Merlin Polzin hat den Hamburger SV zurück ins Oberhaus geführt. Am ersten Spieltag erkämpfte sich sein Team ein Unentschieden bei Borussia Mönchengladbach, jetzt steht mit dem Stadtderby gegen den FC St. Pauli (Freitag, 20.30 Uhr/Sky) direkt ein ganz besonderes Spiel an. Der 34-Jährige war schon als Kind großer Fan des Klub und verfolgte die Spiele im Stadion auf der Nordtribüne. Seit Ende Dezember ist er Cheftrainer bei den Hamburgern. Sein Vertrag wurde vor dieser Saison vorzeitig bis 2027 verlängert.

Frage: Herr Polzin, am Freitag steigt im Volkspark das Derby zwischen dem HSV und dem FC St. Pauli. Wie ist Ihre Gefühlslage vor Ihrer Erstliga-Heimpremiere?

Merlin Polzin: In mir herrscht absolute Vorfreude. Das ganze Drumherum in der 1. Liga ist anders und viel größer als in der 2. Liga. Das fängt allein mit dem Bundesliga-Wappen auf den Trikots der Spieler an. Es ist einfach geil, das zu sehen und nun mit dem Duell gegen St. Pauli zu Hause zu starten. Bundesliga – darauf haben wir die vergangenen Jahre hingearbeitet. Wir werden alles in die Waagschale werfen, um das Spiel zu gewinnen – damit jeder, der zum HSV hält, glücklich ist.

Frage: St. Pauli schaffte vergangene Saison den Klassenerhalt. Kann der HSV etwas vom Stadt-Rivalen lernen?

Polzin: Bei aller sportlichen Rivalität muss man anerkennen, welche Entwicklung St. Pauli genommen hat und mit welcher fußballerischen Art und Weise sowie Souveränität der Klassenerhalt geschafft wurde. Darum können wir uns von der Herangehensweise etwas abschauen – wie aber auch von anderen Vereinen in der 1. Liga.

Frage: Sie haben den HSV als Trainer vergangenen Mai in die erste Liga zurückgeführt. Inwieweit hat sich Ihr Leben verändert?

Polzin: Ohne dass es arrogant klingen soll: Ich glaube, dass das Amt des HSV-Trainers, neben dem des Ersten Bürgermeisters, die Leute in Hamburg wahrscheinlich am meisten beschäftigt. Darum ist die Aufmerksamkeit gestiegen, es hat sich einiges verändert. Ich werde beim Einkaufen im Supermarkt oder im Restaurant angesprochen. Oder bei den Fahrten mit den öffentlichen Verkehrsmitteln.

Frage: Sie fahren weiter mit öffentlichen Verkehrsmitteln?

Polzin: Ja, meine Freundin und ich sind oft mit dem HVV (Hamburger Verkehrsverbund; d. Red.) oder Fahrrad unterwegs, das ist bei dem vielen Verkehr in der Stadt oft sinnvoller als mit dem Auto.

Frage: Was sagen Ihnen dann die Menschen?

Polzin: Oft nur: „Danke.“ Dass wir es geschafft haben, den HSV in die Bundesliga zurückzuführen. Ich finde es gut und freue mich, mit den Menschen in Kontakt zu treten, ob beim Training, in der Stadt, im Restaurant. Wir wollen uns damit auseinandersetzen, was die Leute beschäftigt.

Frage: Sie haben eine besondere Beziehung zum HSV, standen als Jugendlicher im Volkspark auf der Nordtribüne und waren zeitweise bei fast allen Auswärtsspielen dabei …

Polzin: Die Zeit, mit meinen Freunden an den Wochenenden in die Stadien zu gehen, war ein Stück weit Orientierung für mich als Heranwachsender und deshalb für mich ganz besonders. Denn ich liebe den HSV, die Stadt Hamburg, die für mich die schönste auf der Welt ist. Aber ich war nie als Rüpel unterwegs.

Frage: Wie finanzierten Sie sich Ihre Leidenschaft?

Polzin: Ich bekam von meinen Eltern Taschengeld, war darüber hinaus als Jugendtrainer tätig und teilte Spielankündigungs-Plakate meines Heimatvereins Bramfelder SV in Supermärkten, beim Schuster oder Gemüseladen aus. Ich bin immer montags mit dem Fahrrad dorthin gefahren und hängte sie auf. Dadurch verdiente ich mir zusätzliches Geld.

Frage: Es gibt eine weitere Geschichte aus Ihrer Kindheit, die Sie mit dem HSV verbindet: Sie waren Einlaufkind bei einer Bundesliga-Begegnung.

Polzin: Ja, als Neunjähriger beim Spiel gegen Unterhaching. Vor der Partie wurde noch ausgelost, wer mit welcher Mannschaft aufläuft, ich durfte es leider nur an der Hand eines Hachinger Spielers (schmunzelt). Dennoch: Wenn man auf den Rasen läuft, hoch auf die Leinwand schaut und sich dann darauf sieht, das war unfassbar. Das hat eine unglaubliche Begeisterung in mir ausgelöst.

Frage: 25 Jahre später sind Sie nun in der Bundesliga dabei. Was macht das mit Ihnen?

Polzin: Es setzt ganz viele Emotionen und Glückshormone frei, mit denen nicht nur ich, sondern wir alle beim HSV in die Saison gegangen sind.

Frage: Der HSV spielte zum Auftakt in Gladbach 0:0. Was wäre für Sie eine erfolgreiche Saison?

Polzin: Wenn wir es schaffen, den HSV in der 1. Liga zu halten und für besondere Momente zu sorgen. Etwa durch Derby-Siege gegen St. Pauli und Werder Bremen. Oder wenn einzelne Spieler Geschichte schreiben auf Basis eines funktionierenden Teams wie in unserem DFB-Pokal-Erstrunden-Spiel in Pirmasens.

Frage: Sie meinen Guilherme Ramos: Obwohl er in den Wochen davor nicht so viel Spielzeit hatte, rettete er den HSV vor dem K.o. und wurde zum Pokalhelden.

Polzin: Ja. Und für mich wäre es auch eine erfolgreiche Saison, wenn wir uns nicht treiben lassen von Dingen, die wir nicht beeinflussen können – sondern konsequent auf unserem Weg bleiben. Wir wollen für ehrliche und harte Arbeit stehen, mit der Stadt Hamburg im Rücken.

Frage: Sie sprechen das Thema Ruhe an. Glauben Sie, dass das Umfeld bei ausbleibenden Ergebnissen geduldig bleibt?

Polzin: Ich bin davon überzeugt, dass jeder HSV-Fan bereit für unseren eingeschlagenen Weg ist. Mit Demut – aber auch gepaart mit einer Überzeugung in unsere Stärke. Man darf jedoch nicht vergessen: Der HSV war sieben Jahre nicht in der 1. Liga vertreten.

Frage: Das bedeutet?

Polzin: Dass – allein was die finanziellen Möglichkeiten betrifft – zwischen uns und anderen Vereinen Welten liegen (Hamburg kassiert nur 31,4 Millionen Euro TV-Geld, der Vorjahres-13. Union Berlin 55,8 Millionen Euro diese Saison; d. Red.). Dennoch wollen wir das Maximum herausholen und den HSV wieder in der Bundesliga etablieren.

Frage: Wie soll das gelingen?

Polzin: Nicht mit einem Größenwahn, der aufgrund der Historie und aufgrund der Wucht der Stadt entsteht. Sondern, dass wir es Schritt für Schritt schaffen. Dabei ist Geduld ein entscheidender Faktor. Es ist besonders wichtig, dass man dann zusammensteht, wenn der Prozess nicht immer steil nach oben geht. Alle im Verein, gemeinsam mit den Fans. Das wird elementar und ganz entscheidend dafür sein, ob wir in der Bundesliga bestehen. Das hat die vergangene Saison gezeigt, als wir trotz einiger Widerstände aufgestiegen sind.

Frage: Der Umbruch vor der neuen Saison war groß beim HSV. Wie schwer ist es, eine neue Mannschaft mit einer neuen Hierarchie aufzubauen?

Polzin: Für mich ist es kein Umbruch, sondern es ist eine Chance, etwas Neues zu gestalten. Wir haben uns bewusst dafür entschieden, kritisch mit uns selbst zu sein. Wir sind aufgestiegen. Doch am Ende der vergangenen Saison hatten wir nur einen Punkt mehr als der Dritte Elversberg. Es ist nicht mein Ansatz, dass der Aufstieg über allem stand. Ich versuche, ein growth mindset zu haben.

Frage: Das heißt?

Polzin: Ich will mich jeden Tag ein bisschen weiterentwickeln, verbessern, wachsen. Das gilt auch für die Mannschaft. Darum brauchten wir Veränderungen im Kader. Darum haben wir die Spielweise angepasst. Darum wollten wir die Mannschaft in der Vorbereitung mit Testspielen gegen starke Gegner bewusst herausfordern.

Frage: Sie wirken in Interviews entspannt. In der ZDF-HSV-Doku „Always Hamburg“ jedoch fallen Sie mit emotionalen und lautstarken Reden in der Kabine und auf dem Platz auf. Haben Sie sich das abgeschaut?

Polzin: Es ist nicht meine Art, etwas zu kopieren. Man sollte als Trainer auftreten, wie man sich gerade fühlt – und man sollte wissen, wie man eine Mannschaft erreichen kann. Denn sie besteht aus ganz vielen unterschiedlichen Charakteren. Für mich sind es aber keine Motivationsansprachen, sondern Worte, die nochmals Energie bündeln sollen. Denn Motivation muss von innen kommen. Aber Energie kann man maximal hochtreiben. Das ist eine Aufgabe, die nicht nur die Spieler haben, sondern auch ich als Trainer.

Frage: Sie haben ein ganz besonderes Verhältnis zu Ihrer Oma, die Ihnen unter anderem WhatsApp-Nachrichten schreibt und dabei Spiele und Spieler bewertet. Wie war der Austausch vor dem Saisonstart?

Polzin: Meine Oma ist glühender HSV-Fan. Nach dem Aufstieg war sie ganz stolz, sie war auch bei der Feier dabei und machte mit mir und Horst Hrubesch (HSV-Ikone; d. Red.) ein Erinnerungsfoto, das war etwas ganz Besonderes für sie. Sie ist dieses Mal nicht auf die Mannschaft eingegangen, sondern versucht, mir zuzureden, dass ich der neuen Herausforderung gewachsen bin und wir als Verein in die richtige Richtung gehen. Der typische Beschützerinstinkt halt (lacht).

Der Artikel wurde für das Sport-Kompetenzcenter (WELT, SPORT BILD, BILD) verfasst und zuerst in SPORT BILD veröffentlicht.

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