In der Dortmunder Humboldtstraße parkten gleich mehrere Autos im Halteverbot. Vor der „Marlene-Bar“ standen sie kreuz und quer, sodass es nicht lange dauerte, bis die Polizei anrückte. Die Beamten wollten für Ordnung sorgen. Doch als sie den Club betraten und erkannten, wer dort feierte und für das Chaos auf der Straße gesorgt hatte, rückten sie wieder ab. Es war die Dortmunder Mannschaft, die ausgelassen trank und tanzte. Die Polizei verzichtete auf Strafen. In dieser Nacht war kein Platz für Knöllchen.

Die „Marlene-Bar“ gibt es mittlerweile nicht mehr, das Gebäude wurde im April 2024 abgerissen. Die Erinnerungen aber sind geblieben. An diesen magischen Champions-League-Abend am 9. April 2013. An diese außergewöhnliche Party – die die Spieler nach dem 3:2-Triumph gegen Málaga in Trainingsanzügen feierten, weil sie keine andere Kleidung im Gepäck hatten.

Roman Weidenfeller, der damalige Kapitän und Torhüter, erinnert sich: „In der Kabine nach dem Spiel überlegten wir uns, diesen historischen Sieg noch gemeinsam zu feiern. Dafür brauchten wir keine Erlaubnis, sondern haben es gemeinschaftlich, spontan beschlossen. Ich persönlich habe noch nie im Jogging-Anzug in einem Club gefeiert, das war schon skurril. Besondere Umstände bei besonderen Anlässen. Zum Glück war der Inhaber des Lokals ein Freund einiger Spieler, insofern gab es kein Problem mit dem Dresscode.“

Dann schlägt Mats Hummels einen weiten Ball ...

Es dauerte nicht lange, bis es sich in der Fanszene herumsprach, dass die Mannschaft dort war. Die Spieler hatten kein Problem damit, dass im Laufe der Nacht auch einige Ultras in die Bar kamen.

Es war eine ausgelassene Party, bei der vor allem Kevin Großkreutz als Feierbiest herausstach.

Nach diesem Triumph konnte und wollte keiner nach Hause gehen. Denn hinter dem BVB lag ein magischer Abend. Nach dem 0:0 im Hinspiel standen der Borussia die Türen zum Halbfinale offen. Doch im Rückspiel führt Málaga nach 90 Minuten 2:1. Dortmund ist raus. Dann schlägt Mats Hummels einen weiten Ball in den Strafraum, Felipe Santana stochert ihn zu Marco Reus, der drückt ihn über die Linie – 2:2. In der ersten Minute der Nachspielzeit. Wegen der damals noch geltenden Auswärtstor-Regel reicht das Remis allerdings nicht für eine Verlängerung. Und so wird Stadionsprecher „Nobby“ Dickel in dem Moment zum Anpeitscher, brüllt in sein Mikro: „Und weiter Jungs! Weiter Jungs!“

„Wir konnten uns nach dem Tor von Marco kaum verständigen, da es viel zu laut im Stadion war. Wir haben einfach alle nur mit den Armen gerudert, um damit zu signalisieren, mit all unserer Power weiter nach vorne zu spielen. Wir hatten alle das Gefühl: Hier geht noch was! Jeder Einzelne von uns hatte diesen Glauben“, sagt Weidenfeller.

„Wir waren alle kurz vorm Herzinfarkt“, sagt Klopp

Es sind nur 69 Sekunden, die das Spiel auf den Kopf stellen. Flanke von Robert Lewandowski, der Ball kommt zu Reus, Hereingabe in die Mitte, Julian Schieber schießt, trifft die Kugel im Getümmel aber nicht richtig. Dann stochert Santana das Leder aus kurzer Distanz über die Linie. Die Ekstase. Trainer Jürgen Klopp: „Wir waren alle kurz vorm Herzinfarkt.“

Dickel, der während der Heimspiele auf einem kleinen Podest auf der Dortmunder Südtribüne steht, sagt zwölf Jahre später: „Ich habe noch nie so viele Bierbecher auf der Süd abbekommen und habe nach dem Spiel gerochen wie ein Puma! Nach dem Tor von Felipe brachen alle Dämme, so etwas habe ich noch nie erlebt. Das war unsere Geburtsstunde der Nachspielzeit!“

Der Verein brachte kurz darauf sogar eine DVD heraus, auf der das gesamte Spiel zu sehen war. Der Titel: „Das Wunder von Dortmund“. Geballte Emotionen auf zwölf Zentimeter Durchmesser gepresst.

„Ich bin nach dem Spiel in den VIP-Bereich gegangen und habe noch nie so viele Menschen gesehen, die so aufgelöst waren vor Glück“, sagt Dickel. „Auch mich hat das Spiel ganz schön mitgenommen. Ich habe vor Nervosität eine ganze Packung Nüsse gegessen. In der Nachspielzeit habe ich nur noch aus Instinkt gehandelt, als ich unsere Mannschaft über die Stadion-Lautsprecher angefeuert habe.“ Es half.

Vier Spieler stehen im Abseits, dann der fünfte

Sechs Jahre später wäre Santana sehr wahrscheinlich nicht mehr zum Helden geworden. Erst in der Saison 2018/2019 wurde der Videobeweis in der Königsklasse eingeführt, beim Spiel gegen Málaga verließ man sich noch auf die Augen des Linienrichters. Die in dem Moment allerdings nicht ganz scharf gestellt sind. Bei der Flanke von Lewandowski stehen gleich vier Dortmunder im Abseits – ungestraft. Und kurz darauf steht Santana auch bei seinem Torschuss im Abseits. Wieder sieht das Gespann um Craig Thomson (Schottland) das Vergehen nicht.

Ein Stachel, der tief saß in Málaga. Lange Zeit. Im April 2020, sieben Jahre nach dem Spektakel, forderte Klub-Besitzer Abdullah bin Nasser Al Thani eine nachträgliche Untersuchung des Spiels. „Jeder weiß, was Málaga passiert ist. Wir fordern eine internationale Ermittlung – fair und transparent. Wir fordern Gerechtigkeit.“ Dass auch Málagas Treffer zum zwischenzeitlichen 2:1 ebenfalls aus einer Abseits-Position entstanden ist, verschwieg er. Ermittlungen wurden nie eingeleitet.

Und so bleibt Santana eine der prägenden Figuren der Dortmunder Champions-League-Geschichte. Einen Tag nach dem Rausch bekam er Besuch von seiner Mutter Angela, die aus São Paulo (Brasilien) anreiste. Sie musste sich den Siegtreffer ihres Sohnes unzählige Male anschauen, weil die Szene in Dauerschleife auf dem Fernseher in Santanas Wohnzimmer lief. Der Abwehrspieler, der nur wenige Monate später zum Erzrivalen Schalke wechselte und heute in seinem Heimatland lebt, war wie benommen von der magischen Nacht. „Ich habe zwei Nächte nicht schlafen können. Es war unmöglich. Immer, wenn ich meine Augen schloss, sah ich dieses Tor.“

Bei „Nobby“ Dickel halten die Nachwirkungen bis heute an

Schon während der Party in der „Marlene-Bar“ stand sein Handy nicht mehr still. „Ich habe noch nie so viele Anrufe und Text-Nachrichten bekommen wie nach diesem Spiel. Das ist Wahnsinn. Als ich mit meinem Vater nach dem Spiel telefoniert habe, hat er so laut geweint, dass ich kein Wort mehr verstehen konnte.“

Bei „Nobby“ Dickel halten die Nachwirkungen bis heute an. „Das Spiel hat mich geprägt, weil ich seitdem immer die Hoffnung habe, dass wir Spiele noch drehen können. Als wir zuletzt gegen Barcelona gespielt haben, war das auch so. Ich habe nie den Glauben verloren, weil ich seitdem weiß, was in unserem Stadion möglich ist.“ Gegen Barça blieb das Wunder jedoch zuletzt aus. Nach dem 0:4 im Hinspiel schied der BVB trotz überragender Leistung im Rückspiel (3:1) im Viertelfinale aus.

Für die Borussia führte der Weg damals über Real Madrid ins Finale nach Wembley, wo Bayerns Arjen Robben den Traum vom Henkelpott per Kuller-Schuss an Weidenfeller vorbei zerstörte. Der Glanz des Málaga-Spiels ist jedoch nicht verblasst. Der Ex-Torhüter: „Den Abend werde ich nie vergessen. Das waren Emotionen pur, völlig verrückt. Genau dafür steht der BVB.“

Was danach geschah

Gegen Málaga wurde Felipe Santana als Held gefeiert. Doch schon wenig später war der Brasilianer der Buhmann. 2013 wechselte der Innenverteidiger überraschend vom BVB zu Erzrivale Schalke 04. „Ich wollte wieder Stammspieler sein, um mich für die Nationalmannschaft zu bewerben“, sagte Santana, der 2014 unbedingt bei der WM im eigenen Land spielen wollte (was ihm nicht gelang).

Den Wechsel zu Schalke bezeichnete er später als den „größten Fehler“ seiner Karriere. Die BVB-Kollegen, allen voran Kevin Großkreutz, waren stocksauer auf Santana, der in der Bundesliga-Geschichte nur einer von sieben Spielern war, der von Dortmund zu Schalke ging (u. a. Andy Möller).

Santana kam 2008 von Brasilien-Klub Figueirense nach Dortmund. Ablöse: 2,1 Mio. Euro. Für eine Mio. ging er nach Gelsenkirchen. 2015 wurde der Abwehrspieler nach Piräus ausgeliehen und wurde griechischer Meister und Pokalsieger. Über Krasnodar 2016 (Russland) ging es 2017 zurück nach Brasilien, wo er für Atlético Mineiro, Chapecoense und Catarinense spielte. 2024 beendet Santana seine Karriere.

Der Text stammt aus dem „Sport-Bild“-Buch „Die größten Momente der Champions League“.

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