Für die Kleinen hatte sich der Mann der Stunde eine freche Überraschung überlegt. Mit dem Fahrrad fuhr Nick Woltemade in dieser Woche über das Adidas-Gelände in Herzogenaurach, aktuell das Quartier der deutschen Fußball-Nationalmannschaft. Der Stürmer vom VfB Stuttgart näherte sich mit seinem Kollegen Deniz Undav von hinten einer Gruppe junger Fans, erschreckte sie mit seiner Klingel und sagte: „Aufpassen! Ich bin der Flo Wirtz.“ Undav stellte sich aus Spaß als Serge Gnabry vor. Freude und Gelächter bei den Jungs, Grinsen bei ihren Idolen. Dann kickten Woldemade und Undav mit den strahlenden Kindern.

Es ist eine ganz besondere Woche für Woltemade. Erstmals ist der 23-jährige Stürmer für die A-Auswahl nominiert. Seit Freitag bereitet er sich in Herzogenaurach auf das Halbfinale der Nations League gegen Portugal am Mittwoch (21 Uhr, ZDF und DAZN) im Münchner Stadion vor. Und könnte gleich in seiner ersten Partie für die deutsche Mannschaft von Beginn an spielen. Im Debüt gegen Superstar Cristiano Ronaldo – es wäre eine weitere Episode in dieser bisher sehr bewegten verrückten Fußballprofi-Laufbahn. Und ein weiterer Höhepunkt in der bislang besten Saison in Woltemades Profileben.

Bundestrainer Julian Nagelsmann räumte Woltemade öffentlich Chancen auf einen Startelf-Einsatz ein, „sonst wäre er nicht hier.“ Nagelsmann sagte zudem: „Wir haben mit Tim Kleindienst und Kai Havertz vom Positionsprofil her zwei Ausfälle, die wir mit anderen Spielern nicht so gut ersetzen können. Da passt Nick natürlich sehr, sehr gut rein. Wir haben mit ihm einen sehr guten Stürmer im Kader, der das Momentum auf seiner Seite hat und außergewöhnliche Fähigkeiten mitbringt.“

Auch Jonathan Burkardt vom 1. FSV Mainz 05 ist verletzt, musste wegen einer Risswunde an der Ferse abreisen. Die Personalsorgen im Sturm dürften Woltemades Chance auf einen Einsatz noch mal vergrößern.

Mit Rudi Völler, Sportdirektor des Deutschen Fußball-Bundes (DFB), war Nagelsmann kürzlich beim DFB-Pokalfinale, das der VfB gegen Arminia Bielefeld gewann (4:2). Gemeinsam habe man, so Völler, beobachten können, welche technischen Fähigkeiten Woltemade habe „und mit welcher Eleganz er Gegenspieler umdribbeln kann.“

Woltemade bleibt trotz des Hypes um ihn bodenständig und locker – auf und außerhalb des Rasens. Beim öffentlichen Training zeigte er ganz lässig ein paar Tricks und sorgte für Raunen bei den rund 4000 Fans. Nach der Einheit waren Autogramme und Selfies mit ihm besonders gefragt.

Niclas Füllkrug hat mit Woltemade bei Werder Bremen gespielt. Der Stürmer-Routinier von West Ham United sagte über seinen jungen Mitspieler, den er als Freund bezeichnet: „Ich glaube, dass er diese Qualitäten, die er jetzt zeigt, vielleicht auch schon länger hat. Aber er brauchte Zeit und Vertrauen, um sie zeigen zu können. Der VfB hat diese Saison voll drauf gesetzt. Er hat sich durchgesetzt, verdientermaßen. Und er hat natürlich viele Qualitäten, die hier auf jeden Fall helfen können.“

Dass Woltemade mal Nationalspieler wird, damit hatten vor einem Jahr noch die wenigsten gerechnet. Der gebürtige Bremer debütierte zwar bereits in der Saison 2018/2019 als Spieler der U17 in Werder Bremens Profimannschaft, beim 1:2 gegen den FC Augsburg unter Trainer Florian Kohfeldt. Der damals 17-Jährige löste mit diesem Einsatz Thomas Schaaf, der bei seinem Debüt am 18. April 1979 einen Tag älter gewesen war, als jüngsten Werder-Spieler ab.

Doch danach konnte er sich nicht bei den Bremer Profis durchsetzen, war mehrfach verletzt. 2022 verlieh Werder ihn an die SV Elversberg in die Dritte Liga. Dort wurde Woltemade Drittligaspieler der Saison und stieg mit dem Klub auf. Woltemades Trainer und Förder war dort Horst Steffen, der gerade bei Werder als neuer Trainer unterschrieben hat.

Woltemade kehrte nach dem Aufstieg mit Elversberg zurück zu Werder, erzielte zwei Bundesligatore, saß aber meist auf der Bank. Viele finden: Werder verkannte ihn. Und ließ Woltemade im Sommer 2024 ablösefrei zum VfB wechseln.

Wieder mal verlor der Klub einen Spieler, dem woanders der Durchbruch gelang. Auch Eren Dinkci verließ Werder und wechselte zum SC Freiburg, schaffte es dort zum türkischen Nationalspieler. Ein weiteres Beispiel: Jan-Niklas Beste spielte ebenfalls einst für Werder, entwickelte sich aber erst beim 1. FC Heidenheim enorm und wechselte nach einer Saison bei Benfica Lissabon nach Freiburg. Werders Sportchef Clemens Fritz wurde für diese „Talentflucht“ und Transferpolitik kritisiert. Viele Fans sehen Werders Personalplanungen mit Zweifeln.

17 Pflichtspieltore in dieser Saison von Nick Woltemade

In Stuttgart hatte Woltemade zunächst Probleme und kam in den ersten Bundesligaspielen mehrfach nicht zum Einsatz. Trainer Sebastian Hoeneß nominierte ihn auch nicht für das Aufgebot für die Champions League. Doch im vergangenen Winter gelang ihm dann der Durchbruch: Am 10. November schoss Woltemade sein erstes Bundesligator für seinen neuen Klub, beim 2:3 gegen Eintracht Frankfurt. Ein Treffer wie ein Startschuss. Es folgten 16 Pflichtspieltore, der Angreifer wurde mit fünf Treffern Torschützenkönig des DFB-Pokals. Mit Ermedin Demirovic ist er Stuttgarts bester Torjäger in der gerade zu Ende gegangenen Spielzeit.

Woltemade schoss und spielte sich zum Publikumsliebling. Die Fans staunen immer wieder, welche Technik er mit seinen 1,98 Metern und seinen 90 Kilogramm hat. Und bezeichnen ihn in Anlehnung an Argentiniens Superstar Lionel Messi mitunter augenzwinkernd als „Woltemessi.“ Seine Kollegen wählten ihn gerade zum Newcomer der Saison. Stuttgarts Kapitän Atakan Karazor sagte kürzlich lächelnd: „Woltemade hat die Technik von Messi. Er ist ein zwei Meter großer Musiala oder Messi.“

Zudem begeistert Woltemade mit Arbeitsmoral und Fairness. Nach dem Pokalfinale schüttelte er erst allen Bielefelder Spielern die Hand, bevor er feierte. „Vor zwei Jahren habe ich noch in derselben Liga wie Arminia Bielefeld (Dritte Liga, d. Red.) gespielt, daher hielt ich es für die richtige Entscheidung. Ich habe noch viel Zeit, um den Sieg mit den Fans und meiner Familie zu feiern“, so der Stürmer.

Völler ist beeindruckt. „Er hat sich in den vergangenen sechs Monaten enorm entwickelt“, sagte der DFB-Sportdirektor. „Er hat noch Luft nach oben, gerade im Kopfballspiel, aber das kann man trainieren. Wenn er noch ein paar Prozente zulegt, hat er eine ganz große Karriere vor sich.“

Bereits jetzt sollen unter anderem der FC Bayern, Atlético Madrid sowie die englischen Klubs Brighton & Hove Albion und der FC Everton an Woltemade interessiert sein. Woltemades Vertrag beim VfB gilt bis 30. Juni 2028, es soll keine Ausstiegsklausel geben. Woltemade könnte wohl für 20 Millionen Euro den VfB verlassen, angesichts seiner Entwicklung und Form quasi ein Schnäppchen, finden viele in der Branche.

Alexander Wehrle will Nick Woltemade halten

Der VfB will ihn natürlich halten. Vorstandschef Alexander Wehrle sagte RTL: „Nick wird auch in der nächsten Saison für uns spielen. Er ist seit einer Saison hier und ich denke, er sollte die Chance bekommen, noch ein paar Saisons beim VfB zu spielen. Denn es macht Spaß, hier zu spielen.“

Für Woltemade ist die Saison nach dem Final Four der Nations League nicht vorbei. Der Urlaub muss warten. Für ihn steht nach der Abreise von der A-Nationalelf, die Sonntag entweder das Finale (in München) oder die Partie um Platz drei (in Stuttgart) spielt, die EM mit der U21 in der Slowakei (11. bis 28. Juni) an.

In der U21 ist der Stürmer unter Trainer Antonio di Salvo gesetzt und hat in den vergangenen sechs Partien sechs Tore erzielt sowie vier Treffer vorbereitet, im vergangenen März traf er gegen den EM-Titelkonkurrenten Spanien dreimal.

Der Mann der Stunde kann in diesem Sommer also sogar ein spezielles Triple gewinnen: DFB-Pokal, Nations League und U21-EM. Es würde zur verrückten Shootingstar-Saison des Nick Woltemade passen.

Eine Saison, in der für den Senkrechtstarter der Bundesliga wirklich nichts unmöglich erscheint.

Julien Wolff ist Sportredakteur. Er berichtet für WELT aus München über den FC Bayern und die Nationalmannschaft sowie über Fitness-Themen. Bereits mehrfach wohnte er während der Trainingslager der Fußball-Nationalelf in Herzogenaurach. Und wird gegen Portugal mit Lars Gartenschläger für WELT im Münchner Stadion sein.

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