Selten hat sich der Transfer-Poker um einen Bundesliga-Star so öffentlich abgespielt wie jener zwischen dem FC Bayern und dem VfB Stuttgart um Stürmer Nick Woltemade (23). Das Protokoll über den Wechsel-Wahnsinn der vergangenen Monate:

28. Februar: Rund um das Bundesliga-Spiel der Bayern beim VfB (3:1) am 24. Spieltag erfolgt die erste Kontaktaufnahme. Der Rekordmeister erkundigt sich bei Woltemade, ob er in Stuttgart eine Ausstiegsklausel besitzt. Die Antwort lautet: Nein.

25. April: Woltemade-Berater Danny Bachmann von der Agentur Headtrick reist nach Stuttgart, trifft sich dort auf der Geschäftsstelle mit VfB-Sportvorstand Fabian Wohlgemuth und Sportdirektor Christian Gentner. Hauptthema des Gesprächs: Wie plant Stuttgart künftig mit Woltemade, ist eine Vertragsverlängerung inklusive Gehaltserhöhung vorgesehen? Die Stuttgarter sehen zu diesem Zeitpunkt keine Eile, wollen sich damit erst nach dem DFB-Pokalfinale am Saisonende befassen.

4. Juni: Nach Wochen des Stillstands macht Bachmann jetzt Druck! Er greift zum Hörer und ruft Wohlgemuth an. Weil der sich nach dem Pokalsieg noch im Urlaub auf Mallorca befindet, vereinbaren die beiden ein persönliches Treffen für den 17. Juni. Währenddessen feiert Woltemade sein DFB-Debüt im Nations-League-Halbfinale gegen Portugal (1:2).

9. Juni: Woltemade und seine Agentur besprechen sich, diskutieren die Marschroute für die anstehenden Vertragsverhandlungen. Erstmals wird an diesem Tag auch über einen möglichen VfB-Abgang gesprochen. Woltemade zeigt sich offen. Sowohl für einen Wechsel innerhalb der Bundesliga als auch für den Schritt ins Ausland.

14. Juni: Fünf Tage später meldet sich der FC Bayern. Sportvorstand Max Eberl kontaktiert Bachmann und fragt, ob sich Woltemade einen Wechsel in diesem Sommer vorstellen könne. Die klare Antwort: Ja! Zu diesem Zeitpunkt weilt der Stürmer mit Deutschland schon bei der U21-EM in der Slowakei.

16. Juni: Am Tag nach Deutschlands zweitem Sieg in der Gruppenphase gegen Tschechien (4:2) bekommen die Spieler frei. Trainer Antonio Di Salvo informiert Woltemade zudem darüber, dass er im letzten Gruppenspiel gegen England geschont werden soll.

16. Juni: Daraufhin kommt es noch am selben Tag zu einem geheimen Video-Call zwischen Woltemade und Bayern-Trainer Vincent Kompany, der wegen der Klub-WM aus den USA zugeschaltet ist. Kompanys Ausführungen beeindrucken den Stuttgart-Star. Der Coach macht Woltemade klar, dass ein Spielertyp wie er den Bayern fehle. Zudem zeigt er ein Spielsystem auf, in dem Woltemade gemeinsam mit Harry Kane und Jamal Musiala auf dem Platz stehen könnte. Die klare Botschaft: Woltemade soll kein Back-up werden. An jenem Call nimmt auch Eberl teil, der wie Kompany in den USA weilt.

17. Juni: Erst jetzt kommt es zum seit Wochen anberaumten Vertragsgespräch zwischen dem VfB und der Woltemade-Seite. Auf der Geschäftsstelle in Stuttgart diskutieren Wohlgemuth, Gentner und Bachmann knapp eine Stunde über eine mögliche Gehaltserhöhung für den Angreifer. Über das Gespräch mit den Bayern oder andere Interessenten wird der VfB hier noch nicht in Kenntnis gesetzt.

18. Juni: Einen Tag später unterbreiten die Stuttgart-Bosse Bachmann folgendes Angebot: Der Vertrag des Torjägers wird um ein Jahr bis 2029 verlängert, Woltemade kassiert rund 2,5 Millionen Euro pro Saison statt wie bisher 1,5 Millionen Euro. Der Agent ruft Woltemade da­raufhin in der Slowakei an, teilt ihm den Inhalt der Stuttgarter Offerte mit. Für beide ist noch am selben Abend klar: Wir werden das VfB-Angebot nicht annehmen.

19. Juni: Tief enttäuscht von der aus seiner Sicht viel zu niedrigen VfB-Offerte trifft Woltemade an jenem Donnerstag den Entschluss: Ich möchte zum FC Bayern wechseln – noch in diesem Sommer!

VfB Stuttgart wird kalt überrascht

22. Juni: Eberl ist vor Bayerns zweitem Gruppenphasen-Spiel bei der Klub-WM gegen Boca Juniors (2:1) aus den USA nach Deutschland gereist, um sich in München um die Transfer-Aktivitäten des Deutschen Meisters zu kümmern. Mit Bachmann vereinbart er jetzt das erste persönliche Treffen.

23. Juni: Zu diesem kommt es schon am nächsten Tag. Eberl stellt dem Berater an der Säbener Straße ein Konzept vor, wie Woltemade bei den Bayern sportlich eingebunden werden soll. Die beiden werden sich schnell einig. Pikant: Die Stuttgart-Bosse ahnen zu diesem Zeitpunkt immer noch von nichts.

26. Juni: An jenem Donnerstagabend platzt die Bombe! BILD titelt: „Wechsel-Knall bahnt sich an – Bayern und Woltemade einig!“ Der VfB wird von dieser Schlagzeile kalt erwischt, wusste nichts über die Gespräche im Hintergrund.

26. Juni: Erst nach Veröffentlichung des BILD-Artikels meldet sich Bachmann bei den Stuttgartern und teilt den Bossen mit, das Angebot zur Vertragsverlängerung nicht anzunehmen. Wenige Minuten später ruft Woltemade VfB-Trainer Sebastian Hoeneß (43) an, offenbart ihm seinen Wechsel-Wunsch. Das Telefonat wird schnell emotional. Hoeneß macht seinem Goalgetter klar, ihn unter keinen Umständen ziehen lassen zu wollen. Am späten Abend kontaktiert der FC Bayern erstmals den VfB. Eberl informiert Wohlgemuth über das Interesse an Woltemade. Die Stuttgarter sind verärgert über das heimliche Vorgehen der Münchner. Am selben Abend erhält auch VfB-Boss Alex­ander Wehrle einen Anruf von Bayern-CEO Jan-Christian Dreesen. Es wird beschlossen, dass die beiden Vorstandschefs fortan die Verhandlungsführung übernehmen.

29. Juni: Woltemade will nur zum FC Bayern! Am Vormittag nach dem verlorenen U21-EM-Finale gegen England (2:3) sagt er den bis dahin ebenfalls interessierten FC Chelsea und SSC Neapel ab.

8. Juli: Die erste Elefantenrunde findet statt. In einer Videoschalte um 15 Uhr diskutieren Dreesen und Eberl mit Wehrle und Wohlgemuth über mögliche Wechselmodalitäten. Konkrete Zahlen nennen die Bayern zur Verwunderung der Stuttgarter aber nicht.

10. Juli: Das passiert erst zwei Tage später. Die Münchner schicken am späten Abend ein schriftliches Angebot von 40 Millionen Euro plus 5 Millionen Euro Boni nach Stuttgart. Bezeichnend: Eberl steht in der Angebots-E-Mail nur in „CC“.

11. Juli: Es dauert keine zwölf Stunden, bis der VfB die Offerte ablehnt. Die Antwort-Mail senden Wehrle und Wohlgemuth den Bayern um kurz vor 11 Uhr. Sie enthält die Bitte, das Werben um Woltemade zu beenden, damit sich der Spieler nun wieder voll und ganz auf seine Aufgaben beim VfB konzentrieren kann. Das Antwortschreiben ist in einem Word-Dokument angefügt. Dort heißt es u. a.: „Vielen Dank für Ihren Vorschlag. Die Abweichung zu unseren Vorstellungen ist derart fundamental, dass wir die Chance auf eine Einigung als absolut unrealistisch bezeichnen müssen.“ Weiter heißt es, dass der „sportliche Verlust weitaus gravierender“ sei, als das Angebot der Bayern „einen Mehrwert taxiert“. Die Stuttgarter schließen mit: „Aus diesem Grund möchten wir die Gespräche beenden. Wir bitten Sie darum, von weiteren Werbungsversuchen abzusehen.“

15. Juli: Bayern schickt das nächste Angebot nach Stuttgart. Diesmal bieten die Münchner 50 Millionen Euro plus 5 Millionen Euro Boni, zudem eine Weiterverkaufsbeteiligung von 10 Prozent.

16. Juli: Auch diese Offerte schmettern die VfB-Bosse am Vormittag ab. Die Bayern wollen ein persönliches Treffen, um zu verhandeln. Wehrle und Wohlgemuth lehnen das mit folgenden Sätzen ab: „Unser Ansatz, auf persönliche Gespräche zu verzichten, ist darin begründet, dass wir zu weit auseinanderliegen. Daran ändert auch Euer jüngstes Angebot nichts.“ Bemerkenswert: Wird sich in der ersten Mail noch gesiezt, ist man nun per Du. An Chef-Verhandler Dreesen wird dann auch folgender Wunsch adressiert: „Wir bitten Dich, hierzu unsere Position zu respektieren.“ Mit dem Stuttgarter Präsidialausschuss haben die beiden Vorstände da schon längst vereinbart, Woltemade nur bei einem außergewöhnlichen Angebot zu verkaufen: Dieses müsse bei 75 Mio. Euro liegen!

18. Juli: Es wird hitzig! Bachmann geht öffentlich auf den VfB los. Der „Deutschen Presse-Agentur“ sagt er: „Wenn ein Bundesliga-Rekordangebot von 55 Millionen Euro nicht einmal für ein gemeinsames persönliches Treffen reicht, stellt sich die Frage, was der VfB eigentlich für außergewöhnlich hält. Das war so nicht abzusehen.“

Die Bayern beenden die Video-Schalte

20. Juli: Bei einer Veranstaltung zum 20-Jahre-Jubiläum der Allianz Arena geht Dreesen auf Kuschelkurs mit Eberl, betont demonstrativ die gute Zusammenarbeit mit „meinem geschätzten Kollegen“. Dreesen räumt bei der Hervorhebung der Eberl-Rolle im Zuge der Verpflichtung von Luis Díaz (28/FC Liverpool) sogar offen ein: „Vielleicht haben wir es auch betont, weil in einem anderen Kontext eine E-Mail mit einem CC zitiert wurde.“

1. August: Bachmann besucht Woltemade im Stuttgarter Mannschaftshotel im Trainingslager am Tegernsee. Danach telefoniert er mit Wohlgemuth – ohne Ergebnis! Zu einem Treffen der beiden Klubs kommt es nicht.

4. August: Die Wechsel-Tür geht einen Spalt auf. Bachmann kontaktiert zuerst Wehrle, dann Dreesen. Und bekommt die beiden dazu, noch einmal über den Deal zu sprechen. Alle Seiten vereinbaren: keine Leaks mehr an Medien, Gespräche nur hinter verschlossenen Türen!

6. August: In Stuttgart kommt es zu einer Geheimsitzung. Mit am Tisch: Wehrle, Wohlgemuth, Gentner und Hoeneß. Die vier diskutieren eine mögliche Deadline, bis wann Klarheit darüber herrschen soll, ob Woltemade kommende Saison beim VfB spielt oder nicht.

9. August: Bachmann fliegt nach München, trifft sich in der Innenstadt mit Dreesen. Beide ringen um mögliche Ablöse-Modelle. Letztlich entwickeln sie folgende Idee: Woltemade und Bachmann verzichten auf die Provision, die ihnen der VfB bei einem Wechsel überweisen müsste. Diese liegt bei rund zehn Prozent der Ablösesumme. Daraufhin informieren die Bayern die VfB-Bosse darüber, ihnen einen neuen Vorschlag machen zu wollen.

12. August: Woltemade erscheint im Büro von Wehrle und bittet den Stuttgart-CEO, eine Lösung mit Bayern zu finden. Ein paar Stunden später wird im VfB-Präsidialausschuss der Beschluss, 75 Millionen Euro für ihren Shootingstar zu verlangen, bestätigt.

13. August: Es kommt um 11 Uhr zu einem knapp 20-minütigen Teams-Call zwischen Bayern und Stuttgart, in dem Dreesen den VfB-Bossen einen neuen Vorschlag unterbreitet: 55 Millionen Euro plus den mit Bachmann vereinbarten Provisionsverzicht. Als die Münchner von Stuttgarts 75-Millionen-Euro-Forderung hören, ist die Videoschalte schnell beendet. So viel Geld will Bayern in keinem Fall bezahlen.

13. August: Am Abend liegen die Nerven blank! Bachmann schießt wieder öffentlich gegen den VfB, über die „Deutsche Presse-Agentur“ wirft er den Stuttgartern Wortbruch vor.

14. August: Komplett aufgegeben haben den Wechsel trotzdem noch nicht alle Bayern. Es gibt zwei Lager. Während Eberl sich mehrere Wochen nicht bei der Spielerseite gemeldet hat, ist es vor allem Dreesen, der weiter den Austausch sucht. Und Woltemade auch am Tag nach dem gescheiterten Video-Call signalisiert, dass er immer noch an den Deal glaubt und den Kontakt zum Spieler weiter pflegen will. Würde der VfB die Türe einen Spalt öffnen, wären die Bayern weiter bereit, Woltemade für einen Preis unter 75 Millionen Euro zu holen.

16. August: Unmittelbar vor dem Supercup sagt Wehrle am Sky-Mikro: „Wir haben es unter der Woche mit Bayern geklärt. Deshalb ist die Akte geschlossen. Von daher ist es erledigt.“

Ob das bis zum Transferschluss am 1. September so bleibt? Offen! In diesem Transfer-Poker ist alles möglich ...

Das Stück wurde für das Sport-Kompetenzcenter (WELT, „Bild“, „Sport Bild“) erstellt und zuerst in der „Sport Bild“ veröffentlicht.

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