„Wie viele Liter Tränen habe ich ausgeweint?“ – Abschied eines Helden, der nie aufgab
Der Tag beginnt mit Tränen. Und er wird mit Tränen enden. Ein letztes Mal tritt Andreas Toba nun ins Rampenlicht vor großer Kulisse. Auf Brusthöhe seines Turndresses prangt der Adler, vor ihm erhebt sich das Reck, rundherum blicken 5500 Zuschauer in der Messehalle Leipzig nur auf ihn. Es ist die finale Übung seiner internationalen Karriere.
Eine Karriere, in der er zwar oft im Schatten der deutschen Stars Hambüchen und Ngyuen, später Dauser stand, in der Andreas Toba aber mit vier Olympiateilnahmen Erstaunliches vollbrachte und für die Mannschaft stets immens wichtig, eine Größe, eine unverzichtbare Stütze war. Er, der 2016 mit einem Kreuzbandriss in Rio fürs Team weiterturnte, sich aufopferte und zum Olympiahelden wurde, der er nie sein wollte, der im späten Turnalter von 30 als Vize-Europameister am Reck endlich auch mal als Einzelkämpfer gefeiert wurde, hat es vier Jahre später noch einmal ins Finale einer EM geschafft.
Das alleine war schon ein Erfolg, an diesem Samstagabend aber wächst Toba ein letztes Mal über sich hinaus. Als er zum Abgang Schwung holt und durch die Luft wirbelt, ist es still in der Halle. Es wird ein Abgang mit Bravour: in den Stand. Toba reißt die Hände gen Hallendach, dann vors Gesicht. Als seine Note von 14,000 Punkten aufleuchtet, sackt er auf die Knie. Standing Ovations von den Zuschauern, die Halle tobt.
Etwas später steht Toba auf dem Siegerpodest, mit Silber dekoriert und Tränen in den Augen – ein letzter Erfolg, mit dem nicht mal die kühnsten Optimisten gerechnet hatten. Es passt zu seiner Karriere. „Ich habe viel mehr erreicht“, sagt er, „als mir fast alle Menschen in der Jugend zugetraut haben.“ Und nicht nur damals, auch zuletzt.
Seine Legende ist kein Olympiasieg, kein strahlender Einzelsieg bei einer WM, dafür aber jene besonders für Turner beeindruckende Anzahl von vier Olympia-Teilnahmen und damit die Zeitspanne von mindestens 16 Jahren auf Weltklasse-Niveau. Und das, obwohl er alles andere als ein Supertalent war, sich alles hart erarbeiten musste und, wie Lukas Dauser so schön formuliert, „immer die Knochen für das Team hinhielt“.
Toba ist das Paradebeispiel eines leisen Kämpfers, der nie ein Mann lauter Töne war, aber doch viel zu sagen hat. Der seinem Körper alles abverlangte. Sein Name steht für Teamgeist, für eisernen Willen, dafür, Grenzen auszureizen – auch wenn der Preis hoch ist. Er konnte und wollte es nicht anders. „Er ist“, sagt Verbandschef Alfons Hölzl. „ein sehr feiner Mensch, ein exzellenter Turner nicht nur am Reck. Er ist mit dem Turnvirus infiziert.“
„Was macht der Junge da? Mir fehlen die Worte“
Es war ein Abschied nach Maß. Denn dass der 34-Jährige es überhaupt ins EM-Finale am Reck schaffen würde, war alles andere als selbstverständlich. Beim Podiumstraining am Dienstag hatte er selbst noch gesagt: „Dass ich hier noch mal sein darf, ist für mich einfach nur noch zum Genießen, ohne Druck, einfach nur Spaß haben; jeden einzelnen Moment, jeden einzelnen Blick in der Halle und mit Mannschaftskollegen genießen.“
Mit einer famosen Darbietung bei der zugleich als Team-Entscheidung ausgetragenen Qualifikation am Mittwoch erkämpfte er sich dann seinen Finalplatz für Samstag. Dass das Reck-Finale zudem ausgerechnet der letzte Programmpunkt dieser EM war – ein glücklicher Zufall. Eine Abschiedsvorstellung vor heimischer Kulisse im finalen Wettbewerb der Titelkämpfe, mehr ging nicht. Alles war bereitet für den letzten Akt in Tobas Karriere.
Und jeder in der Halle wusste darum. Toba war zuvor offen damit umgegangen, hatte vor dem Beginn der Heim-EM angekündigt, in Leipzig seine internationale Karriere zu beenden. Dass er es auf diese beeindruckende Art und Weise tat, nötigte allen Respekt ab. „Was macht der Junge da? Mir fehlen die Worte“, kommentierte Dauser, „Riesenrespekt.“ Und Toba selbst sagte später: „Besser hätte ich es nicht machen können. Das war die beste Übung meines Lebens.“ Um 0,300 Punkte besser war einzig Robert Tvorogal aus Litauen.
Die Augen mit Tränen gefüllt, stieg Toba wenig später auf das Siegerpodest und dankte anschließend mit brüchiger Stimme seinen Trainern, seiner Familie und seinen Teamkollegen, bevor er dann auf der Ehrenrunde mit Sprechchören gefeiert wurde.
„Es ist ein Privileg, so die Karriere zu beenden. Ein Traum für mich“, sagte der 34-Jährige und gab preis, wie emotional sein Tag von Beginn an war: „Ich habe auf dem Weg zum Training heute Morgen geweint, auf dem Weg vom Auto in die Halle geweint, ich habe die ganze Zeit nur geweint und frage mich, wie viele Liter ich ausgeschwitzt und ausgeweint habe."
Bundestrainer Milbradt, den Toba noch aus dessen Zeit als Junioren-Bundestrainer kennt, schmerzt der Rücktritt des Mannes aus Hannover. „Allein von der Professionalität in jedem Training, von der Vorbereitung auf jedes Training, von der Einsatzbereitschaft, von der Disziplin und von dem Teamspirit, den er mitbringt, wird er eine Riesenlücke hinterlassen“, sagt Milbradt.
Dem Turnsport aber wird Toba treu bleiben: Schon an diesem 1. Juni tritt er seine Stelle als Landestrainer in Hannover an. In der Bundesliga will er nur noch turnen, wenn es sein neuer Job zulässt.
Andreas Toba: „Ich war immer überall der Schlechteste
Ein nahtloser Übergang ins Leben nach dem Spitzensport. Ein Leben, in dem Kopf und Körper erst mal zur Ruhe kommen müssen. „Es ist auf jeden Fall kein einfacher Schritt für mich gewesen, die internationale Karriere an den Nagel zu hängen“, gibt er zu. Aber der Körper forderte Tribut. Immer wieder hatte Toba alles und noch mehr aus ihm herausgeholt. Knie, Schulter, Rücken – nichts, was nicht mal schmerzte.
Als er nach dem Kreuzbandriss 2016 wegen Bakterien im Knie große Schmerzen und die dritte OP über sich ergehen lassen musste, stand er kurz vor dem Karriereende. Gedanken daran hatte er auch 2023: Beim Podiumstraining der WM verletzte er sich wieder am rechten Knie. Der befürchtete erneute Kreuzbandriss war es nicht, aber ein Anriss. Die Folge: Zwangspause, Schmerzen, Sorgen und persönliche Enttäuschungen. „Es gibt definitiv Menschen, von denen ich erwartet hatte, dass sie für mich da sind, mich unterstützen“, sagte Toba danach im WELT-Interview. „Als es mir aber nicht gut ging, ich Schmerzen und Zweifel hatte, traurig war, waren sie nicht da.“
Von seinem Traum aber ließ er sich nicht abbringen. Einmal noch wollte Toba auf der olympischen Bühne antreten, für Paris gab er alles – und am Ende strafte er die Zweifler lügen. Wieder einmal. Wie damals als Kind. „Ich war nicht der geborene Turner“, sagt er. „Mir hat es Spaß gebracht, aber es war auch sehr anstrengend.“ Weil er nicht so beweglich war, nicht so gute Voraussetzungen hatte wie andere. „Ich war immer überall der Schlechteste.“ Auch bei Wettkämpfen. In der Jugendzeit hörte er Dinge wie: „Der mag vielleicht trainieren wie ein Weltmeister, aber er kann uns nicht weiterhelfen.“ Es spornte ihn an, wurde zur Antriebsfeder seiner Karriere. „Nur, weil manche Leute etwas sagen, muss das nicht stimmen. Für mich sind genau diese Leute Motivation, ihnen zu zeigen, dass sie falschliegen.“
Jetzt aber reicht es. Zuletzt musste sich Toba einer Schulteroperation unterziehen, der Rücken zwickte. „Ich glaube, ich habe meinem Körper genug angetan“, sagt er. „Und ich bin ihm auch wirklich dankbar und Gott dankbar, dass er mir die Kraft gegeben hat in den letzten Jahren, das alles zu überstehen.“
Als Toba aus dem Schatten turnte
Von Tobas Olympia-Teilnahmen bleibt insbesondere jene 2016 in Rio de Janeiro unvergessen. Bei der Qualifikation für das Teamfinale zog er sich am Boden einen Kreuzbandriss zu, turnte kurz dennoch am Pauschenpferd, weil die Mannschaft ohne seine Punkte an diesem Gerät kaum Chancen gehabt hätte, erhielt die höchste Wertung der Deutschen und sicherte damit den Finalplatz. Seine Tränen, seine Schmerzen, sein Wille und sein Teamgeist bewegten. Plötzlich war er weit über die Grenzen seiner Sportart bekannt.
Er selbst sah sich nie als Held, als der er gefeiert wurde. „Ich habe doch nichts unmenschlich Großes vollbracht, sondern nur etwas getan, das jeder Sportler von klein auf lernt. Und zwar, dass du alles gibst, dass du dich für die Mannschaft einsetzt“, sagte er einmal. „Ich wollte einfach nur der Mannschaft helfen und hätte nie damit gerechnet, dass es solche Wellen schlägt.“ Aber genau das tat es. Und es rückte ihn heraus aus dem Schatten.
Es hätte der Silbermedaille in Leipzig nicht bedurft, um das Publikum für Toba zu Standing Ovations zu bringen. So aber war es perfekt. Ein Abschied, der in keinem Drehbuch besser hätte stehen können.
„Es war eine Reise voller Höhen, Tiefen und unbezahlbarer Momente. Ich habe alles gegeben, was ich hatte. Für diesen Sport. Für mein Team. Für mich selbst“, schrieb Toba bereits vor einigen Tagen in den sozialen Medien. „Jetzt ist der Moment gekommen, um loszulassen – mit Dankbarkeit im Herzen und einem Lächeln im Gesicht. Danke an alle, die mich getragen haben, als ich selbst kaum stehen konnte. Danke an die, die an mich geglaubt haben, als es niemand sonst mehr tat. Turnen war mein Leben. Und das bleibt es auch – nur jetzt auf eine andere Art. Auf das, was war. Und auf das, was kommt.“
Melanie Haack ist Sport-Redakteurin. Für WELT berichtet sie seit 2011 über olympischen Sport, extreme Ausdauer-Abenteuer sowie über Fitness & Gesundheit. Hier finden Sie alle ihre Artikel.
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