Familie Lichtlein muss sich entscheiden: Drückt sie Nils oder Carsten die Daumen? Nur einer von beiden kann Deutscher Meister werden, der Neffe oder der Onkel. Beim Showdown in der Handball-Bundesliga treffen nun beide auf der Platte aufeinander.

Nach dem Abpfiff gab es kein Halten mehr: Die Fans verwandelten die Berliner Max-Schmeling-Halle in ein Tollhaus, die Spieler tanzten, schrien und fielen sich in die Arme. Auch Carsten Lichtlein und Nils Lichtlein umarmten sich fest und lange. Gemeinsam Handball-Weltmeister der U21, der eine - Nils - als Spieler und MVP des Turniers, der andere - sein Onkel Carsten -als Torwarttrainer.

Das ist knapp zwei Jahre her. Wieder könnte es in wenigen Wochen Jubel in der Familie Lichtlein geben. Doch nur einer von beiden kann Deutscher Meister werden. An diesem Donnerstag (20 Uhr/Dyn) kommt es zum vorläufigen Showdown - Bundesliga-Tabellenführer Füchse Berlin empfängt die MT Melsungen. Mit Carsten Lichtlein auf der Spielerbank der Hessen, nicht mehr nur als Torwarttrainer. Der 44-Jährige hat nach der schweren Knieverletzung von Stammtorhüter Nebojsa Simic sein Comeback gegeben. "Es ist schön, wieder auf der Platte zu stehen. Keiner hat das für möglich gehalten, ich selbst auch nicht", sagt er. Gemeinsam mit Adam Morawski bildet er nun das Duo bis zum Saisonende.

Sollte der Pole - wie zuletzt im Final Four der European League - keine gute Leistung anbieten, kommt Carsten Lichtlein zu Spielzeit. Und wäre genötigt, die Torwürfe seines Neffen zu parieren. "Natürlich ist es komisch, gegen seinen Neffen zu spielen", aber "es geht um die Meisterschaft, da könnte ich das Duell mit Nils während der 60 Minuten ausblenden."

"Für sein Alter schon ein Genie"

Der 22-jährige Nils ist der Sohn von Carstens Schwester - und längst selbst Nationalspieler. Schon nach der U21-WM hatte Carsten Lichtlein geschwärmt: "Diese Spielübersicht als Mittelmann, dieses Auge und Spielverständnis, seine Schlagwürfe und Hüftwürfe - das ist sensationell." Es dauerte nicht mehr lange, bis Bundestrainer Alfred Gislason den Berliner erstmals für die A-Nationalmannschaft nominierte - und sich bei einer Pressekonferenz, als Nils auf dem Podium neben ihm saß, den Versprecher "Carsten" erlaubte. Inzwischen hat Nils Lichtlein eine WM und eine EM absolviert. Und sich bei den Füchsen Berlin als Stammspieler etabliert, als "Bessermacher" für Welthandballer Mathias Gidsel und dessen Landsmann Lasse Andersson, wie es Geschäftsführer Bob Hanning mal gegenüber ntv.de sagte.

Und Carsten Lichtlein lobte jüngst: "Die Entwicklung von Nils in den letzten zwei Jahren ist überragend. Es ist nur schade, dass er in Berlin nicht so viel Abwehr spielt, denn das ist, was Bundestrainer Alfred Gislason sich wünscht. Im Angriff ist er für sein Alter schon ein Genie, er hat Überblick und Ruhe, trifft immer die richtigen Entscheidungen."

Karriere beendet und plötzlich doch wieder im Tor

Titeltechnisch ist der ältere Lichtlein dem halb so alten weit voraus. Carsten Lichtlein ist Weltmeister 2007 und zweimaliger Europameister 2004 und 2016. In die Bundesliga-Historie hat er es längst geschafft: Mit bislang 716 Einsätzen ist er der Rekordspieler. Als er 2000 sein erstes Bundesligaspiel absolvierte, war sein Neffe noch lange nicht einmal geboren. Als das DHB-Team mit dem Torwart Lichtlein im Kader das WM-"Wintermärchen" schaffte und ein ganzes Land verzauberte, war Nils vier Jahre alt. Vor drei Jahren hatte Carsten Lichtlein seine Karriere eigentlich beendet und arbeitete fortan als Torwarttrainer bei der MT Melsungen.

Bei eben jenem Klub, dem jahrelang vorgeworfen wurde, für viel Geld ein Söldner-Team ins Rennen zu schicken. Ein bisschen so, wie es Paris St. Germain im Weltfußball anstellte. "Ich finde es erschreckend, dass Melsungen viele deutsche Nationalspieler für viel Geld gekauft hat, aber die Mentalität im Verein nicht mitgewachsen ist", sagte der meinungsfreudige Füchse-Boss Hanning 2021 noch in seiner Funktion als DHB-Vizepräsident.

Wie Paris ist Melsungen immer an den großen Zielen gescheitert. Titel? Fehlanzeige. Das beste Bundesliga-Ergebnis jemals ist ein vierter Platz im Jahr 2016, die vergangene Saison beendete man auf Platz fünf. Das bedeutete die Teilnahme an der European League, wo es die MT ins Final Four schaffte, am vergangenen Wochenende aber nach einer Halbfinal-Niederlage nach Verlängerung gegen die SG Flensburg-Handewitt auch das Spiel um Platz 3 gegen den THW Kiel verlor. Aber, so schwächt es Lichtlein ab, das Spiel war nebensächlich für Melsungen: "Es hat geheißen, Kräfte zu schonen. Donnerstag ist wichtig."

"MT Deutschland" lange verspottet

Denn jetzt, wo sich das Image des Klubs gewandelt hat, wo nahe Kassel augenscheinlich mit Ruhe und Verstand gearbeitet wird, könnte es so weit sein. Auch das ist wie bei PSG, das am Samstag um den ersten Champions-League-Titel im Fußball der Vereinsgeschichte spielt. Mit Roberto Garcia Parrondo ist seit September 2021 bei Melsungen derselbe Trainer im Amt und bekommt Zeit, das Team nach seinen Vorstellungen zu formen und zu entwickeln. Die vormals verspottete "MT Deutschland" kritisierte sogar er in einem Interview mit handball-world: "Das war eine Marketing-Idee. Die MT wurde die Komfortzone für viele Spieler. Sicher: Gewinnen wollten sie schon. Aber sie bewegten sich in einem wenig leistungsorientierten oder -förderlichen Umfeld."

Die Kritiker sind verstummt, auch beim kommenden Gegner schätzt man inzwischen die Arbeit des Gegners. Sportdirektor Stefan Kretzschmar hatte den Konkurrenten schon im Februar zum Meisterschaftskandidaten erklärt. Wenn da nur nicht sein eigenes Team wäre … Die Füchse sind punktgleich und führen dank des deutlich besseren Torverhältnisses vor den Hessen die Tabelle an. Auch Meister SC Magdeburg lauert mit nur einem Punkt weniger weiter auf seine Titelchance. Umso bedeutungsvoller ist das direkte Duell: Der Sieger geht mit Vorsprung im Meisterschaftskampf in die letzten drei Spiele der Saison. Der Sieger dürfte in der kommenden Spielzeit wohl sicher in der Champions League mitmischen, der Verlierer muss in die finanziell maue European League.

Beide haben den Ausgang voll in der eigenen Hand. Doch in der öffentlichen Wahrnehmung wird die MT häufig noch etwas ausgeblendet. Wer Meister wird, entscheide sich zwischen den Füchsen und Magdeburg, sagen viele Experten. Das mag auch an der Rückrunde der Melsunger liegen. Denn am 18. Spieltag waren sie noch Tabellenführer, hatten vier Punkte Vorsprung vor den Füchsen und fünf vor Magdeburg. Seitdem gab es bei zwölf Partien drei Niederlagen, und den ganz sachten Abwärtstrend. Sodass nun alles auf die Vorentscheidung zuläuft.

Es ist das Duell um Prestige und Geld. Es ist das Duell zweiter Teams, die noch nie Deutscher Meister waren. Es ist das Duell zwischen Neffe und Onkel. Am Ende kann nur einer lachen. Und der andere muss gratulieren.

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