„Die außergewöhnlichen Augenblicke wurden uns geraubt“
Es ist ein olympischer Rekord, auf den die deutschen Biathleten gerne verzichtet hätten. Seit den ersten Spielen der Neuzeit 1896 in Athen sind 55 Olympiasiege revidiert worden. Doch so lange wie Erik Lesser, Daniel Böhm, Arnd Peiffer und Simon Schempp musste sich noch niemand gedulden, um nachträglich Goldmedaillengewinner zu werden. Elf Jahre und drei Monate dauerte es, bis das Quartett endlich die Gewissheit hatte, dass sie die wirklichen Sieger des Staffelrennens bei den Winterspielen in Sotschi waren.
An jenem 22. Februar 2014 hatte das russische Team die Ziellinie als Erste passiert – 3,5 Sekunden vor den Zweitplatzierten Deutschen. Dann allerdings wurde Jewgeni Ustjugow, der zweite Läufer der Russen, des Dopingmissbrauchs überführt.
Bereits 2018 hatte der Biathlon-Weltverband IBU ein Verfahren gegen Ustjugow eingeleitet, Daten aus dem Moskauer Labor verwiesen auf die Verwendung des Anabolikums Oxandrolon. Daraufhin wurden die Resultate des heute 39-Jährigen für den Zeitraum vom 22. März 2013 bis zum Ende der Saison 2013/14 gestrichen. In einem weiteren Verfahren fanden sich Auffälligkeiten in Ustjgows biologischem Pass, woraufhin er 2020 gesperrt wurde. Gegen beide Verfahren wehrte er sich erfolglos vor dem Schweizer Bundesgerichtshof. Seine letzte Berufung wurde in der Vorwoche abgelehnt. Die Genugtuung unter den inzwischen auch nicht mehr aktiven deutschen Athleten war dementsprechend groß.
WELT AM SONNTAG: Herr Schempp, Sie waren damals der Schlussläufer und mussten sich auf den letzten Metern Ihrem russischen Rivalen geschlagen geben. Seit dem 22. Mai 2025 gebührt nun Ihnen und Ihren Teamkollegen der Triumph. Floss der Champagner in Strömen?
Simon Schempp: (lacht) Noch nicht. Das hebe ich mir auf, wenn ich die Goldmedaille tatsächlich in den Händen halte. Besser noch, wenn jeder von uns sie in seinen Händen hält. Das seht ihr nicht anders, oder?
Arnd Peiffer: Genau. Ich habe abends mit meiner Frau und meinen Eltern, die uns zufällig besuchten, mit einem Glas Wein angestoßen. Aber eine große Party? Nein, damit warten wir noch.
Erik Lesser: Meine Frau und ich haben zum Abendessen einen Wein aufgemacht und uns zugeprostet. Das war‘s. Vollkommen unromantisch.
Daniel Böhm: Auf das nun unumstößliche Urteil habe ich noch kein Glas erhoben. Das habe ich schon im September vorigen Jahres zur Genüge getan, als Ustjugows Einspruch vom CAS (Internationaler Sportgerichtshof, die Redaktion) abgewiesen wurde. Damit war im Grunde alles geklärt und uns klar, dass die russische Staffel disqualifiziert werden würde.
Peiffer: Wir haben danach auch schon unsere Silbermedaillen zum DOSB (Deutscher Olympischer Sportbund, die Redaktion) geschickt, der sie dem Reglement entsprechend nach Lausanne zum IOC (Internationales Olympische Komitee, die Redaktion) weiterleiten muss, damit wir von dort die Goldmedaillen bekommen können.
WAMS: Nach dem CAS-Urteil wollte Ustjugow noch immer nicht klein beigeben, stattdessen wandte er sich ans Bundesgericht wegen angeblicher Verfahrensfehler.
Böhm: Es ist sein gutes Recht. Seine Erfolgsaussichten – das sagte jeder, der sich mit dem Fall beschäftigte – tendierten gegen null, was sich schließlich bestätigte.
Lesser: Ich bin froh, dass es nun endlich eine definitive Entscheidung gibt, also etwas Endgültiges. Womit auch das ständige Nachfragen und die nervende Ungewissheit aufhören. Also: Danke, Daniel!
WAMS: Wieso Danke?
Lesser: Weil wir von ihm die Nachricht über die Entscheidung des Bundesgerichts bekommen haben.
Peiffer: Daniel schickte die News in unsere WhatsApp-Gruppe, die er nach der CAS-Entscheidung gegründet hatte.
WAMS: Hat die Gruppe einen Namen?
Schempp: Daniel taufte sie „Olympiagold“.
WAMS: Weitsichtig …
Schempp: So kann man es sagen.
WAMS: Herr Böhm, woher bekamen Sie die Information über das letztendliche Urteil?
Böhm: Ich saß am Donnerstag vergangener Woche in meinem Büro in Salzburg, als um 10.36 Uhr eine Mail aufploppte von der Integrity Unit, die zum Weltverband gehört, aber autark arbeitet. In der Mail standen die Informationen, die zum Prozessende geführt haben. Es war natürlich die schönste Nachricht des Tages, doch ich würde übertreiben, wenn ich sagen würde, dass es ein Hurra-Moment war.
WAMS: Warum nicht?
Böhm: Ich hatte ja lang genug Zeit, mich auf diesen Augenblick einzustellen. Die anderen fühlten ähnlich, wie sie mir erzählten. Was mir als erstes durch den Kopf ging, war: Nun ist die Bestätigung fix, jetzt können wir einen Haken dahinter setzen.
WAMS: Anschließend informierten Sie Ihre Staffelkollegen?
Böhm: Postwendend. Ich wollte nicht, dass sie die Info von einer anderen Quelle bekommen. Ich schrieb: „Jetzt ist es durch. Das Bundesgericht hat Widerspruch abgelehnt, damit ist jetzt der Weg frei.“ Keine zwei Minuten, nachdem ich auf die Sendetaste gedrückt hatte, reagierte Arnd als Erster. Er postete einen Emoji und schrieb: „Coole Sache“.
WAMS: Herr Peiffer, durch ihren Triumph bei den Winterspielen 2018 wussten Sie bereits, wie es sich anfühlt, Olympiasieger zu sein. Nun werden Sie sich alle mit diesem Titel schmücken können …
Schempp: Ich freue mich riesig, denn schon als kleiner Junge habe ich davon geträumt. Noch viel schöner wäre es aber gewesen, wenn wir die Rivalität im fairen Wettkampf geregelt hätten und wir – in diesem Fall ich – als Erster über die Ziellinie gelaufen wäre. Ich habe mir die letzte Runde des Öfteren durch den Kopf gehen lassen und überlegt, was ich hätte besser machen können, um den Staffelsieg zu sichern. Ich kam jedoch jedes Mal zu dem Schluss, dass nicht mehr im Tank war und ich nicht schneller gekonnt hätte. Deshalb war ich auch mit der Silbermedaille überglücklich.
Böhm: Ich kann Simon nur zustimmen. Wenn wir damals schon Gold bekommen hätte, wäre die Feier danach auch nicht überschwänglicher gewesen. Ich werde eine Weile brauchen, um zu realisieren, dass ich mich auch als Olympiasieger bezeichnen darf, so wie Arnd schon seit über sieben Jahren.
Peiffer: Für mich ist das Schönste, dass ich aus meiner Generation, mit der ich auf Wettkämpfen unterwegs war, nun nicht mehr der Einzige bin, der sich Olympiasieger nennen darf. Denn die anderen Jungs damals waren keinesfalls schlechter. Und ich freue mich, dass ich Erik nun auch zeitlebens als Olympionike ansprechen kann.
WAMS: Olympionike darf sich nur nennen, wer Olympiasieger ist.
Peiffer: Genau. Als ich in Pyeongchang gewann, sprach mich Erik zwei Wochen lang nur noch als Olympionike an. Das kann ich jetzt zurückgeben. (lacht)
Lesser: Wie schön. Jetzt noch einmal derart belohnt zu werden, nehme ich gerne mit. Obwohl ich ohne Wenn und Aber sagen muss: Für mich liefen die Winterspiele in Sotschi auch ohne Gold perfekt. Ich hatte mein Herz auf der Strecke gelassen, war maximal erfolgreich und somit überaus zufrieden. Dass wir „nur“ Zweiter geworden sind, und das mit so einem geringen Rückstand, hatte aber auch einen positiven Effekt.
WAMS: Inwiefern?
Lesser: Die knappe Niederlage hat uns noch besser gemacht. Dadurch bekamen wir einen zusätzlichen Motivationsschub für die Weltmeisterschaften im Jahr darauf. Dort liefen wir in derselben Reihenfolge und konnte Kräfte freisetzen, die uns zum Sieg verhalfen. Ich bezweifle, dass uns das durch einen vorherigen Olympiasieg gelungen wäre.
WAMS: Sie sind die ersten bundesdeutschen Sportler, denen Olympiagold nachgereicht wird.
Schempp: Dann schreiben wir ja noch eine besondere Geschichte. Das ist doch super.
Peiffer: Ich finde das auch großartig. Allerdings verhehle ich auch nicht, dass ich eine große Genugtuung empfinde, wie es jetzt gekommen ist. Immer wenn ich besiegt wurde, kam mir nie in den Sinn, dass der Bessere vielleicht mit unlauteren Mitteln gearbeitet haben könnte, denn das ist das gefährlichste Gift für den Sport. Insofern ist es gut, wenn die Betrüger entlarvt werden.
Böhm: Die Wahrheitsfindung und -bestätigung dauerte bei uns zwar extrem lange, doch egal, wie lange solche Prozesse auch in Anspruch nehmen, entscheidend ist, dass es eine saubere und gerechte Aufarbeitung gibt und die ehrlichen Athleten auch ihren verdienten Lohn erhalten.
Lesser: Das bittere ist ja, dass man nicht den Moment des Olympiasiegs durchleben konnte. Der Moment, wo die Freude am größten ist, wenn du als Sieger durchs Ziel läufst, man bei der Siegerehrung gemeinsam ganz oben steht und die Hymne hören kann. Die außergewöhnlichen Augenblicke wurden uns geraubt. Doch letztlich wurde die Gerechtigkeit sich selbst gerecht, und das finde ich toll.
Peiffer: Uns wurde die Kirsche auf der Torte gestohlen …
Böhm: Als Olympiasieger hätten wir sicher noch mehr Wertschätzung erhalten und auch lukrativere Vermarktungsmöglichkeiten gehabt, die im Nachhinein schwer zu beziffern sind.
WAMS: Als Olympiasieger hätte Ihnen die Sporthilfe eine Prämie von 20.000 Euro gezahlt, 5000 mehr als für den Silberrang.
Schempp: Vielleicht bekommen wir ja eine Nachzahlung, aber das entscheiden andere.
Böhm: Schlussendlich ist es müßig, dem nachzutrauern, was eventuell möglich gewesen wäre, wenn wir damals Gold geholt hätten. Das macht uns nicht glücklicher.
WAMS: Herr Böhm, Sie liefen in Sotschi an zweiter Position gegen Ustjugow und haben die Führung verteidigen können. Hatten Sie seinerzeit Kontakt zu ihm?
Böhm: Nein, was vor allem an der Sprachbarriere lag. Ich weiß auch nicht, was er heute macht, er hörte ja nach der Olympiasaison für uns alle überraschend auf. Das Rennen habe ich mir noch einige Male angesehen und muss sagen, dass er an dem Tag extrem stark unterwegs war. Ich hatte aber nicht den geringsten Zweifel, dass er vielleicht nicht sauber gewesen sein könnte. Ich bin grundsätzlich immer davon ausgegangen, dass alle mit den gleichen Waffen kämpfen.
Peiffer: Der Leistungssport hat schon etwas Perfides. Man denkt immer, die Dopingsünder sind die Blöden und wir die Guten. Aber das heißt ja nicht, dass die Sünder auch unsympathische Menschen sind. Das Verrückte war, dass man mit Ustjugow am besten reden konnte. Er war immer sehr freundlich, sehr nett. Deshalb tat es umso mehr weh, als ich erfuhr, dass er mich und uns abgezogen hat, und das nicht nur einmal.
WAMS: Dafür werden Sie jetzt mit der Goldmedaille honoriert. Wissen Sie schon, wann das sein wird?
Schempp: Wir bekamen am Dienstag eine Mail vom DOSB, in der stand, dass der DOSB beim IOC die nächsten organisatorischen und zeitlichen Schritte angefragt hat. Sobald eine Antwort vorliegt, bekämen wir Bescheid.
Peiffer: Die Russen müssen ihre Goldmedaillen auch erst einmal ans IOC zurückgeben, damit man sie uns übergeben kann. Ich glaube aber nicht, dass sie das tun werden.
WAMS: In welchem Rahmen könnte eine Medaillenübergabe geschehen? Adam Nelson, ein Kugelstoßer aus den USA, war acht Jahre nach seinem zweiten Platz bei den Sommerspielen 2004, zum Sieger erklärt worden. Die Goldmedaille übergab ihm ein Funktionär in einer Burger-King-Filiale am Flughafen.
Böhm: Das ist unwürdig. Hat nicht mal ein Australier eine private Zeremonie veranstaltet?
WAMS: Richtig. Der Geher Jared Tallent bekam den Sieg zugesprochen, woraufhin er in seinem Garten eine Siegerehrung inszenierte: Er und eine Hostess mit der Medaille marschierten ein, Tallent winkte einem imaginären Publikum zu. Ein Sprecher aus dem Off kündigte den „Goldmedaillengewinner aus Australien“ an. Kurz darauf stieg der damals 31-Jährige auf ein improvisiertes Podest und ließ sich die Medaille umhängen.
Peiffer: Keine schlechte Idee.
Lesser: Jetzt, wo die Winterspiele in Italien so nah sind, wäre es schön, wenn wir die Medaillen nächstes Jahr dort bekämen.
Schempp: Das wäre perfekt, wenn das in Antholz, wo die Wettkämpfe stattfinden, passieren würde. Es ginge auch während eines Weltcups, vielleicht in Ruhpolding oder Oberhof. Ein besseres Biathlon-Publikum als dort können wir uns nicht wünschen. Und wichtig wäre noch, dass außer Familie und Freunde möglichst alle aus unserem damaligen Team dabei sind.
Böhm: Das wünschte ich mir auch. Der positivste Aspekt ist doch aber, dass wir unseren Erfolg nun noch ein zweites Mal feiern können. Und das dann auch mit viel Champagner. (lacht)
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