Es ist laut. „Was denkst du, wer du bist?“ Miron Muslic, der Trainer von Schalke 04, schreit über den Platz, packt Stürmer Peter Remmert. Der 42-Jährige geigt dem 19-Jährigen die Meinung. Vor Mitspielern, Fans und Journalisten. Wenn Muslic laut wird, ist er nicht zu überhören, seine tiefe Stimme dröhnt wie aus einer Bassbox.

Sekunden später grätscht der eben noch kritisierte Remmert den Ball ins Tor. Muslic jubelt am lautesten. Wieder brüllt er, diesmal sind es Freudenschreie.

Zuckerbrot und Peitsche – etwas, das Muslic oft und gezielt einsetzt. Er bringt Energie, Lautstärke und Leidenschaft auf den Platz. Eigenschaften, die dem schlaffen Schalke zuletzt so sehr fehlten.

Flucht aus Bosnien nach Österreich

Die Geschichte des 42-Jährigen beginnt in Bihac. In der Stadt im Nordwesten Bosniens wuchs Muslic auf. Er hatte eine schöne Kindheit, lebte mit seinen Eltern und seiner Schwester Marinela in einem Haus. Bis sich über Nacht alles veränderte.

Krieg brach aus, die Heimat war nicht mehr sicher. Die Familie floh im Jahr 1992, ließ Haus und Hof zurück. Die Flucht endete in Österreich. In Tirol arbeiteten seine Eltern als Saisonarbeiter in Hotels. Miron war damals neun Jahre alt. Immer wieder zog er um: neue Schule, neue Freunde. Diesen Zustand, so schwor er sich damals, wollte er seinen Kindern später ersparen.

33 Jahre später ist Österreich – Muslic erhielt 2003 die Staatsbürgerschaft – noch immer der Mittelpunkt seiner Familie. Seine Eltern sind in Rente, pendeln zwischen Bosnien im Sommer und Tirol im Winter. Seine Schwester ist verheiratet, hat drei Kinder. So wie Muslic, der seit 21 Jahren mit Ensada verheiratet ist.

Aber viel Zeit für die Familie hat er nicht. Er hält sein Versprechen, erspart seinen Liebsten Umzug um Umzug. Als Trainer-Nomade lebte er alleine in Belgien, in England und jetzt auch in Gelsenkirchen. Frau und Kinder leben in Österreich, besuchen ihn aber regelmäßig.

Lob von den Experten

Der ehemalige Mittelstürmer kickte hauptsächlich in der österreichischen Regionalliga, kam für den SV Ried immerhin viermal in der Bundesliga zum Einsatz. Sein Trainer damals war Thomas Weissenböck, der für Muslic später sehr wichtig wurde. Weissenböck leitete einen Kurs für das B-Trainer-Diplom. Einer der Teilnehmer: Miron Muslic. „Er bringt alle Tugenden mit, die man als erfolgreicher Trainer braucht. Er ist ehrgeizig, lernwillig, und er hat ein gutes Gefühl für seine Spieler“, erzählt Weissenböck: „Die Jugendspieler und deren Eltern haben ihn geliebt. Er hat einen extrem positiven Eindruck hinterlassen. Er hat die Spieler begeistert und hat es geschafft, den Funken überspringen zu lassen.“

Als Cheftrainer in Ried blieb Muslic zwar glücklos. In Belgien bei Cercle Brügge änderte sich das. Sein erster Einsatz – Muslic ersetzte den erkrankten Cheftrainer Dominik Thalhammer – ging zwar verloren (1:2). Aber er überzeugte trotzdem.

Der belgische TV-Kommentator Filip Joos erinnert sich: „Ich konnte meinen Augen nicht trauen. Er hat das Team in kürzester Zeit umgekrempelt. Es war beeindruckend, wie Cercle Brügge plötzlich gespielt hat. Es wirkte so, als hätte er das Team bereits seit Monaten trainiert, aber er war nur der Assistent, und niemand hatte ihn auf dem Zettel.“ Muslic wurde ein Jahr später befördert, feierte mit Brügge seinen erfolgreichsten Karriere-Abschnitt, inklusive der Qualifikation für die Conference League.

Warum aber ein in Deutschland unbekannter Coach, der gerade abgestiegen ist? Der Verein um Sportvorstand Frank Baumann hat sich die Entscheidung gut überlegt. Zuerst wurde die Spielidee entwickelt, dann ein passender Trainer dazu gesucht. Ein Sportpsychologe war Teil des Auswahlprozesses. Ehemalige Spieler und Verantwortliche wurden befragt, Daten, Videos, Zahlen analysiert. Letztendlich überzeugte Muslic – auch als Typ, setzte sich gegen mehrere Kandidaten durch.

Weiß Muslic, worauf er sich eingelassen hat? Schalke durchlebt die größte Krise in der Vereinsgeschichte. Der Glanz von einst ist verblasst. Die Verbindlichkeiten so hoch, dass sogar ein Punktabzug droht. Die Fans aber wollen schnell zurück in die Bundesliga. Auf Schalke wird jeder Schritt, jede Entscheidung eines Trainers verfolgt, bewertet und eingeordnet. Ist das der echte Miron Muslic, der da auf dem Trainingsplatz brüllt und lobt? Oder zieht er eine Show für die Kameras und Fans ab?

„Alles, was ich von den Jungs verlange, muss ich vorleben“

„Das bin zu hundert Prozent ich. Ich kann nicht anders. Alles, was ich von den Jungs verlange, muss ich vorleben. Energie, Leidenschaft, Bereitschaft – die Jungs ziehen da aber voll mit“, sagte er im Trainingslager.

Wie groß die Strahlkraft von Schalke trotz aller Probleme noch immer ist, zeigte sich erst am Samstag: Rund 80.000 Fans kamen zum „Schalke Tach“, der offiziellen Saisoneröffnungsfeier vor dem ersten Pflichtspiel in der zweiten Fußball-Bundesliga am Freitag (20.30 Uhr) gegen Hertha BSC. Zur Generalprobe gegen den FC Sevilla am Samstagabend beim 2:4 (0:2) waren noch 45.774 Zuschauer in der Arena.

Die Energie und Power, die Muslic in jedem Training auf dem Platz zeigt, überrascht. Das gab es länger nicht auf Schalke. Muslic bringt vollen Einsatz, macht Übungen vor. Er unterbricht, wird lauter, lobt, kritisiert, scherzt auch mal. Der gebürtige Bosnier bleibt dabei aber immer auf Augenhöhe, es geht ihm um die Sache. Er nimmt sich die Zeit für ein Extratraining mit einzelnen Profis. Sein Vorteil: Muslic spricht Deutsch, Englisch, Serbokroatisch, Französisch. In einem Profikader mit 13 Nationalitäten kann er so einfach kommunizieren.

Vize-Kapitän Nikola Katic war der absolute Wunschtransfer des neuen Trainers. Beide arbeiteten bereits in England zusammen. „Er ist vermutlich der beste Kommunikator, den ich in meinem Leben gehört habe. Er spricht mehrere Sprachen fließend. Wenn er Meetings abhält, murmelt er nicht vor sich hin oder unterbricht ständig.“

Ob er die Königsblauen wieder in die Erfolgsspur führt und die Spieler zu Höchstleistungen antreibt? Unklar. TV-Mann Joost traut es ihm zu: „In meinen Augen ist er der richtige Mann für Schalke. Er wird einen Weg finden, um das Team besser zu machen.“

Der Artikel wurde für das Sport-Kompetenzcenter (WELT, SPORT BILD, BILD) verfasst und zuerst in „Bild am Sonntag“ veröffentlicht.

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