Die Torhüterin, die sich vor ihren Fans fürchtet
Wales ist zum ersten Mal bei einer Fußball-EM dabei. Torhüterin Safia Middleton-Patel ist die jüngste Spielerin im Kader. Das ist aber nicht der Grund, warum Trainer, Mitspielerinnen und Fans lernen mussten, mit einigen ihrer Eigenheiten umzugehen. Die 20-Jährige ist eine Person im Autismus-Spektrum.
Auf dem rechten Unterarm hat Safia Middleton-Patel eine Legofigur tätowiert. Lego ist die große Leidenschaft der 20-jährigen Waliserin. Doch der Legofigur fehlt der Kopf. Passend dazu steht über den tätowierten Umrissen: "Where is my mind?" (Wo bin ich mit meinen Gedanken?). Es ist eine Erinnerung an sie selbst: Mach mal langsamer, so erklärt Middleton-Patel es in einem Video des walisischen Fußball-Verbands.
Denn die Torhüterin ist gedanklich ständig mit 100 Meilen pro Stunde unterwegs, den ganzen Tag, die ganze Nacht. So beschreibt die Torhüterin, die es als jüngste Spielerin in den walisischen Kader für die Fußball-Europameisterschaft geschafft hat. Zum ersten Mal überhaupt konnte sich Wales qualifizieren. Nein, sie kann das nicht abstellen, diese Eigenschaft ist Teil ihrer Neurodivergenz. Middleton-Patel ist im Autismus-Spektrum.
In ihrem Sport äußert sich das auf gleich mehrere Arten: "Wenn ich spiele, dann bin ich hyperkonzentriert", so Middleton-Patel gegenüber der BBC. "Wenn ich auf dem Trainingsplatz bin oder ein Spiel spiele, höre ich nichts - nur den Ball und mich selbst. Wahrscheinlich höre ich meinen eigenen Herzschlag mehr als alles andere." Für die Torhüterin ist das eine willkommene Abwechslung, denn während andere Fußballerinnen in Spielen in Stress geraten, kommt sie durch die Hyperfokussierung zur Ruhe.
Spielzüge als Lego-Bausteine
Und sie denkt an ihre Lieblingsbeschäftigung: Lego. "Ich stelle mir den nächsten Pass wie den perfekten Legostein vor, der mir in meinem Set noch fehlt", erklärt sie, wie sie das Spiel analysiert: "Ich suche ihn und stelle mich in die richtige Position, um ihn zu finden." Auf jeden Spielzug kann sie so mit einem passenden Stein in einer anderen Farbe reagieren. Diese Taktik hat ihr in der Nations League gegen Schweden im April geholfen, als sie nach dem 1:1 zur Spielerin des Spiels gewählt wurde.
Es war das erste große Ausrufezeichen der 20-Jährigen im Wales-Trikot, gerade einmal vier Länderspiele hat sie bislang absolviert. Zur EM fährt die Torfrau, die bei Manchester United unter Vertrag steht, als Ersatz für Stammtorhüterin Olivia Clark. Und das dürfte zur Belastungsprobe für sie werden. Denn auf der Bank erlebt sie Vieles ganz anders als ihre Teamkolleginnen. Nicht das Nicht-Eingreifen-Können ist das Problem, sondern dass sie etwa Geräusche ganz anders wahrnimmt. "Wenn jemand neben mir sitzt und trinkt, sage ich: 'Warum trinkst du so laut? Kannst du damit aufhören?'" Manchmal hält sie sich gar die Hände über die Ohren - und wer nicht über ihre Neurodivergenz Bescheid weiß, kritisiert sie schonmal als kindisch. So mancher Zuschauer etwa.
Überhaupt sind Fans eine besondere Herausforderung. Zum einen, weil sie Jubel und Klatschen - und die Torhüterin das wie das Trinken besonders laut wahrnimmt. Und zum anderen, weil sie häufig nicht weiß, wie sie mit Menschen umgehen soll: "Ich liebe meine Fans, aber ich fürchte mich auch davor, sie zu treffen, weil ich befürchte, dass ich mich verstellen muss." Sie macht sich Gedanken, ob sie einen vermeintlich falschen Gesichtsausdruck hat, ob sie missverstanden werden kann. Wenn eine Situation sie gerade überstimuliert hat, muss sie sich für einige Minuten in die Ruhe zurückziehen. Doch auch das kann ungünstig enden. Etwa, wenn sie Nachrichten bekommt wie: "Meine Tochter war für dich da und du hast nicht gegrüßt." Während viele Fans nervös sind, ihre Idole zu treffen, geht es Middleton-Patel genauso.
Ärger mit Trainern, aus Verein geflogen
Auch, weil sie schon angeeckt ist. "Wenn man sich mit den Trainern trifft und ich ihnen nicht in die Augen schaue, sondern auf den Stuhl neben mir schaue, fragen sie: 'Was guckst du da? Guckst du dahin? Sieh mich an'." Doch ihr hilft es sich zu konzentrieren, wenn sie etwas "anstarrt, das sich nicht bewegt und keine Gefühle hat". Sie muss dann weniger darüber nachdenken, was ihre Gesprächspartner gerade denken könnten.
Middleton-Patel ist selbst noch Lernende, erst vor zwei Jahren bekam sie ihre Diagnose. Und das auch erst, nachdem sie zusammengebrochen war. Im Februar 2023 ging nämlich alles plötzlich ganz schnell. Debüt im Profifußball während ihrer Leihe zu Coventry, drei Tage später Debüt für Wales. "Danach bin ich gegen eine Mauer gelaufen", sagt sie. "Ich konnte nichts tun. Ich konnte nicht mit meiner Mutter sprechen. Ich lag die meiste Zeit des Tages im Bett - ich konnte nicht essen, ich wollte nichts tun." Dazu ständige Müdigkeit, keine Kontrolle über ihre Emotionen und die Temperaturregulation ihres Körpers funktionierte ebenfalls nicht mehr.
Es ist der Moment, in dem die Andersartigkeit, die sie seit der Schulzeit fühlt, einen Namen bekommt. Es ist der Moment, in dem sie nicht mehr einfach nur "zu schwierig" ist oder "zu streitsüchtig" ist - beides Gründe, aus denen sie bereits aus einem Verein geflogen ist. Es ist der Moment, der ihr Erleichterung bringt. Sie bezeichnet ihre Neurodivergenz als "Superpower", die immer da war, von der sie nur nicht wusste.
Onlineshopping beugt Ängsten vor
Doch es kostet sie viel Kraft, möglichst angepasst zu agieren, so wie sie glaubt, dass ihre Gegenüber es von ihr erwarten. Ruhe findet sie dann beim Legobauen. Die Bausteine aus Dänemark geben ihr darüber hinaus ein Stückchen Normalität. Die meisten Geschäfte meidet Middleton-Patel aus Angst, Verkäuferinnen zu begegnen und mit ihnen interagieren zu müssen. Erklären zu müssen, dass sie einige Materialien aufgrund ihrer Neurodivergenz nicht erträgt. Überhaupt mit ihnen sprechen zu müssen und wieder einmal missverstanden zu werden.
Angesichts dessen fährt sie sogar längere Wege zum Tanken. Selbstbedienungssäulen erübrigen Gespräche und Missverständnisse genauso wie Onlineshopping. Nur bei Lego ist das anders. Sie weiß genau, was sie im Laden will. Und: "Ich kann mich sogar mit den Verkäufern unterhalten, weil sie Lego genauso lieben wie ich."
Fußball liebt Safia Middleton-Patel ebenfalls. So sehr, dass sie es geschafft hat, bei der walisischen EM-Premiere dabei zu sein. Auch wenn Wales in der Gruppe D mit den Titelverteidigerinnen aus England, den Mitfavoritinnen aus Frankreich sowie den Europameisterinnen von 2017, den Niederlanden, der klare Außenseiter ist. Es fügt sich alles zusammen. So wie die Legosteine für ein Bauwerk.
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