr Zeit, um ein Kind zu zeugen. Wenn es dann nicht klappt, suchen sie sich professionelle Hilfe. Früher hätte man einfach abgewartet, ob es doch noch klappt. Man hatte gar keine andere Wahl.

Frage: Wie hat der medizinische Fortschritt die Geburtshilfe während Ihrer Zeit als Arzt verändert?

Zimmermann: Als ich begonnen habe im Jahr 1984, gab es erst seit wenigen Jahren die Fruchtwasserpunktion. Von der heutigen Diagnostik, mit der Störungen schon sehr früh in der Schwangerschaft per Bluttest bei der Mutter festgestellt werden können, sprach noch kein Mensch. Wir wissen heute immer mehr über mögliche Fehlbildungen. Mit der Konsequenz, dass die Eltern belastende Entscheidungen fällen müssen. Früher war man erst bei der Geburt mit einer allfälligen Behinderung konfrontiert.

Frage: Wie hat sich das Gebären über die Jahre verändert?

Zimmermann: Heute erfolgt rund jede dritte Geburt per Kaiserschnitt. Eine Weile lang standen die Hebammen diesem Trend recht kritisch gegenüber. Die Rate ist inzwischen seit einigen Jahren relativ konstant, was die Diskussion etwas beruhigt hat.

Frage: Die Schweizer Kaiserschnittrate ist im internationalen Vergleich hoch. Warum ist das so?

Zimmermann: Darüber lässt sich lange philosophieren. Es gibt sicher Push-Faktoren bei den Ärzten: Sie haben weniger Geduld bei langen Geburten, möchten weniger Risiken eingehen. Aber es gibt auch einen Pull-Faktor aufseiten der Patientinnen: Die Frauen verlangen eher einen Kaiserschnitt, etwa weil sie nach einer lang ersehnten Schwangerschaft kein Risiko eingehen wollen.

Frage: Auf der anderen Seite gibt es auch viele Frauen, die sich explizit eine natürliche Geburt wünschen. Ist für sie das Geburtshaus eine gute Alternative?

Zimmermann: Es gibt Leute, die sich in Krankenhäusern wahnsinnig unwohl fühlen. Wenn es für eine Frau oberste Priorität hat, dass sie sich geborgen fühlt und die Hebammen kennt, kann das Geburtshaus eine Option sein. Man muss sich einfach bewusst sein, dass im Notfall – wenn die Mutter stark blutet oder es dem Kind schlecht geht – eine Verlegung ins Krankenhaus nötig wird. Und dass in solchen Situationen jede Minute zählt.

Frage: Wo ist Gebären am sichersten?

Zimmermann: In einem großen Krankenhaus, wo Tag und Nacht Leute mit Erfahrung verfügbar sind. Wenn es dem Kind oder der Mutter akut schlecht geht, sind im Notfall sofort zehn Spezialisten vor Ort. Sie entbinden das Baby, bringen es bei Bedarf in die Neonatologie. Gleichzeitig sind noch Fachleute da, die sich um die Mutter kümmern können. In kleineren Kliniken kann es sein, dass sich der Anästhesist entscheiden muss, ob er zuerst der Mutter oder dem Kind hilft.

Frage: Einige Frauen schreckt an Kliniken genau dieser Fokus auf mögliche Probleme ab.

Zimmermann: Wenn ich an die Geburtshilfe der 60er- und 70er-Jahre denke, kann ich diese Kritik nachvollziehen. Die Abläufe waren mechanisiert, und man unternahm relativ wenig, damit sich Mutter und Kind wohlfühlen. Doch dann kamen Geburtshelfer wie Frédérick Leboyer, die eine sanfte Geburt propagierten.

Frage: Das heißt?

Zimmermann: Man hat vieles gemacht, damit sich die Frauen wohlfühlen, von der Farbgebung bis zur Möblierung der Zimmer. Sie sollen sich wie zu Hause fühlen – auch wenn sie in einer Klinik sind. Wobei ich betonen möchte: Den Blinddarm würde man auch nicht zu Hause operieren.

Frage: Den Wunsch nach einer möglichst natürlichen Geburt verstehen Sie aber?

Zimmermann: Es ist ein Irrtum, dass Natürlichkeit per se etwas Gutes ist – bei der Geburt wie auch in anderen Lebensbereichen. Sie können ja mal einen absolut natürlichen Giftpilz essen. Das werden Sie nur ein einziges Mal machen können. Die Natur kann grausam sein. Weil wir Menschen das realisiert und die Medizin vorangebracht haben, können wir der Natur immer wieder ein Schnippchen schlagen.

Frage: In den sozialen Medien propagieren Frauen das „Freebirthing“ – also das Gebären ganz allein, ohne Hebamme. Sie raten wahrscheinlich ab?

Zimmermann: Wenn sich eine Frau in vollem Wissen der Risiken auf ein solches Abenteuer einlässt, ist das ihre Sache. Sie gefährdet damit das Ungeborene und sich selbst. Wenn aber auf Social Media lautstark darüber berichtet wird, wie toll das sein soll, dann geht das meines Erachtens nicht. Eigentlich müssten dann die Behörden eingreifen – was auf Social Media natürlich schwierig ist.

Frage: Viele Frauen machen sich Gedanken zu Schmerzmitteln während der Geburt. Was raten Sie ihnen?

Zimmermann: Es gibt Frauen, die kommen in die Klinik mit einem mehrseitigen Geburtsplan, auf dem steht, was sie alles wollen und was nicht. Wir haben das jeweils entgegengenommen, wussten aber auch, dass es dann bei der Geburt mit großer Wahrscheinlichkeit anders ablaufen wird. Viele Frauen unterschätzen im Vorfeld massiv die Schmerzen, die sie erleben werden.

Frage: Die Frauen werden in Ratgebern häufig dazu ermuntert, vorher einen Geburtsplan zu machen.

Zimmermann: Natürlich haben wir immer versucht, diese Wünsche umzusetzen. Aber es gibt Momente, in denen wir vom Plan abweichen mussten, weil dies für das Kind und die werdende Mutter besser war. Gerade bei den Schmerzen, die die Frau irgendwann nicht mehr aushält. Dann muss man reagieren und etwas wählen, was für die Frau stimmt und dem Kind nicht schadet. Manchmal braucht es nur eine geringe Schmerzreduktion, um die nötigen Energien für die nächsten zwei oder drei Stunden zu mobilisieren.

Frage: Immer wieder wird auch Gewalt während der Geburt zum Thema. Wie groß ist aus Ihrer Sicht das Problem?

Zimmermann: Das ist schwierig zu sagen. Ich selbst war jeweils nur bei einem kleinen Teil der Geburten präsent und habe deshalb nicht alles mitbekommen, was zwischen den Gebärenden und den Betreuern abläuft. Aber man darf nicht vergessen, dass eine Geburt ein unglaublich traumatisierendes Erlebnis sein kann. Nur bei wenigen Frauen ist sie kurz und mit wenigen Schmerzen verbunden. Zwei Drittel haben in ihren Sexualorganen nachher Risse, die man flicken muss. Man liegt völlig entblößt und ausgeliefert im Gebärzimmer. Das alles ist eine Form von Gewalt, gehört aber zur Natur des Geburtsvorgangs.

Frage: Manchmal geht es um einen Dammschnitt, den die Frau eigentlich nicht wollte, der dann aber doch durchgeführt wurde. Ist das Gewalt?

Zimmermann: Wenn eine Frau einen Dammschnitt grundsätzlich ablehnt, sollte man rechtzeitig mit ihr überlegen, was ihr am wichtigsten ist. Mit einem Dammschnitt verhindert man unter Umständen spätere Urin- und Stuhlinkontinenz, Senkungsoperationen oder eine Vagina, bei der die Freude am Sex durch Vernarbungen massiv beeinträchtigt ist. Es gibt zudem Situationen, in denen ein Dammschnitt eine Geburt überhaupt erst ermöglicht. Das sollte man vorher mit der Frau besprechen – ohne ihr Angst zu machen.

Frage: Eine Gratwanderung.

Zimmermann: Ja, das ist immer schwierig. Wenn man detailliert über die verschiedenen Probleme erzählt, die bei einer Geburt auftreten können, macht das natürlich Angst. Darauf muss man bei einem Gespräch unbedingt achten.

Frage: Worauf sollte man bei der Ernährung am ehesten achten, wenn man schwanger ist?

Zimmermann: Nicht zu viel essen.

Frage: Also nicht für zwei essen?

Zimmermann: Nein, das sollte man nicht. Wer während der Schwangerschaft 20 Kilogramm zunimmt und nach der Stillzeit noch sieben Kilogramm zu viel hat, wird sie häufig nicht mehr los. Aber man sollte auch nicht übertrieben aufs Gewicht achten. Eine ausgewogene Ernährung ist das Wichtigste.

Frage: Gibt es Dinge, die man auf keinen Fall tun sollte?

Zimmermann: Sicher keinen Alkohol trinken.

Frage: Kaffee?

Zimmermann: Zwei bis drei Tassen sind kein Problem. Die meisten Schwangeren bekommen ohnehin eine Kaffee-Aversion.

Frage: Lassen Sie uns noch etwas über die Männer sprechen. Welche Rolle sehen Sie für die werdenden Väter bei der Geburt?

Zimmermann: Ich lehne den gesellschaftlichen Zwang ab, dass die Väter die Geburt miterleben sollen. Manche sind nachher traumatisiert. Auch bei den Frauen möchten sich nicht alle ihrem Partner in dieser Situation zeigen. Die werdenden Eltern müssen sich zusammen gut überlegen, wer dabei sein soll. Das darf auch eine Vertrauensperson sein. Und natürlich gibt es auch kulturelle oder religiöse Gründe, die dagegen sprechen, dass der Mann dabei ist. So wie bei uns früher auch.

Frage: Wie viele Geburten haben Sie eigentlich miterlebt?

Zimmermann: Das müssten etwa 80.000 gewesen sein. Auch wenn ich nicht bei jeder einzelnen dabei war: Durch Rapporte wusste ich als Klinikdirektor von allen Bescheid. Vor allem, wenn es Schwierigkeiten gab, sprachen wir länger darüber, auch damit das Team von der Erfahrung profitieren konnte.

Frage: Gibt es Geburten, die Ihnen geblieben sind?

Zimmermann: Natürlich, sowohl tragische als auch wunderschöne. Geblieben sind mir besonders solche, bei denen es das ganze Team brauchte, um zu einem guten Ende zu kommen. Die Frauen haben sich danach häufig auch extrem bedankt. Das hat uns als Team bei einer Geburt immer sehr gefreut.

Das Interview entstand für die Schweizer Zeitung „Tages-Anzeiger“. Durch eine Kooperation im Rahmen der Leading European Newspapers (LENA) erscheint es auch in WELT.

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