Wie der Extremsport Körper und Gehirn verändert
Es war ein großer Sieg, als die Griechen um 490 v. Chr. bei Marathon, an der Ostküste von Attika, die gefürchteten Perser schlugen. Dem Mythos zufolge rannte daraufhin der Bote Pheidippides 42 Kilometer ohne Rast bis nach Athen – der erste Marathon der Geschichte. Auf dem Areopag, dem großen Felsen im Zentrum Athens, angelangt, rief er mit letzter Kraft: „Wir haben gesiegt!“, und starb auf der Stelle.
Die allermeisten Marathonläufe enden heute weniger dramatisch, doch die Strapazen des Rennens sind legendär. Die Beine sind bleischwer, die Knie zwicken, der Muskelkater schmerzt: Viele Marathonläufer spüren Tage nach dem Rennen noch die Folgen. Manche Effekte könnten jedoch unbemerkt bleiben. So zeigte eine kürzlich im Fachblatt „Nature Metabolism“ veröffentlichte Studie überraschende Veränderungen im Gehirn von Marathon-Teilnehmern – und befeuert die alte Frage, wie gesund solche Extremleistungen für Hobby-Athleten eigentlich sind.
Ein Team um den Neurologen Carlos Matute von der Universität des Baskenlandes in Leioa untersuchte die Gehirne von zehn erfahrenen Hobby-Marathonläufern vor und innerhalb von 48 Stunden nach dem Rennen. Dafür wurden die acht Männer und zwei Frauen in einen Magnetresonanztomografen geschoben.
Dabei entdeckte die Forschungsgruppe Veränderungen in der weißen Substanz des Gehirns, welche die Fortsätze der Nervenzellen umgibt und Myelin genannt wird. Dieses ermöglicht eine schnelle und effiziente Weiterleitung von elektrischen Signalen im Nervensystem.
Direkt nach dem Marathon zeigte sich eine Abnahme der Myelinmenge bei den Studienteilnehmern um bis zu 28 Prozent in bestimmten Regionen des Gehirns. Und zwar in jenen, die eine Rolle spielen für die Kontrolle von Motorik und Koordination sowie für die sensorische und emotionale Verarbeitung.
Allerdings war der Großteil des Myelins nicht betroffen – und die Veränderungen waren zwei Monate nach dem Marathon nicht mehr nachweisbar. Auch wissen die Wissenschaftler nicht, ob sie Auswirkungen auf die neurophysiologischen und kognitiven Funktionen in diesen Regionen haben.
Schwund-Faktor Fettverbrennung
Sie haben aber eine Erklärung für den beobachteten Schwund: Myelin bestehe hauptsächlich aus Fett. Während einer Extrembelastung wie einem Marathon ist der Körper auf seine Energiereserven angewiesen. Dazu gehören in erster Linie die in den Muskeln gespeicherten Kohlenhydrate, später aber auch verstärkt Fett, wenn das Glykogen in den Muskeln aufgebraucht ist.
Unter extremen Stoffwechselbedingungen könnte das Myelin also als extra Energiereserve dienen. Heißt das nun, das Ausdauersport ungesund fürs Gehirn ist? Ganz im Gegenteil, aber es komme auf den Grad der Anstrengung an, meinen die Forscher. „Regelmäßige, mäßig intensive körperliche Aktivität ist ein Schlüsselfaktor für die Erhaltung der Gesundheit des Gehirns über die gesamte Lebensspanne.“
Dass Bewegung dem Gehirn und der Gesundheit grundsätzlich nützt, ist belegt. Unklarer ist die Forschungslage hingegen, wenn der Sport auf die Spitze getrieben wird – wie beim Marathon, Ultramarathon oder einem Triathlon in Ironman-Länge.
Eben solche Extremwettbewerbe liegen im Trend. Das zeigen etwa die Zieleinläufe beim Berliner Marathon, dem teilnehmerstärksten Rennen dieser Art in Deutschland: Waren es 2004 noch gut 28.000 Finisher, hat sich diese Zahl 20 Jahre später fast verdoppelt. In London überquerten dieses Jahr sogar über 56.000 Läufer die Ziellinie – ein Weltrekord.
Auch für noch längere Distanzen melden sich immer mehr Menschen an, wenn auch bei Weitem nicht in vergleichbaren Dimensionen. So berichtet die Zeitschrift „Runner’s World“, dass noch im Jahr 2000 gut 3.000 deutsche Läuferinnen und Läufer einen Ultra absolvierten. 2019 sei diese Zahl auf über 11.000 gestiegen, was aber immer noch einem Anteil der Ultraläufer an allen Läufern von gerade einmal 0,06 Prozent entspreche.
Das Nischen-Dasein solcher Distanzen zeigt sich auch in den verhältnismäßig wenigen Studien zum Thema. Schon 2009 allerdings nahm eine von dem Neurologen und Radiologen Wolfgang Freund von der Uniklinik Ulm geplante Untersuchung das Gehirn von Ultraläufern des 4487 Kilometer langen TransEurope-FootRace unter die Lupe.
Grenzen der körperlichen Anpassung
Im Fachblatt „BMC Sports Science, Medicine and Rehabilitation“ berichtete die Forschungsgruppe von vorübergehenden Veränderungen in der Gehirnstruktur. Konkret nahm das Volumen der grauen Substanz in mehreren Hirnregionen während des Rennens um bis zu 6,1 Prozent ab, darunter Areale für Sprach- und Raumverarbeitung. Nach acht Monaten hatten sich diese Veränderungen jedoch vollständig zurückgebildet.
Die Studie mit zwölf Läufern und einer Kontrollgruppe ergab zudem, dass es vor dem Start keine Unterschiede im Hirnvolumen zwischen Sportlern und Nicht-Sportlern gab. Die Forschenden vermuten, dass die zeitweiligen Veränderungen Teil eines Anpassungsprozesses sind, bei dem das Gehirn energieintensive Netzwerke im Zustand des körperlichen Extremstresses gezielt herunterreguliert. Chronische Schäden durch langjähriges Training wurden nicht beobachtet.
Breiter beleuchtet eine Übersichtsarbeit in „Frontiers in Physiology“ die physiologischen Anpassungen und potenziellen Risiken des Ultramarathonlaufs. Beat Knechtle von der Universität Zürich und selbst Ultrasportler sowie der griechische Physiologe Pantelis Nikolaidis analysierten darin, wie extreme Langzeitbelastungen verschiedene Körpersysteme beeinflussen – von Muskeln und Herz bis hin zu Nieren und Immunsystem. Dabei wurde deutlich, dass der Körper zwar bemerkenswerte Anpassungsmechanismen besitzt, jedoch auch an Grenzen stoßen kann.
Besonders auffällig ist die Belastung des Bewegungsapparats: Ultraläufer sind der Arbeit zufolge einem erhöhten Risiko für Muskel- und Sehnenverletzungen ausgesetzt, da die kontinuierliche Beanspruchung zu Mikrotraumata führen kann. Zudem zeigten Studien, dass die Nierenfunktion während solcher Extrembelastungen vorübergehend eingeschränkt sein kann, was sich in erhöhten Biomarkern für Nierenschäden äußert. Diese Veränderungen sind meist reversibel, können jedoch bei unzureichender Regeneration problematisch werden.
Auch das Immunsystem reagiert auf die extreme Belastung: Nach Ultramarathons ist häufig eine vorübergehende Immunsuppression zu beobachten, die das Risiko für Infektionen erhöht.
Raten die Autoren basierend auf ihren Ergebnissen also vom Ultramarathon ab? So eindeutig ist das nicht. Vielmehr schreiben sie: „Zweifellos hat die Absolvierung eines Ultramarathons keine unmittelbaren gesundheitlichen Vorteile.“ Die meisten Schäden seien aber in der Regel reversibel. Und: Im Hinblick auf die Länge der Telomere – schützende Endstücke der Chromosomen, deren Verkürzung mit dem biologischen Altern in Verbindung steht – könnte das Training für Ultramarathons bei Ausdauersportlern positiv wirken. „Insbesondere regelmäßiges Ausdauertraining scheint eine schützende Wirkung auf die Telomerlänge zu haben und sollte den Alterungsprozess verlangsamen“, schließen die beiden Autoren.
Jungbrunnen Ausdauersport
Die Erkenntnisse stützen, was viele Sportmediziner betonen: Ein durchdachtes Training für einen Ultra oder Marathon kann gesund sein – das Rennen selbst ist für den Körper jedoch extremer Stress, vor allem, wenn in den Monaten davor nicht die entsprechenden Grundlagen gelegt wurden.
Vorfälle wie Herzinfarkte während solcher Wettkämpfe machen immer wieder Schlagzeilen. Erst kürzlich erschien dazu eine Studie im Fachblatt „JAMA“, die Daten von über 29 Millionen Marathon- und Halbmarathonläufern in den USA zwischen 2010 und 2023 analysierte.
Diese stellte fest, dass die Häufigkeit von Herzstillständen während dieser Rennen mit 0,60 Fällen pro 100.000 Teilnehmern relativ konstant blieb. Erfreulicherweise wurde auch beobachtet, dass die Sterblichkeitsrate bei solchen Vorfällen deutlich sank: von 71 Prozent in den Jahren 2000 bis 2009 auf 34 Prozent im Zeitraum 2010 bis 2023. Diesen Rückgang führen die Autoren vor allem auf eine verbesserte Notfallversorgung zurück, Ergebnis eines veränderten Bewusstseins bei den Veranstaltern extrem langer Läufe.
Extrem muss sich nicht immer auf Distanz oder Dauer beziehen: Manche Sportlerinnen und Sportler zeigen eine außergewöhnliche Leistungsfähigkeit bis ins hohe Alter, was sie für die Forschung besonders spannend macht. Könnte man verstehen, was diese Menschen so lange aktiv hält, ließen sich daraus womöglich Erkenntnisse für ein gesundes Altern ableiten.
Ein Beispiel ist der frühere australische Marathon-Profi Derek Clayton. Der heute 82-Jährige lief 1967 in Fukuoka als erster Mensch einen Marathon unter 2:10 Stunden. Bemerkenswert ist auch, wie aktiv er im Alter blieb: In einer 2024 veröffentlichten Studie im „Journal of Applied Physiology“ berichten Forscher, dass Clayton in seiner aktiven Zeit bis zu 480 Kilometer pro Woche trainierte. Selbst mit 77 Jahren absolvierte er noch 10 bis 15 Stunden Ausdauersport pro Woche.
Ein Glücksfall für die Wissenschaft: Über 50 Jahre hinweg wurden Daten zu Claytons Fitness erfasst. Auffällig: Seine VO₂max – die maximale Sauerstoffaufnahme – blieb von 27 bis 49 Jahren nahezu konstant. Mit 77 lag sie noch 240 Prozent über dem Durchschnitt seiner Altersgruppe.
Zudem sank seine maximale Herzfrequenz zwar altersbedingt um 22 Schläge pro Minute. Sein Herzzeitvolumen beim Radfahren entsprach aber dem eines gesunden 23-Jährigen.
Gleichzeitig trat in den Fitness-Tests Vorhofflimmern bei Clayton auf. Dies ist eine Herzrhythmusstörung, die behandelt werden musste. Tatsächlich zeigen Studien, etwa im „European Heart Journal“, dass Ausdauersportler durch vergrößerte Vorhöfe ein leicht erhöhtes Risiko dafür haben können. Dennoch profitieren sie insgesamt von einem gesünderen Herz-Kreislauf-System und einer geringeren Sterblichkeit.
Wenn es um gesundes Altern geht, scheint es also zentral, ein optimales Maß an Bewegung zwischen den Extremen zu finden – und überhaupt in Bewegung zu bleiben. Denn auch bei Clayton zeigte sich ein altersbedingter Rückgang bestimmter Faktoren wie eben der maximalen Herzfrequenz. Und dennoch erzielte er auch als Senior außergewöhnliche Werte. Nicht nur aufgrund genetischen Glücks, sondern auch als Ergebnis lebenslangen Trainings.
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