Ein Offenbarungseid, der heikle Fragen aufwirft
Der ernüchternde Abend ging leise zu Ende. Kurz vor Mitternacht schlichen die deutschen Fußball-Nationalspieler am Donnerstag aus dem Stadion in Bratislava in Richtung Mannschaftsbus. Wo in Arenen an den Ausgängen sonst viele Fans warten und auf Fotos hoffen, war nur wenig los. Die Helden des Tages kamen ohnehin aus der anderen Kabine.
Die Spieler von Bundestrainer Julian Nagelsmann waren nach dem 0:2 (0:1) gegen die Slowakei von ihrer Leistung entsetzt. Frust und Leere lagen in ihren Gesichtern. Es war eine Blamage, eine historische Niederlage, die erste auswärts in einer WM-Qualifikation – gegen den 52. der Weltrangliste. Eine Schmach, welche für die Diskussion sorgt, ob Trainerteam und Mannschaft ihren Prozess überschätzt haben. Die neue, weitreichende Zweifel und Fragen aufwirft. Und die Debatte um einen benötigen Kurswechsel Nagelsmanns befeuert. Beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) dachten sie, man wäre weiter. Die von Nagelsmann geforderte Dominanz war nicht zu sehen. Und noch vieles mehr fehlte.
„Wir haben in keiner Phase Mut und Gier gezeigt“, sagte Joshua Kimmich. „Wir haben alle wichtigen Dinge vermissen lassen. Wenn wir so weitermachen, wird es ganz schwierig, dass wir uns für die WM qualifizieren.“ Ein Alarm-Signal, wenn der Kapitän rund neun Monate vor der WM 2026 solch deutliche Worte wählt. Und der Bundestrainer sagt: „Wenn wir uns die vergangenen zehn Jahre der Mannschaft anschauen, dann sollte uns bewusst sein, dass wir hier nicht mit 80 Prozent hinfahren und das locker gewinnen können. Wir waren meilenweit von einer guten Leistung entfernt.“
Es war ein völlig verkorkster Auftakt in die Qualifikation für das Turnier in den USA, Kanada und Mexiko, der dem Trainerteam um Nagelsmann sehr zu denken gibt. Abwehrchef Antonio Rüdiger sprach nach der leblosen Vorstellung seines Teams noch in der Kabine zur Mannschaft.
Am Freitagvormittag reiste er mit seinen Kollegen nach Köln, wo Deutschland Sonntag (20.45 Uhr/RTL) im zweiten Qualifikationsspiel auf Nordirland trifft. „Da muss eine absolute Reaktion kommen“, fordert Kimmich.
Erinnerungen an das 0:2 gegen Österreich vor zwei Jahren
Für Nagelsmann und seine Auswahl steht jetzt viel auf dem Spiel. Denn das 0:2 ist viel mehr als eine misslungene Partie. Es ist die Entwicklung der Mannschaft, die zu denken gibt. Die Pleite in der Slowakei war die dritte Pflichtspielniederlage in Folge. Deutschland gewann lediglich eines seiner vergangenen sechs Länderspiele. Manche fühlen sich an das peinliche 0:2 gegen Österreich 2023 erinnert, an den bisherigen Tiefpunkt der Amtszeit Nagelsmanns. Damals änderte er einiges.
Von der Weltklasse ist diese Mannschaft aktuell weit entfernt. Das große Problem von Nagelsmann und seinem Team: Die riesige Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität.
In Jamal Musiala, Kai Havertz und Nico Schlotterbeck fehlen drei wichtige Spieler verletzt, insbesondere Musialas Ideen und Fähigkeiten sind nicht ersetzbar. Doch dahinter kann sich niemand verstecken. Auch nicht hinter dem mitunter überforderten Debütanten Nnamdi Collins auf der rechten Abwehrseite. Keiner der Schlüsselspieler konnte der verunsicherten Mannschaft halt geben.
Besorgniserregend für Nagelsmann war an diesem denkwürdigen Abend vor allem, dass es an grundlegenden Tugenden mangelte. „Vielleicht müssen wir auf weniger Qualität setzen, sondern auf Spieler, die alles reinwerfen“, sagte der Tainer. „Das hätte zu einem besseren Ergebnis geführt.“ Eine emotionale Aussage direkt nach dem Spiel, die er mit etwas Abstand etwas relativierte: „Ich habe Vertrauen in die Mannschaft, sonst würde ich sie nicht einladen. Ich glaube auch, dass jeder Spieler, der dabei ist, die Emotionalität rauskitzeln kann.“
Tatsächlich war Nagelsmann der Emotionalste rund um die Partie. Während des Spiels schrie er mitunter an der Seitenlinie. Seine Experimente gingen schief, sein Team machte einen desolaten Eindruck.
Ratgeber Völler ist gefragt
Für jeden war sichtbar: Diese Mannschaft hat mehr Baustellen als gedacht. Und intensivere Probleme als beim DFB gehofft. Mit dem ehemaligen DFB-Teamchef und heutigen Verbands-Sportdirektor Völler will sich Nagelsmann nun beraten, was zu tun ist nach diesem fußballerischen Offenbarungseid. Völler kann ein guter Ratgeber sein. 2001 verlor er als Teamchef gegen England in der WM-Qualifikation 1:5 – und erreichte ein Jahr später in Japan das WM-Finale.
Völler spricht aus, was die Fans gesehen haben: So ist Deutschland nicht nur kein WM-Favorit. So ist sogar die Qualifikation für das Turnier in Gefahr. „Wenn uns die paar Prozent fehlen, wird es ein bitteres Erwachen geben“, mahnte der einstige Weltklasse-Stürmer. Kimmich gibt ihm recht: „Wenn wir so weitermachen, wird es ganz schwierig, dass wir uns für die WM qualifizieren. Jeder muss sich jetzt seine Gedanken machen.“
Dass beim DFB in der aktuellen Phase überhaupt über die Einstellung gesprochen werden muss, ist erschreckend.
Und die Qualität? Auch der gerade für rund 150 Millionen Euro zum FC Liverpool gewechselte Florian Wirtz und Rüdiger von Real Madrid, dem nach einer Knie-Operation wohl noch der Rhythmus fehlt, spielten schwach. Nagelsmann zog einen besonderen Vergleich: Die Slowakei habe gespielt wie ein Außenseiter im DFB-Pokal, mit Leidenschaft. Seine Mannschaft war der behäbige Favorit. An Klasse mangele es aus seiner Sicht generell aber nicht. „Ich kann das mit der Qualität nicht mehr hören“, sagte er. „Wir müssen erst mal emotional werden, wir müssen in jedem Spiel alles reinwerfen.“
Es steht viel auf dem Spiel. Bei der EM in Deutschland im vergangenen Jahr hatte sich Nagelsmanns Auswahl viele Sympathien erspielt – und das Verhältnis zu den Fans gekittet. Die Basis und Mannschaft hatten sich in den Jahren zuvor entfremdet. Nagelsmann erinnerte Donnerstag an die EM: „Wir waren emotional. Jeder hatte Bock, uns zu sehen. Das ist leider wieder weniger geworden.“
Sechs Siege in sechs Spielen wollte Nagelsmann auf dem Weg zur WM. Ziel verfehlt. Platz eins in der Gruppe A mit den Slowaken, Nordirland und Luxemburg ist noch möglich. Die Entscheidung könnte im letzten Spiel am 17. November in Leipzig fallen – dann geht es wieder gegen die Slowakei.
Auch ohne Gruppensieg ist die WM möglich. Als einer von vier Gruppenersten der A-Liga in der Nations League ist die Teilnahme an den Play-offs, bei denen im März 2026 noch vier Plätze vergeben werden, sicher – unabhängig vom Platz in der aktuellen Qualifikationsgruppe.
Ziel ist der WM-Titel – „Es zu ändern, wäre unglaubwürdig“
Nagelsmanns wird jetzt wohl einiges infrage stellen. Kimmich hatte er zuletzt von der rechten Abwehrseite ins zentrale Mittelfeld gezogen. Der Star des FC Bayern könnte nun wieder hinten rechts spielen. „Das ist immer eine Option, das habe ich die ganze Zeit gesagt“, so Nagelsmann. Mit Robert Andrich könnte er einen emotionalen Anführer ins defensive Zentrum stellen.
Nagelsmann hat als Ziel für die WM den Titelgewinn ausgegeben. „Es zu ändern, wäre unglaubwürdig“, sagte der Bundestrainer Donnerstagnacht. „Natürlich stehe ich heute nicht überragend gut da, das weiß ich. Aber es wäre ein fatales Zeichen zu sagen, wir wollen nicht mehr Weltmeister werden.“
Um dieses Ziel als realistisch wirken zu lassen, muss er mit der Mannschaft viel arbeiten. Viele neue Spieler wird er in diesem Jahr wohl nicht nominieren. Bis Dezember bleiben fünf Partien. „Die müssen wir alle gewinnen – und zwar deutlich“, betonte Nagelsmann. „Wir müssen emotional Fußball spielen. In jedem Spiel.“
Der Bundestrainer muss sofort Antworten auf die Frage finden, wie das gelingen kann. Er und seine Mannschaft stehen enorm unter Druck.
Julien Wolff ist Sportredakteur. Er berichtet für WELT seit vielen Jahren aus München über den FC Bayern und die Nationalmannschaft sowie über Fitness-Themen. Beim Spiel in Bratislava war er im Stadion.
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