Hungrige Türken verschlimmern "500-jähriges Joch" sportlich
Die Türkei macht die eigene historische Schmach mit einem speziellen Sieg in der WM-Quali über Bulgarien vergessen. In einer Partie, an der nichts normal ist, sorgen die politische Geschichte und ein ehemaliger Revolutionär für zusätzlichen Zündstoff.
Bulgarien gegen die Türkei. Löwen gegen Halbmond. Das ist kein normales Fußballspiel. Dafür verbindet (oder trennt) die beiden Länder zu viel. Geschichte, Kriege, Kultur. Und eine 270 Kilometer lange Grenze. Umso mehr schmerzt Bulgarien am Samstagabend die 1:6 (1:1)-Klatsche gegen den ungeliebten Nachbarn in der WM-Qualifikation. Es ist eine geschichtsträchtige Pleite, denn es ist die erste Bulgariens jemals zuhause gegen die Türkei, die sich nach dem 0:6-Desaster gegen Spanien rehabilitiert. Doch nicht nur deswegen liegt im Wassil-Lewski-Stadion von Sofia, der großen Soviet-Salatschüssel mit Laufbahn, immer ein Hauch von Historie in der Luft. Dazu später mehr.
Die erste Hälfte geht mit 1:1 zu Ende, weil tapfer kämpfende Bulgaren den frühen Rückstand aus der 11. Minute durch Real Madrids Superstar Arda Güler nach Doppelpass mit Hakan Calhanoglu - der ehemalige Bundesliga-Star absolviert als sechster Türke überhaupt sein 100. Länderspiel - postwendend ausgleichen. 120 Sekunden nach dem Rückstand, während die Türkei noch schläft, flankt Kiril Despedov von rechts. Aus dem Hinterhalt rauscht Radoslav Kirilov heran, schießt einem ausgerutschten Verteidiger ins Gesicht, von wo aus der Ball ins Tor trudelt. Ein bisschen Dusel ist den Bulgaren gerade gegen die Türkei egal. Unter den rund 15.000 Zuschauern im 43.632 Menschen fassenden Stadion haben aber die Türken die Oberhand, auch weil sie von offiziellen Mitarbeitern etliche kleine Fahnen in die Hände gedrückt bekommen.
Desaster im Stadion des Nationalhelden
Im Team der Bulgaren, Löwen genannt, sind in Deutschland vor allem Ilia Gruev, der Mittelfeldspieler von Leeds United, der mehrere Jahre für Werder Bremen kickte, und der Elversberger Stürmer Lukas Petkov bekannt. Beide sitzen zunächst auf der Bank.
Einen weitaus bedeutenderen Namen trägt das 1953 erbaute Stadion, in dem der Zentrale Sportklub der Armee (ZSKA) und Lokomotive Sofia ihre Ligaspiele austragen: Der 1837 geborene Wassil Lewski (deutsch: der Löwenhafte) gilt als Nationalheld, war ein orthodoxer Mönch und vor allem ein führender Revolutionär und Ideologe der bulgarischen Freiheitsbewegung.
Revolution gegen wen? Die türkische Fremdherrschaft über das bulgarische Gebiet, die dort heute noch als "500 Jahre andauerndes Joch" geschimpft wird, nachdem das Osmanische Reich das orthodoxe Bulgarien im 14. und 15. Jahrhundert unterworfen hatte. Eine Deutung, die Lewski prägte. Er kämpfte gegen die Türken und für eine demokratische Republik mit Menschenrechten nach dem Vorbild der liberalen Ideen der Französischen Revolution.
"Wenn wir verlieren ..."
Am Samstagabend in Sofia ist drumherum ohnehin vieles besonders, zumindest für Beobachter, die westliche Fußballspiele gewöhnt sind. Vor dem Stadion verscherbeln Verkäufer neben den obligatorischen Schals zum Derby auch unterschiedlichste geröstete Nüsse und Schokowaren. Den internationalen Journalisten werden die Akkreditierungen im halbdunklen Park unweit des Stadions übergeben, von einem Mitarbeiter der bulgarischen Fußballunion, der Trainingshosen trägt. Die Mixed Zone für die Interviews findet in einer alten Turnhalle statt, in der normalerweise Ballett getanzt wird. Der Holzboden knarzt, es riecht nach Umkleide. In einem großen Plastikbehälter direkt neben den TV-Kameras werden benutzte Batterien gesammelt, am Reißbrett versucht jemand via DIN-A4-Ausdruck Kinderturnschuhe loszuwerden.
Auch der Anpfiff um 21.45 Uhr ist ungewöhnlich, aber den vielen Kindern im Stadion macht das nichts. Auf dem Fußballfeld allerdings bleibt die bulgarische Revolution nach der Pause aus. Stattdessen nutzt die Türkei die vielleicht letzte Chance für die WM in den USA, Kanada und Mexiko. "Das heute ist eigentlich ein Pflichtsieg", sagt ein türkischer Fan vor der Partie zu ntv.de. "Aber nach dem letzten Spiel weiß man nicht. Wenn wir verlieren, wird es richtig schwer mit der WM." Es geht auch um Wiedergutmachung nach dem Albtraum gegen Europameister Spanien.
Nach der Halbzeit geht es dahin
Dementsprechend hungrig bändigen die Türken die Löwen innerhalb weniger Minuten nach Wiederanpfiff. Einen langen Ball lupft Viktor Popov in der 49. Minute über den Torhüter unhaltbar in den Kasten. Allein, es ist Dimitar Mitov, sein eigener Keeper, und sein eigenes Gehäuse. Damit bricht Bulgarien komplett auseinander, die Löwen sind erlegt.
Nur 120 Sekunden später stellt der 20-jährige Kenan Yildiz nach Vorarbeit des gleichaltrigen Güler auf 3:1. Wiederum fünf Minuten später schnürt Yildiz den Doppelpack. Nachdem Zeki Celil in der 65. Minute völlig unbehelligt nach Güler-Ecke zum 5:1 einköpfen darf, trifft Can Kahvei in der 93. Minute schließlich zum Endstand.
Historisch ist die Partie nicht nur wegen Bulgariens Pleite, sondern auch aufgrund der fußballerischen Beziehungen der beiden Länder. Vor 100 Jahren fand das erste Duell auf dem Rasen statt. Es war das dritte Spiel der Löwen überhaupt und die Türkei gewann mit 3:1 - auch weil der Gegner fast eine Halbzeit lang ohne Torwart spielte. Vor genau 20 Jahren gelang Bulgarien der bislang letzte Sieg gegen die Türkei. An der Seitenlinie stand damals Hristo Stoitchkov, der DFB-Schreck, der bei der WM 1994 mit sechs Treffern Torschützenkönig wurde und Deutschland im Viertelfinale aus dem Turnier schoss und sein kleines Land ins Halbfinale, zum größten Erfolg der Geschichte.
Türken-Trainer wollte "Geschichte ändern"
Vincenzo Montella, der Trainer der Türken, erklärte vor dem Spiel: "Wir wollen die Geschichte ändern." Das gelingt kurz vor Mitternacht in für Bulgarien schmerzhafter Vehemenz. Um Provokationen und Zusammenstöße zu vermeiden, müssen die türkischen Fans bis 25 Minuten nach Abpfiff in ihrem Block verharren.
Wassil Lewski bekommt von alldem nichts mehr mit, er wurde im Dezember 1872 von den Türken gefangen genommen und einen Monat später in der Nähe von Sofia gehängt. Statt seiner Demokratie gründete Bulgarien 1878 zunächst ein Fürstentum und 1908 ein von der Türkei vollständig unabhängiges Königreich. "Falls ich gewinne, gewinne ich für ein ganzes Volk - falls ich verliere, verliere ich nur mich", sagte der Revolutionär einst. In Sofia verliert sich an diesem Abend Bulgarien nicht selbst - und doch für ein ganzes Volk.
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