Wie Laura Siegemund ganz Wimbledon die Fassung raubte
Eine 37-Jährige als heimliche Heldin: Laura Siegemund fasziniert dieses Jahr ganz Wimbledon - und entnervt ihre Gegnerinnen. Mit ihrer speziellen Zermürbungstaktik bringt die Deutsche die Konkurrenz so sehr zur Verzweiflung, dass mancher gar "dunkle Künste" erkennt.
Die silberne Rosewater-Dish-Trophäe durfte am Samstag nach dem Finale zwar Iga Swiatek zum ersten Mal in die Höhe halten, aber auch Laura Siegemund ist eine der Gewinnerinnen von Wimbledon. Die heimliche Heldin. Als Weltranglisten-104. spielt sie sich in den vergangenen zwei Wochen sensationell unter die besten Acht beim Rasen-Klassiker. Mit 37 Jahren, als zweitälteste im gesamten Hauptfeld.
Für Siegemund ist es nach den French Open 2020 erst das zweite Viertelfinale im Einzel bei einem Grand-Slam-Turnier in ihrer langen Karriere. Allein dieser Erfolg in ihrem fortgeschrittenen Alter verdient Hochachtung. Doch der Schwäbin gelingt weitaus mehr. Sie steigt zur Nervensäge von Wimbledon auf. Absolut positiv gemeint. Mit einer speziellen Taktik zermürbt und verärgert sie, wer sich ihr in den Weg stellt - und mutiert urplötzlich zu einer der schwierigsten Konkurrentinnen im Tennis.
Schon lange nicht mehr gab es in Wimbledon eine Spielerin, die ihre Gegnerinnen -absolute Topstars - auf dem Heiligen Rasen derart entnervt wie Siegemund, die eigentlich bekannt ist für ihre Erfolge im Doppel und Mixed. Die letzte war vielleicht eine andere Deutsche: Tatjana Maria, die vor drei Jahren mit ihrem unorthodoxen Slice- und Lob-Spiel bis ins Halbfinale vordrang. Ansonsten dominieren im Damen-Tennis Powerfrauen mit einem massiven Wumms von der Grundlinie.
Sabalenka will sich nicht "nerven" lassen
Siegemund scheitert am Dienstag Millimeter vor dem Halbfinale. In einem wahren Thriller und nach großem Kampf. Beim 6:4, 2:6, 4:6 bringt sie sogar die beste Tennisspielerin auf dem Planeten, die Weltranglistenerste Aryna Sabalenka, an den Rand der Verzweiflung. An den äußersten Rand einer sensationellen Pleite.
168 Zentimeter misst Siegemund, 182 das Kraftpaket Sabalenka, die anschließend in einem Halbfinal-Krimi Amanda Anisimova unterliegt. Die Belarussin haut der Deutschen in bekannter Manier die Bälle um die Ohren, dass es nur so knallt. Und was macht Siegemund? Returniert beinahe jeden Aufschlag ins Feld und breakt sie ganze sechsmal. Beantwortet die Vorhandpeitschen der 27-Jährigen mit cleveren, unterschnittenen Slice-Bällen. Streut Drop-Shots ein, die kurz hinter dem Netz auf den Rasen tropfen und ihre Gegnerin zur Weißglut bringen. Es ist eine für das Gegenüber unangenehme Variabilität, die die Struktur Sabalenkas immer wieder zerstört, die ihresgleichen sucht und die Siegemund in diesen Wochen so perfekt wie nie zuvor zelebriert.
Dabei hat sich die Weltranglistenerste vor dem Spiel extra dazu geäußert, dass sie sich von Siegemunds Spiel nicht "nerven" lassen wolle. Doch irgendwann kann die überaus emotionale Sabalenka nicht mehr anders. Irgendwann ist der x-te Tempowechsel einer zu viel. Sie flucht mit sich selbst, gestikuliert in Richtung ihrer Box, drischt frustriert aufs Netz ein.
"Das macht einen einfach wahnsinnig"
"Sie hat ein Spiel, das mir nicht wirklich gefällt", beschwert sich unter der Woche schon die Argentinierin Solana Sierra, die Siegemund im Achtelfinale schlägt. Tennis-Ikone Billie Jean King erklärt mit ihrer ganzen Erfahrung: "Das ist Rasentennis. Auf einem anderen Belag geht das nicht, aber auf diesem Platz, bei schwierigen Platzverhältnissen, bleibt der Ball so niedrig. Das macht einen einfach wahnsinnig!"
Zum Zeitpunkt von Sabalenkas Netz-Ausraster im dritten Satz, kurz vor der Ziellinie, sieht Siegemund wie die Siegerin aus. So hat sie in den Runden zuvor auch schon die Australian-Open-Siegerin und in Wimbledon an Rang 6 gesetzte Madison Keys aus den USA bis zum Ausscheiden genervt. Oder etwa die kanadische Topspielerin Leylah Fernandez zermürbt. Damit rechnete vor dem Turnier niemand. Auch Siegemund selbst nicht.
Die 37-Jährige - die ein Psychologie-Studium abgeschlossen hat, was ihr laut eigenen Aussagen beim Tennis "überhaupt nichts" bringe - ärgert ihre Gegnerin aber nicht nur mit ihrem variablen Tennis, sondern auch mit psychologischen Tricks. Wenn Sabalenka, die gerne im Flow bleiben will, schon zum eigenen Service bereitsteht, trocknet sich Siegemund am Rand noch in aller Seelenruhe mit dem Handtuch ab. Zwischen Aufschlag- und Returnspielen nimmt sie sich immer wieder lange Sekunden, um den Schläger zu wechseln. Und bei den eigenen Aufschlägen lässt sich die Deutsche fast jedes Mal so viel Zeit, dass es ein Wunder ist, dass sie vom Stuhlschiedsrichter nur eine Zeitstrafe gegen Ende des Spiels aufgebrummt bekommt.
Siegemund und ihre "dunklen Künste"
Taktische Verzögerungen können die Konzentration brechen, den Spielfluss rauben, das Konzept und den Rhythmus zerstören. Siegemund weiß das genau. Sie nutzt diese Waffe, auch wenn sie vielleicht nicht die feinste aller Arten ist, zu ihren Gunsten, weil sie mental so abgebrüht und stark ist wie kaum sonst ein Profi auf der Tour. Und macht damit ihre körperlichen und spielerischen Defizite selbst im hohen Tennisalter wett. Sie bricht die Regeln nicht, aber reizt die Grenzen bis zum Äußersten aus.
Nicht allen gefallen diese Tricks. "Sie brauchte wirklich sehr lange. Von Hawk-Eye erfuhren wir, dass sie zwischen den Punkten 35 Sekunden brauchte, es sollten aber nur 25 Sekunden sein", kritisiert etwa die zweimalige US-Open-Siegerin Tracy Austin bei BBC Sport. "Die New York Times" spricht gar von "dunklen Künsten".
Voodoo und Hexerei? Siegemund selbst beteuert vor dem Duell mit Sabalenka: "Ja, in manchen Matches passieren gewisse Dinge. Ich suche diesen Ärger aber nicht, das ist nicht mein Ziel. Ich weiß, ich habe ein paar sehr kontroverse Eigenarten. Dabei will ich eigentlich niemanden absichtlich durcheinander bringen - auch wenn es oft so interpretiert wird."
Siegemund sucht die Einsamkeit
Doch Sabalenka ist die derzeit Weltbeste, weil sie genau dann zurückschlagen und aufdrehen kann, wenn es brenzlig wird. Nach zwei Stunden und 56 Minuten überrollt sie eine immer müder werdende Siegemund mit ihrem Power-Tennis. Weil die Deutsche immer weniger Kraft zum Nerven hat, macht die Belarussin immer weniger Fehler.
Siegemund habe "ein nerviges Spiel", gibt Sabalenka auf Nachfrage im On-Court-Interview zwar zu, betont aber sofort, dass es sich dabei um ein Kompliment handle. Vielmehr sei es einfach ein "intelligentes" Spiel. "Sie ist eine Spielerin, die einen richtig arbeiten lässt", lobt die Weltranglistenerste.
Die überaus ehrgeizige und perfektionistische Siegemund hört diese Worte schon nicht mehr. Im ersten Moment der Enttäuschung rauscht sie schnell davon, verlässt den Heiligen Rasen und sucht die Einsamkeit. "Runterkommen, die Emotionen rauslassen", berichtet sie später von ihrem Rezept zum Frustabbau. Aber Siegemund erkennt auch, was sie in diesem Jahr in Wimbledon für eine unglaubliche Leistung auf den Platz gebracht hat: "Wenn dann irgendwann mal ein bisschen Entspannung eingekehrt ist, werde ich sicher stolz drauf sein."
Wimbledon-Coup verlängert Siegemunds Karriere
Eigentlich wollte die 37-Jährige sich auf der Tour nur noch so richtig auf das Doppel konzentrieren. Nun aber rutscht sie auf etwa Weltranglistenplatz 50 vor und hat es damit weitaus leichter, bei großen Turnieren im Hauptfeld teilzunehmen. Der Wimbledon-Coup verlängert also ihre Einzelkarriere. Und beschenkt sie mit viel Geld: Mehr als eine Million Euro nimmt sie aus London als Preisgeld mit.
"Ich nehme mit aus dem Turnier, dass ich nach wie vor brandgefährlich bin, nicht nur für große Namen", sagt Laura Siegemund dann noch. Aryna Sabalenka und Co. können mit ihrem in diesen Wochen angesammelten Frust Bücher über die Gefahr Siegemund füllen. Manch Spielerin zittert bereits jetzt vor der Auslosung im nächsten Jahr. Vor der Nervensäge von Wimbledon.
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