Sherida Spitse ist in Europa einsame Spitze: Niemand hat mehr Länderspiele absolviert als die Niederländerin - egal ob Frau oder Mann. Vor 19 Jahren streift sie sich das Trikot zum ersten Mal über, nun spielt die 35-Jährige ihr neuntes großes Turnier.

Alles begann im Supermarkt. Sherida Spitse arbeitete dort mit 16 Jahren, als ihre aufgeregte Mutter vorbeikam. Die damalige niederländische Nationaltrainerin Vera Pauw hatte angerufen und Spitse zum Trainingslager in Frankreich eingeladen. Spitse lief sofort zu ihrem Chef und sagte: Entschuldigung, aber das hat Priorität. Nach nur zwei Wochen kündigte sie ihren Job - und wurde Nationalspielerin. Das war im Sommer 2006. Seitdem ist sie immer dabei. Die Fußball-EM in der Schweiz ist ihr neuntes Turnier (WM, EM, Olympia) für die Oranjeleuwinnen.

245 Spiele liegen inzwischen hinter Spitse. Niemand hat in Europa mehr Länderspiele absolviert als die Niederländerin. Keine Frau, aber auch kein Mann. Am nächsten kommt ihr noch Cristiano Ronaldo mit 221 Partien. Er hat sogar noch drei Jahre vor Spitse sein Debüt gegeben. Die Frauen haben allerdings aufgrund der kleineren Liga weniger Spiele in der Saison - und das bietet UEFA und FIFA die Möglichkeit, mehr Länderspiele im Kalender unterzubringen. Aufgrund der geringeren Belastung kann es zudem sein, dass die Frauen ihre Körper nicht ganz so überstrapazieren und mehr Jahre spielen können.

In Deutschland heißt es meist, Lothar Matthäus ist der Rekord-Nationalspieler. Er kommt auf 150 Einsätze im DFB-Trikot. Satte 214 DFB-Spiele hat Birgit Prinz gemacht und ist damit die Deutsche mit den meisten Länderspielen. Doch auch sie wurde von Spitse übertrumpft.

"Ich bin stolz, dass ich das erreicht habe, aber ich bin noch nicht fertig. Dass ich jetzt die europäische Rekordspielern der Frauen und Männer bin, sagt aber etwas", so Spitse, als sie am 8. April dieses Jahres den bisherigen Rekord der Schwedin Caroline Seger überbot. In Nordamerika gibt es sieben Spielerinnen, die noch mehr Partien im Nationaltrikot gespielt haben, allen voran die weit überragende Kristine Lilly, die von 1987 bis 2010 für die USA spielte - wahnsinnige 354 Einsätze.

"Nichts ist besser als für dein Land zu spielen", sagt die 35-jährige Spitse. "Ich habe immer davon geträumt, für die Niederlande zu spielen, aber als ich mit 16 das erste Mal bei der Nationalmannschaft war, hätte ich nicht gedacht, dass ich nach fast 19 Jahren immer noch dort spielen würde. Ich habe nicht darüber nachgedacht, aber geträumt."

Krönung als Europameisterin 2017

Fußball ist der Mittelpunkt ihres Lebens, und sie ist dankbar, dass ihre Liebsten damit umgehen können. Ihre Kinder Jens und Mila, die sie mit ihrer Ex-Frau Jolien van der Tuin hat. Ihre Geschwister, ihre Eltern. Denn als ihre Eltern sie als Fünfjährige fragten, was für einen Sport sie machen möchte, sagte sie wie aus der Pistole geschossen: Fußball. Es gab nie etwas anderes. Also meldeten ihre Eltern sie beim örtlichen Klub VV Sneek an, sie spielte mit den Jungs. Auch noch mit 16, als sie ihr erstes A-Länderspiel absolvierte. Erst als 2007 die Frauen-Eredivisie eingeführt wurde, wechselte sie zum SC Heerenveen. Sie spielte anschließend bei verschiedenen Klubs in Norwegen und seit 2021 bei Ajax Amsterdam.

Ihr Vater fuhr sie als Kind zum Training, zu den Spielen, sie musste nie den Bus nehmen. Das bedeutete aber auch, dass ihr Vater nicht bei seiner weiteren Tochter sein konnte, wenn diese beim Turnen war. Sherida hatte Priorität, ihre Geschwister Mariska und Dennis sahen den Vater seltener. Das Engagement sollte sich auszahlen. Als 13-Jährige wurde Spitse erstmals für ein Auswahlteam eingeladen, drei Jahre später gab sie ihr Debüt im A-Team. Es war ein Spiel in der Qualifikation für die WM 2007, eine 0:4-Niederlage gegen England. Ihr erstes Turnier, die EM 2009, erlebte sie nur von der Bank aus, doch ab dann ging es bergauf.

2017 gab es die Krönung: Europameisterinnen im eigenen Land. Spitse traf im Finale gegen Dänemark. "Ich habe ein Tor geschossen und war die Spielerin des Spiels - es ist ein Spiel, das ich nie vergessen werde. Ich werde das ganze Turnier nie vergessen, weil es für uns in den Niederlanden und auch für uns als Team etwas verändert hat. Das war ein ganz besonderer Tag und ein ganz besonderes Turnier für uns", sagte sie rückblickend. Zwei Jahre später schafften es die Niederländerinnen ins WM-Finale, mussten sich dort aber den USA geschlagen geben.

"Nicht genügend Respekt"

Seitdem hat sich das Team deutlich verändert, viele Spielerinnen sind nicht mehr dabei. Spitse aber ist immer noch dabei - und ihre ehemalige Mitspielerin Anouk Dekker würdigt dies: "Manchmal habe ich das Gefühl, dass Sherida nicht genügend Respekt entgegengebracht wird. Sie ist eine echte Führungspersönlichkeit und eine bemerkenswerte Person", sagte sie "The Athletic".

Ähnlich äußert sich auch Mark Parsons, der von 2021 bis 2022 Bondscoach war. Doch er stellte bei "The Athletic" die Besonderheit Spitses heraus: "Ich habe schon in erfolgreichen Umgebungen gearbeitet, in denen man über sich hinauswächst. Ich habe auch schon in Umgebungen gearbeitet, in denen man hinter den Erwartungen zurückbleibt. Der Unterschied liegt oft in Menschen wie Sherida - ihrer Führungsstärke, ihrer Intensität, ihrer Konzentration und ihrem Engagement." Und weiter: "Ihre Fähigkeit, jeden Tag 100 Prozent zu geben, ist unglaublich, ebenso wie ihre Fähigkeit, auch von anderen 100 Prozent zu verlangen. Man braucht solche Charaktere, solche Führungspersönlichkeiten, und genau das ist Sherida."

Traum von 250 Länderspielen kann bald wahr werden

Zu ihrer Eigenschaft zählt auch, sich im Nationalteam anzupassen. Der aktuelle Trainer Andries Jonker, der einst die Männer des VfL Wolfsburg trainierte und Co-Trainer beim FC Bayern war, machte vor der WM 2023 aus der Mittelfeldspielerin eine Verteidigerin. Spitse spielt da, wo sie gebraucht wird. Zu ihrer neuen Rolle gehört auch, dass sie nicht mehr in jedem Spiel in der Startelf steht. Gegen Deutschland (0:4) wurde sie Ende Mai nach der Halbzeit eingewechselt, beim EM-Auftakt gegen Wales (3:0) kam sie in der 71. Minute aufs Feld. Vivianne Miedema, der andere große Star des Teams, streifte ihr die Kapitänsbinde über.

Diese trägt sie auch bei Ajax, wo sie seit drei Jahren in jedem Liga-Spiel in der Startelf stand. Warum sie nicht längst Trainerin oder TV-Expertin ist? Spitse spielt einfach für ihr Leben gern Fußball. "Es wäre sehr schön, wenn ich 250 Länderspiele erreichen könnte." Weit ist sie davon nicht mehr entfernt. Gegen England (18 Uhr/ZDF und im ntv.de-Liveticker) könnte ihr 246. Spiel folgen. Sollten die Niederlande ins Finale einziehen - und sollte Spitse in allen Partien bis dahin zum Einsatz kommen - würde sich ihr Traum dann bereits erfüllen. Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg.

Spitse ist aber auch klar im Kopf: Sobald sie im Training oder in Spielen nicht mehr mithalten kann, wird sie zurücktreten, sagte sie in einer Dokumentation ihres Klubs. Bei Ajax aber hat sie gerade erst ihren Vertrag verlängert. Bis 30. Juni 2027. Es sieht nicht so aus, als würde Spitse bald Schluss machen.

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