„Kinder, die in der 9. Klasse nicht mal einen Volleyball fangen können“
Es wurde dann sogar noch der ganz große Bogen geschlagen. Deutschland sei „gesamtgesellschaftlich gerade in einer relativ komplizierten Situation“, stellte Jörg Zwirn fest: „Unsere freundliche, weltoffene Demokratie wird an ein paar Stellen bedroht. Und deshalb empfinden wir es als sehr positives Signal zu zeigen, dass Berlin weltoffen ist, dass Berlin demokratisch ist. Und dass wir in der Lage sind, so eine große Veranstaltung zusammen zu bewältigen.“
Zwirn war als Geschäftsführer von Pfeffersport e.V., einem 5500 Mitglieder starken Berliner Sportverein, am Montag ins Marshall-Haus der Messe Berlin gekommen. Gemeinsam mit Christopher Krähnert, dem Präsidenten der Deutschen Olympischen Gesellschaft (DOG) Berlin, ehemaligen deutschen Spitzensportlern und weiteren Unterstützern machte der Breitensportler als Teil der Initiative „Wir... für Berlin“ am Tag vor der offiziellen Verkündung Werbung für Olympische Spiele in Berlin. Die deutsche Hauptstadt will am Dienstag um 14 Uhr den Startschuss geben, um beim Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) als nationaler Bewerber ausgewählt zu werden.
Gemeinsam mit Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und auch Schleswig-Holstein, das als Segelstandort für alle möglichen deutschen Bewerbungen bereitsteht, sollen erstmals seit den Sommerspielen 1972 in München Olympia und Paralympics nach Deutschland geholt werden.
Sanierungsstau von 400 Millionen Euro in Berlin
Die stärkende Wirkung des Mega-Events auf Demokratie und Freiheit war eins der vielen Pro-Argumente, die die Botschafter bei dem 60-minütigen Termin mit dem Füllhorn ausschütteten. Olympia erschaffe Vorbilder, werde die Infrastruktur verbessern, für mehr Barrierefreiheit – nicht nur bei den Sportstätten – sorgen, Inklusivität fördern, Gemeinschaft schaffen und den auf 400 Millionen Euro bezifferten Sanierungsstau von Sportanlagen mindern, um mehr Menschen den Zugang zu Bewegung und Fitness zu geben.
„Wir haben tausende Kinder auf Wartelisten“, klagte Zwirn bevor Patrick Hausding, dreimaliger Olympiamedaillengewinner im Wasserspringen und Fahnenträger in Tokio 2021, Alarmierendes aus seinem neuen Leben als Sportlehrer berichtete: „Wir haben Kinder, die in der 9. Klasse nicht mal einen Volleyball fangen können. Es geht zurück in der Sportlichkeit – und rauf mit dem Gewicht.“
Olympia aber mache fit und gesund, die Menschen, die Stadt und das ganze Land – so der hoffnungsvolle Tenor. Der Sport werde durch die Signalwirkung Olympischer Spiele wieder mehr in den Fokus der Gesellschaft rücken. So sieht und fordert es auch Ronald Rauhe: „Uns sollte allen bewusst sein, dass wir jetzt eine Riesenchance in den Händen halten. Wir haben hier in Berlin die Möglichkeit, Gemeinschaft zu bilden“, sagte der Kanu-Olympiasieger von 2004 und 2021. „Und ich rede nicht nur von Sport, ich rede von kulturellen Möglichkeiten, von geschichtlichen Möglichkeiten, wie sie keine Stadt hat. Das ist etwas, das über den Sport hinaus wirkt – und das ist die Geschichte, die wir erzählen müssen. Berlin kann eine Geschichte erzählen, die wieder verbindet.“
Nein, an guten Gründen für Olympische und Paralympische Spiele in Deutschland und speziell in Berlin mangelt es nicht. Doch die Frage, ob und inwieweit die Argumente diesmal auch vermittelt werden können und von einer breiten gesellschaftlichen Mehrheit geteilt werden, muss erst noch beantwortet werden. Zu lang ist die Liste an gescheiterten Versuchen in der Vergangenheit.
„Es ist wie beim Weitsprung – man hat auch mal einen ungültigen Versuch. Aber dann kommt der nächste Versuch – und der ist vielleicht gültig. Und wenn das eine richtig tolle Weite ist, macht das etwas mit dir“, verglich Heike Drechsler die Bewerbungsverfahren der vergangenen 25 Jahre mit einem Wettkampf ihres Sports, in dem sie 1992 und 2000 Olympiasiegerin geworden war.
Die letzten deutschen Bewerbungen um Sommerspiele erzählen eine Geschichte des Scheiterns:
- Berlin 2000: Große Hoffnungen verbanden sich mit der Bewerbung eines wiedervereinigten Deutschlands. Doch nach einer verkorksten Kampagne und mit nur mauer Unterstützung aus der Politik scheiterte Berlin im zweiten Wahlgang krachend.
- Leipzig 2012: In der innerdeutschen Vorauswahl setzte sich Leipzig noch durch, aber das IOC ließ die deutsche Bewerbung nicht einmal für die Finalrunde zu. London bekam die Spiele, während der DOSB seinen Scherbenhaufen zusammenkehrte.
- Hamburg 2024: Eine Bürgerbefragung stoppte die olympischen Pläne von Politik und Sport. 51,6 Prozent der Bevölkerung lehnten im Referendum eine Hamburger Bewerbung ab. Paris, das schon einige vergebliche Anläufe hinter sich hatte, wurde schließlich vom IOC ausgewählt und erlebte im vergangenen Jahr traumhafte Spiele.
- Rhein-Ruhr 2032: Die deutschen Sportspitzen und die NRW-Initiative rangen noch um Eckpunkte einer Bewerbung, da erklärte das IOC schon offiziell Brisbane zum Favoriten. Wenig später erhielt die australische Metropole im Juli 2021 dann auch endgültig den Zuschlag.
Olympische Spiele 2036, 2040 oder 2044
Auch diesmal setzte es bereits Kritik, ehe der Startschuss überhaupt abgegeben werden konnte. Am vergangenen Freitag sah sich der Berliner Senat dem Furor der Opposition gegenüber. „Es ist mit gesundem Menschenverstand nicht zu erklären, dass in Berlin derzeit 55 Sporthallen wegen baulicher Mängel gesperrt sind und der Senat seine Millionen lieber in eine Olympiabewerbung steckt“, sagte die sportpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion, Klara Schedlich, dem „Tagesspiegel“. Tobias Schulze, Vorsitzender der Linksfraktion, warf der Regierung vor, das Abgeordnetenhaus zu ignorieren.
Tatsächlich aber handelt es sich bei den Investitionen nicht um ein „Entweder-oder“, also die Frage, ob in Olympische Spiele in Berlin oder etwa die Sporthallen der Hauptstadt investiert werden soll. Vergangene Großveranstaltungen wie zuletzt auch die Spiele von Paris 2024 haben gezeigt, dass es zahlreiche Synergieeffekte geben kann. Olympische Spiele sollen kein Selbstzweck sein.
Allerdings wird die Großveranstaltung auch nicht das Allheilmittel und Universalwerkzeug sein, als dass es zum Start der Bewerbung beschrieben wird. Olympische Spiele können viele nachhaltig positive Effekte für die Stadt, das Land und seine Menschen haben – wenn man denn gewillt ist, den Preis dafür zu bezahlen.
Eine Grundlagendiskussion, die nun geführt werden muss. Auch wenn noch gar nicht feststeht, für welches Jahr die Bewerbung mit dem Titel „Berlin+“ am Ende sein würde. Der DOSB will dies abhängig von den Entscheidungen des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) machen. Infrage kommen 2036, 2040 sowie 2044.
Letztlich werden die Themen aber überall die gleichen sein, unabhängig davon, welche deutsche Stadt oder Region für eine nationale Bewerbung auserkoren wird. Nordrhein-Westfalen will am Mittwoch seine Pläne für Spiele an Rhein und Ruhr vorstellen. Hamburg wird mit seiner Präsentation in der kommenden Woche folgen. München will sich ebenfalls bewerben. Dort dürfen die Bürger und Bürgerinnen am 26. Oktober über die Olympia-Pläne abstimmen.
Die Bewerber müssen beim DOSB im Rahmen eines sogenannten Drei-Stufen-Modells zunächst bis Ende Mai verfeinerte Konzepte einreichen. Diese werden bis Ende September 2025 auf die Erfüllung der Mindestanforderungen und die entsprechende Plausibilität geprüft. Alle Konzepte, die diese Prüfung bestehen, werden bei der Mitgliederversammlung Ende dieses Jahres vorgestellt. Entschieden werden soll dann aber noch nichts. Die finale Entscheidung über ein deutsches Bewerbungskonzept soll spätestens bis Herbst 2026 getroffen werden.
Berlin fühlt sich, ganz dem eigenen Anspruch der Hauptstadt folgend, in der Führungsrolle. „Wir brennen für die Spiele. Und wenn man brennt, kann man ein Feuer entfachen“, sagt DOG-Landeschef Krähnert. Vielleicht sollte man diesmal aber besser darauf achten, dass es nicht von anderen schnell wieder gelöscht wird. Auf die Fragen, ob man aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt habe und was besser als bei den vergangenen Bewerbungen gemacht werden müsse, gab es vor allem Ratlosigkeit. Bei der Beantwortung sind am Ende alle Befürworter gefragt: Politik, DOSB, Initiativen, Einzelpersonen. „Mit all denen, die zweifeln, wollen wir in Dialog kommen“, sagte Krähnert, „die Diskussion fördern.“ Diese Auseinandersetzung suchen und fördern – das wird elementar sein. Am Ende wird es auch um Transparenz gehen, darum, die Gegenargumente ernst zu nehmen
Wenn Lutz Wöckener nicht gerade irgendeinen Sport im Selbstversuch ausprobiert, schreibt er über Darts und Sportpolitik, manchmal aber auch Abseitiges wie Fußball.
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