„Auf meinem Sterbebett werde ich an Bayer Leverkusen denken“
Es war eine bewegte Woche bei Bayer Leverkusen. Am Freitag verkündete Meistertrainer Xabi Alonso, dass er am Saisonende den Verein verlassen wird. Wohin er geht, wollte er nicht sagen. Es läuft aber mit sehr großer Wahrscheinlichkeit darauf hinaus, dass er Trainer bei seinem alten Klub Real Madrid wird und Carlo Ancelotti ablöst.
Gleichzeitig bereiten sie sich bei Bayer darauf vor, den scheidenden Spielern am Sonntag einen würdevollen Abschied beim letzten Heimspiel der Saison gegen Borussia Dortmund (15.30 Uhr, im Sport-Ticker der WELT) zu bereiten. Einer von ihnen ist Abwehrchef Jonathan Tah. Der 29 Jahre alte Nationalspieler hat seinen Vertrag bei der Werkself nicht verlängert, er wechselt ablösefrei.
Frage: Herr Tah, mit welchen Gefühlen gehen Sie in Ihr letztes Heimspiel nach zehn Jahren Leverkusen?
Jonathan Tah: Die Fans, der Verein und die Spieler haben mir oft genug gezeigt und gesagt, dass sie mich wertschätzen, deswegen habe ich für das Spiel keine speziellen Erwartungen. Ich freue mich natürlich darauf und weiß, dass es für mich eine besondere Atmosphäre wird.
Frage: Werden Tränen fließen?
Tah: Ich kann es mir vorstellen, in letzter Zeit gab es immer wieder emotionale Momente.
Frage: Auf den Fluren der BayArena sind Sie auf mehreren großen Bildern mit Pokal und Meisterschale zu sehen. Was war für Sie der prägendste Moment?
Tah: Der Abpfiff gegen Bremen (Leverkusen wurde durch das 5:0 am 14. April 2024 Meister, die Redaktion). Als alle aufs Feld gelaufen sind, war ich kurz wie in Trance. Für zehn Sekunden habe ich nichts mehr um mich herum wahrgenommen. Es war still. Als hätte jemand die Stopp-Taste gedrückt. Und auf einmal war es dann wieder laut und ich habe mitgefeiert. Den Moment werde ich nie vergessen.
Frage: Welche Erinnerungen haben Sie an diesen Trance-Zustand?
Tah: Es gibt ein Foto, auf dem man sieht, wie ich mir das Trikot über den Kopf gezogen habe. Dann kamen mir die Tränen. Ich konnte es in diesem Moment nicht realisieren. Mein Gefühl war: Wir haben es geschafft! Das war das, was mir in den Kopf kam. Und dann liefen viele Bilder vom ganzen Weg an mir vorbei, den wir gemeinsam als Mannschaft gegangen sind.
Frage: Wie sehr schmerzt Sie noch das Aus im Pokal-Halbfinale gegen Bielefeld?
Tah: Brutal. In zehn Jahren gab es natürlich auch andere Enttäuschungen. Aber ich würde sagen: vom Anspruch und der Leistung her war das Spiel auf der Alm auf jeden Fall die größte Enttäuschung.
Frage: Das Spiel gegen den BVB hat nicht nur für Sie, sondern auch für Bayer 04 eine große Bedeutung. Leverkusen kann Dortmund die Qualifikation zur Champions League versauen und würde die Rolle als erster Bayern-Jäger womöglich auf Jahre zementieren.
Tah: Es ist absolut wichtig, dass wir das Spiel mit hundertprozentiger Ernsthaftigkeit angehen. Wir wollen unbedingt gewinnen – das hat man im Training und in der Kabine gespürt. Wir wollen unseren Job machen, das steht absolut im Vordergrund. Aber ja – es wäre schön für mich, wenn wir das Spiel positiv gestalten und ich mich mit einem Sieg verabschieden könnte.
Frage: Sie sind ablösefrei. Wann werden Sie Ihren neuen Verein bekannt geben?
Tah: Es wird zeitnah eine Entscheidung von mir geben. Ich will mir kein Datum setzen. Fakt ist, dass es nicht in zwei Monaten sein wird.
Frage: Sie könnten zum FC Bayern gehen, nach Barcelona oder zu Real Madrid mit Xabi Alonso. Wie sehr reizt Sie das Ausland?
Tah: Wenn du irgendwo hingehst, wo du die Sprache vielleicht nicht kannst, fordert dich das noch einmal besonders. Auch in meiner Rolle, die ich natürlich in einer Mannschaft haben möchte. Das würde mir viel abverlangen, um mich irgendwo einzubringen. Deswegen reizt mich das Ausland auf jeden Fall.
Frage: Der FC Barcelona hat zurzeit Probleme bei der Registrierung von Spielern. Beeinflusst Sie das?
Tah: Darauf habe ich keinen Einfluss. Ich kann nur für mich meine Entscheidung treffen und alles andere müssten andere Leute machen.
Frage: Nach dem EM-Urlaub 2024 wollten Sie zum FC Bayern. Der Wechsel scheiterte. Sie mussten in Leverkusen bleiben. Wie haben Sie diese Wochen empfunden?
Tah: Die Zeit war hart, weil es gefühlt um nichts anderes mehr ging. Es wurde viel geredet, diskutiert und trotzdem war ich bei Bayer 04. Der Austausch mit Xabi war total positiv. Ich habe ihm gesagt: ,Ich bin hier im Training, die Spiele fangen an, du brauchst dir keine Sorgen zu machen.‘ Und er sagte zu mir: ,Jona, ich zähle auf dich und ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann.‘ So ist auch der Klub damit umgegangen. Die Zeit war wild, aber trotzdem haben wir unseren Weg gefunden.
Frage: Trotz dieser Enttäuschung waren Sie der konstanteste Leverkusener Spieler der Saison.
Tah: Danke für das Lob. Ich wusste ja auch nicht, wie es wird. Aber ich wusste, dass ich bereit bin. Und das hatte wieder mit meiner Haltung zu tun. Wie schon gesagt: Ich gehe nicht in die Opferrolle, sondern nehme die Situation so an, wie sie kommt. Es ist alles perfekt, wie es jetzt ist. Mit 23 wäre es für mich deutlich schwerer gewesen, damit umzugehen und trotzdem weiterhin so fokussiert zu bleiben.
Frage: Wie würden Sie generell Ihre Entwicklung vom Talent zum Abwehrchef der Nationalelf in diesen zehn Jahren beschreiben?
Tah: Es gab viele Höhen, viele Tiefen, das gehört dazu. Enorm wichtig war für mich die Phase, in der ich wenig gespielt habe: in der zweiten Saison unter Peter Bosz. Im Januar 2020 kam Edmond Tapsoba, heute einer meiner engsten Freunde, der hat dann immer gespielt für mich. Die Situation kannte ich nicht, aber es hat mir extrem geholfen für alles, was danach kam.
Frage: Was meinen Sie genau?
Tah: Diese sportliche Leidensphase dauerte vier, fünf Monate. Ich habe in der Saison trotzdem 25 Liga-Spiele gemacht, aber es hat sich für mich viel schlimmer angefühlt. Dennoch habe ich nicht aufgegeben. Ich habe mir immer gesagt: Ich werde wieder auf dem Platz stehen, wieder von Anfang an spielen und bereit sein. Ich habe gelernt, wie viel die eigene Haltung ausmacht. Du kannst natürlich in eine Opferrolle gehen und sagen: ,Der Trainer ist blöd.‘ Oder du nimmst solche Herausforderungen an und gehst damit so positiv wie möglich um. Die schwierige Zeit hat mich in der Form geprägt, noch mehr für mich selbst zu tun, noch professioneller zu werden, noch härter an mir zu arbeiten.
Frage: Welcher Trainer war Ihr größter Förderer?
Tah: Roger Schmidt hat mir sehr geholfen und großes Vertrauen geschenkt. Ich habe in meiner ersten Saison in Leverkusen jedes Spiel gespielt. Roger hatte keine Zweifel und mich ins kalte Wasser geworfen. Dann kam irgendwann der Punkt unter Gerardo Seoane, nach dem Abschied von Lars und Sven Bender, an dem ich dran war, mehr Führungsaufgaben zu übernehmen. Gerardo hatte das erkannt und mich in persönlichen Gesprächen gepusht. Gefühlt war ich dadurch vorbereitet für die Zeit mit Xabi Alonso. Wenn ich einen Trainer herausheben müsste, dann natürlich Xabi – weil er noch mal das letzte Quäntchen draufgepackt hat, dass ich dieses Niveau erreichen konnte, das ich jetzt habe.
Frage: In einem Satz: Was bedeutet Bayer Leverkusen für Sie?
Tah: Ein Satz? Das ist wirklich hart. Weil es sehr viel für mich bedeutet. Ich würde sagen: Der Verein ist mein Zuhause! Ich habe den größten Teil meines Erwachsenenlebens hier verbracht. Ich bin jeden Tag hierher zum Training gefahren. Ich habe mich zu dem Mann entwickelt, der ich heute bin. Sicherlich werde ich mich auch noch weiterentwickeln. Aber diese Phase ist sehr wichtig gewesen in meinem Leben und wird immer wichtig sein. Deswegen ist Bayer 04 mein Zuhause – und ich werde es, wenn ich hier weg bin, nie vergessen. Egal, wo ich sein werde, egal, wie alt ich irgendwann bin. Wenn ich irgendwann im Sterbebett liege, werde ich trotzdem an Leverkusen und an die Zeit hier denken.
Frage: Warum ist es für Sie nun so wichtig, aus diesem „Zuhause“ auszuziehen?
Tah: Es geht für mich darum, jetzt die persönliche Komfortzone zu verlassen, um noch mehr zu wachsen. Ich liebe Wachstum. Ich liebe es, mich weiterzuentwickeln, neue Erfahrungen in einem neuen Umfeld zu sammeln. Ich glaube einfach, dass ich noch mehr aus mir herausholen kann. Mit dem Talent, das ich bekommen habe, will ich der beste Spieler werden, der ich sein kann. Das ist mein Ziel.
Das Interview wurde für das Sport-Kompetenzcenter (WELT, „Bild“, „Sport Bild“) erstellt und zuerst in der „Bild am Sonntag“ veröffentlicht.
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