„Ich habe es nicht einmal meiner Mutter erzählt, dass ich weggehe“
Mit 16 Jahren flüchtete Amanal Petros aus Äthiopien nach Deutschland, entdeckte den Langstreckenlauf für sich und wurde 2015 eingebürgert. In Tokio krönte sich der 30-Jährige vor knapp zwei Wochen zum Silbermedaillengewinner im Marathon, der auf dem Papier gesehen größte Erfolg seiner Karriere. Persönlich wird aber ein anderer an erster Stelle bleiben, verrät Petros im Interview.
Frage: Herr Petros, Sie gewannen sensationell WM-Silber in Tokio und sind ein Musterbeispiel, wie man sich als Flüchtling in Deutschland ein erfolgreiches Leben aufbauen kann. Wie sah damals Ihr Leben in Äthiopien aus?
Amanal Petros: Ich lebte mit meiner Familie in einem Dorf in der Region Tigray im Norden des Landes. Viele Leute werden sich dieses Leben nicht vorstellen können. Bei uns, wie auch in Kenia, arbeitest du als Sechs- oder Siebenjähriger schon auf dem Feld mit. Das habe ich auch gemacht. Wir hatten Kühe, Ochsen, Hühner, ein Schaf und eine Ziege. Dazu Bienen und einen Esel für den Transport. Außerdem lief ich täglich sechs Kilometer hin und auch zurück zur Schule. Es gab in meiner Kindheit also schöne und nicht so schöne Momente.
Frage: Wie entstand die Entscheidung zur Flucht?
Petros: Diese Entscheidung trifft man am Ende des Tages schon alleine. Es war nicht einfach. Ich habe es nicht einmal meiner Mutter erzählt, dass ich weggehe. Ich habe nicht um Erlaubnis gefragt, weil ich wusste, dass sie es nicht akzeptieren würde und mich nicht losgelassen hätte.
Frage: Was haben Sie ihr damals gesagt, wo Sie hingehen?
Petros: Ich bin einfach rausgegangen. Diesen Schritt können sich viele nicht vorstellen. Wenn ich Leuten davon erzähle, denken sie, dass es nicht wahr sein kann. Ich war damals im Februar 2012 erst 16 Jahre alt und bin von Äthiopien nach Frankfurt geflogen. Es war sehr, sehr kalt, und ich hatte keine Jacke dabei.
Frage: Wie funktioniert der Flug als 16-Jähriger?
Petros: Ich war nicht allein, mir wurde damals geholfen. Mehr möchte ich nicht verraten. Dann kam ich nach Bielefeld ins Flüchtlingsheim.
Frage: Wie sah dort Ihr Leben aus?
Petros: Damals gab es noch keine Flüchtlingswelle. Wir waren zu sechst im Flüchtlingslager, wurden dort sehr gut betreut. Ich habe dann erst Fußball gespielt, hatte aber nicht so wirklich Talent. Dann entdeckte ich das Laufen und fand Leute, mit denen ich Sport machen konnte. Ich habe die Sprache gelernt und 2015 dann meinen deutschen Pass nach dem Einbürgerungstest bekommen. Jetzt bin ich Vizeweltmeister. Ich hätte nicht gedacht, dass ich dieses Ziel erreiche. Wahnsinn!
Frage: Lebt Ihre Mutter noch in dem Dorf, aus dem Sie damals weggegangen sind?
Petros: Ja. Es liegt nördlich von der Stadt Mek’ele, nahe zur Grenze zu Eritrea. Ich wurde zwar in Eritrea geboren, aber weiß nichts mehr davon, weil ich als Kleinkind mit der Familie nach Äthiopien vor dem Krieg zwischen Äthiopien und Eritrea (dauerte von 1998 bis 2000; d. Red.) flüchtete.
Frage: Wann haben Sie Ihre Mutter zuletzt getroffen?
Petros: Es gab einen Zeitraum von acht Jahren, in dem ich sie gar nicht gesehen habe. Dann habe ich es nicht mehr ausgehalten. Also bin ich nach dem Olympia-Marathon in Paris (wo er aus gesundheitlichen Gründen aufgeben musste, d. Red.) im vergangenen Sommer nach Addis Abeba gereist, um sie zu treffen. Das war für mich wie eine große Erleichterung. Über die Jahre war der Kontakt oft abgebrochen, weil in der Region die Kommunikation von der Regierung gesperrt war. Da wusste ich manchmal nicht, ob sie noch lebt. Ich habe mir große Sorgen gemacht. Das hat Kraft gekostet. Gerade ist es etwas ruhiger in Äthiopien, aber ich wäre auch hingereist, wenn es Kriegsgebiet gewesen wäre. Ich musste sie sehen.
Frage: Wie war das Wiedersehen?
Petros: Die Liebe der Mutter ist einzigartig. Ihre Umarmung hat mir sehr gefehlt. Ich habe dort viel Liebe und positive Energie getankt. Das hat mich auch im Sport stärker gemacht.
Frage: Ist ein Besuch von Ihrer Mutter in Deutschland geplant?
Petros: Ich hoffe, dass es nächstes Jahr einmal klappt. Ich muss sie offiziell einladen und nachweisen, dass ich einen Job habe und Geld verdiene. Dann sollte es möglich sein. Zum Glück funktioniert momentan die Verbindung per Telefon, weil sich der Krieg beruhigt hat. Allerdings könnte bald wieder ein Konflikt drohen, weil die äthiopische Regierung einen Zugang zum Roten Meer haben möchte, den Eritrea hat.
Frage: Konnte Ihre Mutter das WM-Rennen verfolgen?
Petros: Nicht direkt. Ich habe ihr aber kurze Videos zusammengeschnitten und geschickt. Sie hat sich sehr gefreut.
Frage: Der Rennverlauf war spannend: Sie waren gleichauf mit Alphonce Felix Simbu aus Tansania. Das Zielfoto musste entscheiden: Sie waren um 0,03 Sekunden – 16 Zentimeter – weiter hinten. Im Marathon wird das Ergebnis eigentlich nur auf Minuten ausgewiesen. Da waren sie beide zeitgleich. Hätten beide Gold bekommen sollen?
Petros: Wäre ich der Sieger gewesen, hätte ich ihm auch den Titel gegönnt. Da hätte ich nichts verloren, wenn er auch Gold bekommen hätte. Dann wären wir beide Weltmeister gewesen. Das hätte ich vorgeschlagen. Der Weltverband hat aber seine Regeln. Ich hätte mich beim Endspurt nicht umgucken sollen, sonst hätte es vielleicht gereicht.
Frage: Wie ordnen Sie das Silber für sich ein?
Petros: Ich hatte eigentlich meinen Frieden damit gemacht und es akzeptiert, aber dann wurde bei der Siegerehrung die andere Nationalhymne gespielt. Da kam die Enttäuschung hoch. Aber das ist Geschichte: Ich bedanke mich beim lieben Gott, der mir das alles geschenkt hat.
Frage: Sie sollen zu Hause immer noch Ihren ersten Pokal haben, den Sie 2012 in Deutschland gewonnen haben. Kommt das Silber daneben?
Petros: Vom Stellenwert wird dieser Pokal vom Citylauf in Espelkamp immer mein größter Sieg sein. Selbst, wenn ich Olympia-Gold holen sollte. Der Pokal ist der Besonderste von allen, weil es der erste Sieg war. Damit fing alles an.
Frage: Nach Ihrem WM-Silber zeigten Sie die „Freeze“-Geste von Basketball-Star Dennis Schröder. Er hält sich dabei die Finger an die Vene in der Armbeuge. Das heißt: Ich habe Eis in meinen Adern und verwandle eiskalt meine Würfe. Warum haben Sie diese gezeigt?
Petros: Persönlich kenne ich ihn bisher nicht, aber ich habe verfolgt, wie er und die Basketballer Europameister geworden sind. Da haben sie mich sehr beeindruckt. Eigentlich war ich gar kein Basketball-Fan. Aber seine positive Energie hat mich begeistert. Er ist ein sehr gutes Vorbild. Außerdem habe ich in der Tagesschau gesehen, dass Dennis beim Spiel gegen Litauen rassistisch provoziert und beleidigt worden war. Da wurden Affenlaute gemacht. Ich bin ausgerastet. Mich hat beeindruckt, wie Dennis damit umgegangen ist. Er hat cool reagiert und klar gesagt, dass das nicht geht.
Frage: Wie ging es weiter?
Petros: Ich habe mich genauer mit dem Thema und ihm beschäftigt. Da habe ich die Geste gesehen, die er mit seinem Sohn ausgetauscht hat. Das fand ich ziemlich gut. Daher war die Geste ein Gruß an ihn.
Frage: Welche Erfahrungen haben Sie mit Rassismus gemacht?
Petros: Im Alltag hatte ich weitgehend Glück. Aber es gibt rassistische Kommentare, sogar ab und zu von anderen Läufern, die das extra machen, um mich zu provozieren. Doch ich reagiere nicht darauf. Ich mache so (deutet mit den Händen Scheuklappen an). Sie werden meine Aufmerksamkeit nicht bekommen. Ich weiß, dass es überall rassistische Leute gibt. Aktuell bin ich nicht so groß und berühmt wie Dennis Schröder. Er bekommt da viel mehr ab. Jetzt bin ich Vizeweltmeister. Es kann sein, dass jetzt mehr kommt. Ich hoffe, dass es nicht so ist. Doch ich bin bereit. Ich gebe denen keine Chance, mich runterzubringen.
Frage: Wie sieht Ihr normales Wochenpensum aus?
Petros: Ich laufe wöchentlich 200 bis 210 Kilometer. Es geht darum, dass wir als Marathonathleten sehr viele Kilometer in unseren Oberschenkeln speichern müssen. Aber es ist eine riesengroße Herausforderung, das drei, vier Monate lang durchzuhalten. Das Leben besteht dann nur aus Laufen, Essen und Schlafen. Disziplin ist das Wichtigste.
Frage: Um in der Weltspitze zu laufen, trainieren Sie viel in Iten (Kenia), das 2400 Meter über dem Meeresspiegel liegt. Wie viele Monate pro Jahr sind Sie unterwegs?
Petros: Ich bin sieben Monate unterwegs, den Großteil in Kenia, dazu kommen die Wettkämpfe und andere Termine. Nach diesen bin ich dann in Bochum, wo ich lebe und regeneriere. Meist für einen Monat. Danach haue ich wieder ab, damit meine Form nicht so komplett verschwindet.
Frage: Wie leben Sie in Kenia?
Petros: Dort gibt es ein Hotel mit Appartements. Das ist sehr professionell. Du wohnst direkt neben der Strecke, wirst dreimal am Tag mit Essen versorgt. Es gibt Massagen. Du musst keine Trainingspartner suchen, da sind an jeder Ecke 40, 50 Athleten, die jeden Tag um 6.30 Uhr oder 8 Uhr trainieren.
Frage: Was ist Ihr nächstes Ziel?
Petros: Am 7. Dezember in Valencia werde ich versuchen, den Europarekord (2:03,36 Min., d. Red.) zu brechen.
Der Artikel wurde für das Sport-Kompetenzcenter (WELT, SPORT BILD, BILD) verfasst und zuerst in SPORT BILD veröffentlicht.
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