Lipowitz? „Ich wäre gern sein Mentor“
Wie aus dem Nichts ist ein neuer deutscher Sport-Star geboren: Florian Lipowitz ist der erste deutsche auf dem Podium der Tour de France seit fast zwei Jahrzehnten. Der kometenhafte Aufstieg des 24-Jährigen erinnert viele an Jan Ullrich – auch Ullrich selbst. Im WELT-Interview spricht der erfolgreichste deutsche Radfahrer über den neuen Radsport-Hype, seine eigenen Höhen und Tiefen, seine Freundschaft zu Lance Armstrong und seine Rolle als Vater.
WELT: Die Fahrer haben Paris erreicht. Die Tour ist vorbei. War das die beste Tour seit Jahren?
Jan Ullrich: Ja, das war es! Es war eine spannende, mitreißende Tour. Ich möchte gleich mal herzlichen Glückwunsch an Florian Lipowitz sagen für seinen dritten Gesamtplatz und den Sieg in der Nachwuchsfahrerwertung. Er hat meinen kompletten Respekt verdient, wie er sich da durchgekämpft hat. In seiner ersten Tour auf Platz drei zu landen, ist gigantisch. Ich hab so sehr mitgefiebert, dass ich jetzt selbst Fieber bekommen habe. (lacht)
WELT: Es ist in Deutschland in den vergangenen drei Wochen ein echter Hype entstanden. Ist das der Beginn eines neuen Booms im deutschen Radsport wie Ende der Neunzigerjahre?
Ullrich: Auf jeden Fall. Wir haben einen Boom. Nach Andreas Klöden 2006 auf dem Podium der Tour de France war es lange Zeit ruhig. Jetzt ist endlich wieder ein deutscher Fahrer vorn mit dabei. Florian ist eine großartige Tour gefahren.
WELT: Florian Lipowitz ist nicht nur auf das Podium gefahren, sondern hat auch die Nachwuchsfahrerwertung, das weiße Trikot gewonnen – etwas, das in Deutschland zuletzt Sie geschafft haben. Wie viel Jan Ullrich steckt in Florian Lipowitz?
Ullrich: Ich sehe schon einige Parallelen. Er ist bei seiner ersten Tour direkt aufs Podium gefahren – wie ich auch. Er war eigentlich nicht der Kapitän – das war ich auch nicht. Er ist auch ein ruhiger Typ und steht auch nicht so gern im Rampenlicht. Er fährt stark im Zeitfahren und am Berg, das konnte ich auch ganz gut. Zwischen Lipowitz und mir gibt es auf jeden Fall Parallelen.
WELT: Ist Florian Lipowitz der beste deutsche Fahrer seit Jan Ullrich?
Ullrich: Da würde ich Andreas Klöden ein bisschen auf den Schlips treten. (lacht) Aber ja, auf das Podium der Tour zu fahren, ist eine riesige Leistung. Florian ist erst der vierte Deutsche, dem das gelungen ist, nach Kurt Stöpel, Andreas Klöden und mir. Er hat das in seiner ersten Tour geschafft, das ist beeindruckend und hat meinen größten Respekt. Ich bin Feuer und Flamme für Lipowitz – ich bin wirklich großer Fan von ihm geworden.
WELT: Lipowitz hat erzählt, dass er Sie persönlich noch nicht kennengelernt hat, Stimmt das?
Ullrich: Nicht ganz. Vor zwei Jahren bei der Deutschen Meisterschaft habe ich ihm persönlich gratuliert. Danach hatten wir noch keinen richtigen Kontakt, aber das wird kommen.
WELT: Ist ein Treffen geplant?
Ullrich: Das wünsche ich mir. Ich habe ihn bis jetzt bewusst in Ruhe gelassen, weil ich weiß, was jetzt auf ihn zukommt.
WELT: Sie sind vermutlich der einzige Deutsche, der das wirklich weiß. Welchen Rat würden Sie Lipowitz geben, nicht nur sportlich, sondern auch menschlich?
Ullrich: Ich würde ihm raten, das alles erst mal zu genießen. Er muss die Situation annehmen. Wichtig ist in so einer Situation immer das Umfeld. Und da scheint er großes Glück zu haben. Er sollte sich Zeit nehmen, sich in Ruhe weiterzuentwickeln und das alles auf sich wirken lassen.
WELT: Sie sind in Ihrer ersten Tour aufs Podium und ins weiße Trikot gefahren – wie Lipowitz – und haben die zweite Tour de France dann gewonnen. Kann Lipowitz das auch – hat er das Zeug zum Tour-Sieger?
Ullrich: Ganz klar: Ja! Er ist jung, hat noch viel Luft nach oben. Natürlich sind Pogacar und Vingegaard starke Konkurrenten, aber Florian kann sogar noch besser werden. Er hat die Zukunft vor sich. Ich bin überzeugt davon, dass er es schaffen kann.
WELT: Wie ist das psychisch, plötzlich, so jung, so berühmt zu sein, mit der ganzen Aufmerksamkeit und dem Druck in den Medien?
Ullrich: Sein Leben wird sich jetzt total ändern. Florian ist so wie ich, eher zurückhaltend, möchte nicht im Rampenlicht stehen. Aber er muss jetzt lernen, dass er nun im Rampenlicht steht. Er muss jetzt das lernen, was ich auch damals lernen musste. Das war nicht immer leicht, aber wenn er damit klarkommt, wird er irgendwann ganz oben stehen.
WELT: Zwei waren noch besser als Lipowitz, einer sogar deutlich besser. Der Dominator Tadej Pogacar hat zum vierten Mal die Tour de France gewonnen. Ist er der beste Radfahrer der Geschichte?
Ullrich: Ja. Ich habe nie einen Besseren gesehen.
WELT: Sogar besser als Lance Armstrong?
Ullrich: Ja. Er ist kompletter. Er hat eine unfassbare Leichtigkeit, ist vielseitig, positiv und kann auch noch gut mit den Medien. Pogacar beeindruckt mich sehr.
WELT: Der Radsport hat sich verändert, es wird viel offensiver gefahren. Diese Tour de France war die schnellste aller Zeiten. Die Fahrer sind jetzt schneller als zu Ihrer Zeit, obwohl damals nicht alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Kann man das noch mit legalen Mitteln erklären? Wie sauber ist der Radsport heute?
Ullrich: Ich kann mir das erklären. Ich sehe, wie professionell alles heute geworden ist, von der Ausstattung bis zur Ernährung und Trainingsmethodik. Alles ist so viel professioneller als bei uns. Wir haben damals Nutella gegessen und die verkochten Spaghetti aus der Hotelküche, heute ist das völlig undenkbar. Die Teams haben mehrere Köche, Ernährungswissenschaftler und ein ganzes Team, was dir genau sagt, was du wann essen musst. Außerdem war mein Fahrrad drei Kilo schwerer als das von Pogacar heute. Der Sport hat sich in den letzten Jahren wahnsinnig verändert, deswegen kann ich mir den Leistungssprung erklären. Ich bin davon überzeugt, dass der Radsport viel sauberer geworden ist.
WELT: Sie waren ein großes Idol unseres Landes, wurden gefeiert und geliebt, und ganz Deutschland hat wochenlang zugeschaut, wie sie durch Frankreich gefahren sind. Trotzdem wurden Sie später von der Öffentlichkeit fallengelassen. Ihr Teamkollege Andreas Klöden hat vor wenigen Tagen gesagt, er wurden damals so schlecht behandelt, dass er sauer auf Deutschland geworden ist. Waren Sie auch sauer auf Deutschland?
Ullrich: Ich habe das damals auch nicht verstanden. Aber mittlerweile weiß ich: Wir, ich habe Fehler gemacht. Und die bereue ich. Damals habe ich das Problem nicht verstanden, heute ist das anders. Aber lassen Sie uns lieber über Positives sprechen – vielleicht über Florian Lipowitz?
WELT: Oder über Ihren ewigen Rivalen Lance Armstrong.
Ullrich: Lance ist ein guter Freund von mir geworden. Aus dem größten Rivalen wurde ein guter Freund. Vermutlich, weil wir dieselbe Geschichte teilen. Großer Erfolg, viele Siege und dann noch diese Sache mit dem Doping … Wir verstehen einander und wissen, was der andere durchgemacht hat. Lance hat mir in der schwersten Zeit meines Lebens geholfen. Er hat mir geholfen, da wieder rauszukommen. Dafür bin ich ihm ewig dankbar. Ich weiß, dass ich zu ihm gehen kann, wenn ich einmal einen Rat oder irgendetwas brauche. Er ist vor einigen Wochen extra nach Deutschland geflogen, um mit mir Fahrrad fahren zu gehen.
WELT: Hängen Sie Armstrong heute am Berg ab?
Ullrich: Mit meinem Fieber gerade eher nicht. (lacht) Ich bin mir nicht sicher, Lance trainiert mega viel, jeden Tag. Er fährt kein Rad mehr, aber er ist topfit. Ich bin seit meinem Unfall – mich hat ein Auto vor ein paar Wochen umgefahren – noch nicht wieder bei hundert Prozent. Ich sitze wieder auf dem Rad, aber gerade würde Lance mich stehen lassen …
WELT: Sie haben in Ihrem Leben unglaubliche Höhen, aber auch Tiefen erlebt. Sie waren der gefeierte Held einer Nation, sind bis heute der einzige deutsche Tour de France Sieger. Sie waren aber auch – so haben Sie das gesagt – vor einigen Jahren kurz vorm Tod. Jetzt geht es Ihnen offenkundig wieder gut und sie sind wieder zurück in der Öffentlichkeit. Wie sieht ihr Leben heute aus? Was macht Jan Ullrich im Alltag?
Ullrich: Ich bin wieder zurück. Auch im Radsport. Ich habe viele Projekte seither gemacht. Eine Dokumentation gedreht, ein Buch geschrieben, ein eigenes Museum eröffnet und jetzt sogar einen eigenen Podcast namens „Ulle und Rick“ mit dem Sohn meines ehemaligen Teamkollegen Erik Zabel. Ich veranstalte Radevents, bin TV-Experte, Markenbotschafter und Motivations-Speaker.
WELT: Können Sie sich vorstellen, beruflich tiefer in den Profisport einzusteigen, vielleicht als sportlicher Leiter oder Manager eines Teams?
Ullrich: Im Moment sehe ich das nicht. Das ist mir gerade zu aufwendig. Aber irgendetwas im Radsport kann ich mir schon vorstellen.
WELT: Vielleicht Mentor für Florian Lipowitz?
Ullrich: Ja. Alles, was er jetzt durchmacht, habe ich hinter mir. Ich wäre gern sein Mentor. Stehe gern mit Rat und Tat zur Seite. Florian braucht keine Angst vor mir zu haben und soll mir gern alle Fragen stellen.
WELT: Sie haben drei Söhne, zwei davon sind aktive Fahrradfahrer. Im Juniorenbereich sind sie schon ziemlich erfolgreich – haben wir bald zwei neue Ulles im Sport?
Ullrich: Meine beiden jüngeren Söhne sind Feuer und Flamme für den Sport. Sie lieben Radsport und es macht ihnen wirklich großen Spaß. Wie es dann weitergeht? Meine Ex-Frau und ich üben keinen Druck aus, wir erwarten gar nichts. Aber momentan sieht es ganz gut aus. Für mich als Vater gibt es nichts Schöneres, als mit meinen Kindern Rad zu fahren.
WELT: Können Sie noch mithalten oder hängen die Söhne sie mittlerweile ab?
Ullrich: Bergab kann ich noch mithalten, aber sobald es berghoch geht, habe ich meine Probleme. Da sind meine Jungs mittlerweile schneller.
WELT: Würden Sie es Ihren Söhnen empfehlen, Radprofis zu werden?
Ullrich: Absolut. Radsport ist einfach wunderbar.
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