Ab Kilometer 14 laufe ich in die Schmerzen, ab Kilometer 20 ist es die pure Qual
Auch die zweite Bettdecke hilft nichts. Ich friere am ganzen Körper. Erst als ich eine Jacke über mein T-Shirt streife und mich wieder unter die Decken verkrieche, wird es kurz besser. Wenig später muss ich die Jacke jedoch wieder ausziehen. Ich habe Hitzewallungen. So fühlt es sich also an, wenn der Körper der Anstrengung Tribut zollt.
Wie ich in diese Situation geraten bin? Indem eine Schnapsidee zur Realität wurde. Rund zehn Stunden vor meinem Bett-Fiasko sitze ich auf einer Bierbank und schaue ein letztes Mal vor dem Start meines Vorhabens in die Komoot-App, die zur Navigation dient. „Schwere Wanderung. Sehr gute Kondition erforderlich“, steht dort in der Streckenbeschreibung geschrieben. Es ist alles, worauf ich nicht vorbereitet bin.
Bislang habe ich um sportliche Betätigungen wie Wandern oder Joggen nicht nur einen Bogen gemacht. Ich habe es verabscheut. Um beim Sport Spaß zu haben, braucht es für mich einen Ball. Ich würde mich etwa selbst als passablen Volleyball- oder Tennisspieler bezeichnen, habe selbst zwölf Jahre Fußball im Verein gespielt. Schon da war ich nicht unbedingt für meine läuferische Stärke bekannt. Und jetzt sollen es direkt 30 Kilometer am Stück sein?
Ich weiß, dass 30 Kilometer nicht nach viel klingt. Ein absolvierter Marathon gehört ja fast schon zum gesellschaftlichen Common Sense. An diesem Samstag wandern hunderte Menschen 42 oder 55 Kilometer, die beiden Distanzen, die neben den 30 noch angeboten werden. Mein Kollege Lutz Wöckener hat vor drei Jahren sogar die Königsdisziplin, die 100 Kilometer, überwunden. Für mich aber ist die kleinste aller Mammutmarsch-Distanzen angesichts meiner Unfitness schon die größtmögliche Challenge. Der Ausgang sollte mir recht geben.
In den Tagen zuvor habe ich durchaus Zweifel. Ich überlasse zwar, was die Ausrüstung angeht, nichts dem Zufall, habe mir extra einen leichten Laufrucksack mit Trinkblase zugelegt und neue Wanderschuhe eingelaufen. Das war es aber auch schon mit der Vorbereitung. Ich habe keinen einzigen Trainingskilometer in den Beinen, stattdessen einige Kilo zu viel auf den Hüften. Mir ist bewusst, dass ich leiden werde. Auch wenn ich meiner Erinnerung zufolge nicht ganz nüchtern war, als ich der Teilnahme zugestimmt habe, reizt mich doch der Gedanke, mir selbst etwas zu beweisen. Und meinem Umfeld.
Der Einheizer am Start erlaubt sich noch einen kleinen Spaß. Er lässt die Menge zum Warm-up um die eigene Achse drehen. Für wen das schon eine Herausforderung darstelle, sagt er, dem wünsche er viel Glück. Ich verzichte auf die Pirouetten. Das Glück aber werde ich brauchen, denke ich mir.
Wandern lebt von der Beobachtung seiner Umgebung
Die ersten Kilometer vergehen erst einmal wie im Flug. Die Strecke führt zumeist am Wasser entlang – und da ich mich kurz nach dem Start logischerweise noch frisch fühle, bleibt Zeit, sich jene Ecken Berlins anzuschauen, die viel schöner sind als der Ruf, der der Hauptstadt vorauseilt. Wandern, so lerne ich schnell, lebt davon, seine Umgebung genauer wahrzunehmen als im Alltag.
Faszinierend ist etwa, dass sich vom Spreeufer am Schloss Charlottenburg die Fangesänge aus dem Olympiastadion vernehmen lassen. Hertha BSC trägt parallel sein Heimspiel gegen Dynamo Dresden aus. Die Stimmung muss grandios sein, auch wenn das Stadion Luftlinie fast vier Kilometer von meinem Standort entfernt liegt.
Rund zwei Stunden und zehn Minuten sind wir zu diesem Zeitpunkt gelaufen. Den ersten Verpflegungspunkt hat meine Gruppe, wir sind insgesamt zu sechst unterwegs, längst ohne größere Beachtung links liegen gelassen. Kilometer schrubben ohne Pause, lautet die Taktik für die Anfangsphase. Bis auf eine kurze Klo-Pause geht sie bis dato auf.
Kurzer Einschub dazu: Auf unserem Weg liegt durch Zufall an der Ecke eines kleinen Parks ein Toilettenhäuschen. Eigentlich der Jackpot, umgehe ich doch so die vom Veranstalter gestellten und von mir eher ungeliebten Dixi-Klos. Ein Irrglaube. Hinter der einen Tür, die zu den Kabinen führt, stören wir zwei Männer beim Konsum unerlaubter Substanzen. Hinter der anderen Tür verbirgt sich eine mit Urin vollgelaufene Pinkelrinne. Es riecht entsprechend beißend. Bei allen schönen Flecken, die viel zu selten hervorgehoben werden: Berlin ist dann eben doch auch Berlin.
Ab dem zweiten Verpflegungspunkt (Kilometer zwölf), bei dem ich mich mit einem Mortadella-Brot, ein paar Apfel-Stücken und Schokoriegeln ausstatte, weiß ich, was mein Problem werden wird. Es ist die linke Seite meines Unterkörpers. In diesem Fall genauer die Leiste, die sich durch ein Zwicken ankündigt.
In den nächsten Minuten, es kann höchstens eine halbe Stunde gewesen sein, strahlt dieses kleine Zwicken überallhin ab – in die Wade, den Fußballen, das Knie. Noch nicht einmal die Hälfte ist geschafft – und die Aussicht auf Besserung angesichts der bevorstehenden Strecke gleich null. Die Zweifel sind angesichts des Schmerzcocktails zurück.
Helene Fischer sorgt für neue Motivation
Ab Kilometer 14 laufe ich mit jedem Schritt in die Schmerzen hinein. Immerhin passieren wir eine Gruppe gut gelaunter Schlager-Fans. „Atemlos durch die Nacht“, dröhnt es aus der Box. Helene-Fischer-Hits: genau die Musik, die ich als Motivation brauche. Ich juble der Gruppe kurz zu. Kurz danach läuft „Der Himmel brennt“ von Wolfgang Petry. Nein, meine Füße brennen.
Als wir außer Hörweite sind, fällt mir ein ganz entscheidender Unterschied auf. Die Kilometer verrinnen plötzlich viel langsamer als in den ersten beiden Stunden. Ich beginne, die Streckenplaner zu verfluchen. Die zahlreichen Abbiegungen durch den Tiergarten kommen mir unendlich vor. Ich fühle mich gefangen zwischen Schmerzen und langweiliger Park-Monotonie. Und wer hat überhaupt diese Treppen zwischendurch eingebaut?
Ich habe mich schon im Vorfeld gefragt, ob ich bei diesem Experiment irgendwann ans Aufgeben denken werde. Und wenn ja, wann? Jetzt kann ich die Frage beantworten. Wäre ich allein unterwegs gewesen, wäre ich vermutlich am dritten Verpflegungspunkt bei Kilometer 20,4 ausgestiegen. Die Schmerzen sind unlängst auch im rechten Bein angekommen, ganz rund sieht mein Gang auch nicht mehr aus. Allein hätte ich wohl die Reißleine gezogen, hätte mein Scheitern mit mir selbst ausgemacht. In der Gruppe aber hätte ich mir meine Niederlage vor fünf Mitstreitern eingestehen müssen. Ich entscheide mich für die andere Option: Qual.
Eine meiner Begleiterinnen, die gerade erst einen Wander-Urlaub hinter sich hat, hat unverschämt gute Laune. Mein Fluchen richtet sich nun gegen sie. Dennoch motiviert sie mich. Auch sie merkt, dass ich nicht mehr so gute Laune habe wie zu Beginn. In unregelmäßigen Abständen lässt sie mich die gelaufene Distanz schätzen. Am Anfang treffe ich noch ziemlich genau, irgendwann liege ich meistens um hundert oder 200 Meter über der tatsächlich gelaufenen Strecke. Meine Tipps drücken die leise Hoffnung aus, doch schon weiter zu sein.
Jede rote Ampel wird ab sofort zu einem kleinen Rettungsanker. Kurz am Straßenschild oder der Laterne festhalten. Die Beine abwechselnd kurz entlasten. Hoffen, dass die Rot-Phase möglichst lange andauert. Weiterwackeln. Zu allem Überfluss fängt es jetzt auch noch an zu regnen. Ich habe bewusst auf eine Regenjacke verzichtet. Der einfache Grund: Ich besitze schlicht keine und war zu geizig, mir für den vermutlich einmaligen Gebrauch eine zuzulegen. Zum Glück verharrt der Regen auf der Stufe des Nieselns, die Temperaturen sind mit herbstlich milden 15 Grad ohnehin angenehm.
Zwei Frauen passieren mich. „Meine Füße freuen sich, die Couch zu sehen“, sagt die eine von ihnen zu ihrer Mitstreiterin. Selten habe ich mich in den Worten einer fremden Person so gut wiedergefunden. Mittlerweile sind die Muskeln unterhalb der Hüfte bretthart.
Bis fünf Kilometer vorm Ziel geht die Nicht-Sitzen-Taktik auf
Ich weiß aus den paar Mammutmarsch-Video, die ich im Vorfeld gesehen habe, dass Sitzen der Killer ist. Sich danach noch einmal aufzuraffen, soll praktisch unmöglich sein. Und doch wünsche ich mir sehnlichst, die Belastung von meinen Füßen zu nehmen. Bis fünf Kilometer vor dem Ziel geht die Nicht-Sitzen-Taktik auf. Dann aber ist eine zum Hocker umgebaute Cola-Kiste zu verlockend. Ich lasse mich vor dem Späti, in dem wir uns mit einem letzten Getränk vor dem Ziel versorgen, nieder. Zum Glück dauert es nur wenige Augenblicke, bis alle bezahlt haben und es weitergeht. Die Pause wird mir nicht zum Verhängnis.
Im letzten Waldstück vor dem Ziel mache ich für ein paar hundert Meter mein eigenes Ding. Ich setze mich ein wenig von den anderen ab und schaue stumpf auf den Boden. Die Umgebung nehme ich kaum noch wahr. Es geht nur darum, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Den Point of no Return, an dem sich Aufgeben nicht mehr lohnt, weil der Fußweg zur nächsten Bahnstation nach Hause genauso weit wäre wie der Weg ins Ziel, habe ich längst überschritten.
Aus der Ferne sind Musik und laute Stimmen zu vernehmen. Beides nährt die Hoffnung, das Ziel erreicht zu haben. Einmal um die nächste Ecke abgebogen, zerschlägt sie sich wieder. Es sind zwei Unbekannte, die mit einem Megafon jeden Einzelnen für die letzten Meter anfeuern. Nett, aber doch etwas übermotiviert, denke ich mir.
Wenig später gibt es dann keine Zweifel mehr. Die Lichter sind zu grell, als dass sie einen anderen Schluss zulassen. Endlich. Die Zielgerade kommt mir zwar noch einmal elendig lang vor. Ich überquere sie aber mit einem breiten Grinsen. Fünf Stunden, 58 Minuten und 17 Sekunden reine Bewegungszeit zeigt die Navigationsapp an, weit über 40.000 Schritte, mit Pausen bin ich etwas mehr als sechseinhalb Stunden unterwegs. Es ist mein persönlicher Bewegungsrekord.
Das Bier zur Belohnung schmeckt im Nieselregen der Dämmerung besonders gut. Auch wenn die 30 Kilometer für andere wohl ein Klacks sind. Ich bin stolz, sie untrainiert durchgehalten zu haben. Werde ich deshalb jetzt zum Wanderer oder Läufer? Definitiv nicht. Aber die Erfahrung, die mich aus der Komfortzone gelockt hat, war die Schmerzen wert.
Meine Mitläufer debattieren schon über die neue Herausforderung. Nächstes Jahr wollen sie sich steigern und die 42 Kilometer anvisieren. Ob ich mich noch mal mitquälen soll? Am Abend im Bett will ich gar nicht daran denken.
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