Fast jede Nacht träumt Saverio Scaniello von Olivenholz. Er träumt von den Wurzelstücken, die er tagsüber in den Händen gehalten hat. Erst im Schlaf sieht er, welche Formen schon in ihnen warten und was er herausarbeiten könnte aus den knotigen Holzverwachsungen.

Mit den ersten Sonnenstrahlen federt der Holzschnitzer dann aus dem Ehebett und macht sich an die Arbeit. „Nur in der Früh habe ich den Kopf frei für Kunst“, gibt der 66-Jährige zu. „Nachmittags sind Kochlöffel und anderer Schnitzkram dran, für die Touristenmärkte an der Küste. Cristi zum Beispiel, die gehen immer.“ Er zeigt einen Karton mit Kruzifixen.

Es ist später Vormittag in Massicelle, einem kleinen Dorf im südwestlichen Cilento. Saverios kreative Phase neigt sich für heute dem Ende zu. Er hat an einem skulpturartigen Tischgestell gearbeitet, das an Elchschaufeln erinnert. Jetzt trinkt er Kaffee und führt im Muskelshirt durch die Werkstatt.

Es ist ein zwangloses Arrangement aus Hobelbänken, staubigen Kreissägen, Madonnenbildern und dem sorgfältig mit Kunstrasen ausgelegten Gehege für eine Landschildkröte. Ein Berg von noch unbearbeiteten Olivenbaumwurzeln lagert unter einem Mispelbaum, von dem man einen schönen Blick über Dorf und Landschaft hat.

Massicelle im Frühsommer, das sind freundlich über grüne Hügel verstreute Wohnhäuser mit leuchtend roten Dächern, halb verfallene alte Bauernhäuser, Ziegengemecker und der Friseursalon „Sandra“. In einiger Entfernung erheben sich Berge, dazwischen schwingt eine Brücke auf hohen Betonpfeilern über das Tal – die Cilentana, die neue Schnellstraße von Agropoli nach Policastro. „Alle meine Wurzeln stammen von dieser Straße“, erzählt Saverio. „Von den vielen Olivenbäumen, die dafür gefällt wurden. Traurig. Aber bei mir kriegen sie ja ein neues Leben.“

Der Cilento und seine Straßen sind ein komplexes Kapitel. Dass die breite Halbinsel im äußersten Süden Kampaniens bis heute so ursprünglich und unversehrt geblieben ist, liegt nicht an mangelnder Schönheit. Es liegt an der lange extrem schlechten Anbindung an den Rest der Welt. Wer die wilden, waldreichen Berglandschaften mit ihren Schluchten und einsamen Dörfern besuchen oder an der 100 Kilometer langen Küste ins Wasser springen wollte, musste sich über endlose, schlecht ausgebaute Sträßchen quälen.

Das war sowohl Immobilienspekulanten und Pauschaltouristen als auch den Mafiosi der Camorra zu mühsam, die überall sonst in Kampanien Landschaft und Politik verseuchen. Als mit der Cilentana und der Bussentina endlich zwei Schnellstraßen Form annahmen, auf denen sich die einsame Region heute zügig erreichen lässt, stand die Gegend zum Glück bereits unter Naturschutz. Der 1991 gegründete Parco Nazionale del Cilento e Vallo di Diano ist mit 181.000 Hektar das zweitgrößte Schutzgebiet Italiens. Und auch die Unesco hat auf den Park als Biosphärenreservat und Kulturerbe ein wachsames Auge.

Im Frühsommer ist der Cilento besonders schön

Der Cilento ist – ganz besonders in den warmen, späten Frühlings- und Frühsommerwochen – schönstes Süditalien, mit blauem Meer und silbrig schimmernden Olivenhainen; darüber Bergdörfer wie Pollica, in denen alte Männer auf der zentralen Piazza sitzen und Karten spielen oder nichts tun, während aus dem Innenhof des bröckelnden Barockpalazzo gegenüber der feuchte Odeur vergangener Bourbonengrandezza weht.

Im Cilento gibt es stille Städtchen wie Teggiano, wo der Tabakladen mit bunten Heiligenbildern tapeziert ist und ein Uniformierter den Verkehr regelt, der im Wesentlichen aus einem einzigen, hin- und herknatternden Ape-Dreirad besteht. Und es gibt Tortorella, ein Dorf in der schlucht- und höhlenreichen Karstregion Bussentino.

An klaren Tagen kann man übers Meer bis zum Vulkan Stromboli kurz vor Sizilien sehen. Noch etwas fällt auf: die sauber zusammengeknoteten Plastiktüten vor den schönen alten Steinportalen. Tortorella hat vor ein paar Jahren eine Auszeichnung für vorbildliche Mülltrennung gewonnen. Plastik wird mittwochs abgeholt, Glas am Dienstag. Sperrmüll bei Bedarf, Anruf genügt.

Der Cilento ist nicht das Kampanien, das man aus den Medien kennt. Das Schlagzeilen-Kampanien ist die Terra dei fuochi im Norden Neapels mit ihren kokelnden Giftmüllhalden, und es ist natürlich Neapel selbst, die überschwänglich-anarchische Hauptstadt der Ineffizienz und der ballernden Clans. Neapel liegt 200 Kilometer nordwestlich von Tortorella, aber gefühlt auf einem anderen Planeten.

In der gleichen Richtung funkelt die weltberühmte Amalfiküste mit pastellfarbenen Bilderbuchdörfern und Fünf-Sterne-Hotels. Doch im Cilento sind bislang weder Chaos noch Champagner in nennenswertem Ausmaß angekommen. „Kein Wunder, bei den Straßen“, grummelt Gino Troccoli in perfektem Deutsch und schultert seinen Rucksack.

Der Calore-Canyon ist ein Geheimtipp

Fast eineinhalb Stunden hat der Wanderführer mit dem Auto für die gut 50 Kilometer vom Badeort Ascea an der Küste hoch nach Felitto gebraucht, über endlos durch Kastanienwälder mäandernde Miniatursträßchen. Schmale Asphaltbänder, aufgeplatzt und verbeult, voller Senken und Löcher. Straßen, die sich aufbäumen und seitlich abrutschen, als säßen sie auf einem durchgegangenen Pferd.

Es scheint, als wolle die wilde Bergwelt des Cilento diese schüchternen Versuche einer Infrastruktur tatsächlich abwerfen. In jedem Fall schlägt der Ritt auf den Magen, und das Grüppchen Touristen, das mit Gino hochgekurvt ist, ist blass um die Nase, als es die Wanderschuhe zubindet.

Gino, braun gebrannt und sehnig, führt heute in die Calore-Schlucht. Vor 31 Jahren hat der Sohn eines nach Aachen emigrierten cilentanischen Fliesenlegers seine Hotelkarriere aufgegeben, um in der alten Heimat den allmählich anlaufenden Tourismus in nachhaltige Bahnen zu lenken. Der 53-Jährige organisiert Wanderungen, Besuche bei Käsereien, Mahlzeiten bei cilentanischen Familien, Ausflüge in vergessene Dörfer.

Auch der tiefe Canyon, den das Flüsschen Calore in die dicht bewaldeten Kalkfelsen gegraben hat, ist ein Geheimtipp; in Süditalien hätte man dergleichen nicht erwartet. Unter Eschen und riesigen Farnen geht es durch frühsommerliches Grün, Wassermassen rauschen über weiße Steinblöcke, Grillen zirpen dagegen an, und irgendwann weitet sich der Bach zur Gumpe, wo man in frischem, glasklarem Wasser auf dem Rücken treiben und in einen tiefblauen Himmel hineinträumen kann.

Gino hockt derweil auf einem Felsen und schwärmt so stolz von Forellen und Fischottern, als habe er sie hier persönlich ausgesetzt. Wenn nur die Politik nicht wäre. „Kampanien hat uns vergessen. Alles wird immer nur in die Amalfiküste investiert. Und wir sehen keinen Cent.“ Die Cilentaner sollten endlich mal aufmucken, so wie um 1950 herum, als es in der Küstenebene bei Battipaglia gegen die Baroni ging, die Großgrundbesitzer. „Deren Landbesitz wurde danach einfach halbiert. Geht doch!“

Der Strand ist die Badewanne von Neapel

Unten, am Strand von Ascea, sieht es noch nicht nach Umsturz aus. Die lange Sandküste, hinter der sich die Berge weit ins Binnenland zurückziehen, gilt von etwa Mai an als Badewanne der Neapolitaner. Abends promenieren sie mit Gelfrisuren, Kinderwagen und in zu knappen Schlauchminis über den Lungomare, wo sie sich von Karussells zu greller Musikbeschallung durch die Luft wirbeln lassen.

Wer es ruhiger mag, tritt die Flucht in den stilleren Nachbarort Pisciotta an, der wie ein Schwalbennest an einem Hügel über dem Meer klebt. Die Anreise ist allerdings nicht einfach: Die Küstenstraße, die einzige direkte Verbindung, ist nach einem Erdrutsch aus den 80er-Jahren und unbegreiflichem bürokratischem Kompetenzgeschacher gesperrt. Oder auch nicht. Es ist nicht ganz klar.

Denn es gibt eine schmale provisorische Betonpiste, „die nur für Rettungsfahrzeuge zugelassen ist“, wie Ettore Liguori später erklären wird. „Aber das ist ein juristischer Trick. Dadurch können im Prinzip alle anderen auch fahren.“ Der Bürgermeister von Pisciotta ist Pragmatiker, damit kommt man in Süditalien immer noch am weitesten. „Diese Straße wirkt wie ein Filter. Zu uns muss man schon herwollen“, sagt er und blickt unter seinem weißen Wuschelkopf liebevoll über das Gassengewirr seiner Gemeinde.

Auf dem Marktplatz sitzt ein Losverkäufer mit seinem Hund, an einer Steintreppe werden Pfirsiche und Melonen verkauft und auf der Straße geht nichts vorwärts, weil sich ein Leichenzug im Schneckentempo durch den Ort bewegt. Dem Sarg folgt die blonde Witwe im T-Shirt, dahinter intoniert eine Blaskapelle Chopins Trauermarsch. Doch darüber wirbeln tirilierende Schwalben, und hinter den Olivenbäumen glitzert das Meer so silbrig hell und verheißungsvoll, dass man sich gerade beim besten Willen nicht vorstellen kann, jemals wieder etwas anderes als Glück und Zuversicht zu empfinden.

Die Küste des Cilento macht die beste Laune. Vergnügt schwingt sie sich von Bucht zu Bucht, von Steilküste zu Sandstrand. Es ist eine Welt wie aus einem alten Kinofilm in Technicolor. Fischerboote tänzeln, dicke Jungs hechten schon im Mai von Klippen ins Wasser, in den Dörfern stellen die Frauen abends Stühle zum Plauschen auf die Straße vor weinumrankte Mauern.

Und spätestens im entzückenden Santa Maria di Castellbate fragt sich der Italienreisende, wieso er sich jemals mit weniger zufriedengegeben hat. Hier stehen die Bartische im Schatten altehrwürdiger Palazzi und zwischen an Land gezogenen Fischerbooten. Selbst die Kirche bietet Meerblick. Kaum ein hässlicher Hotelkasten trübt das Idyll.

Der Käse ist der Stolz von Kampanien

Authentischer wird’s nicht? Vielleicht doch: 300 Meter weiter oben windet sich das Bergdorf Castellabate um eine aussichtsreiche Hügelkuppe. Den Ort guckt man sich am besten während der Woche an, denn an den Wochenenden füllen sich die pittoresken Gassen mit Touristen, die hier den schönsten Szenen aus dem Kinofilm „Benvenuti al Sud“ nachspüren, der italienischen Nachverfilmung von „Willkommen bei den Sch’tis“.

Castellabate an einem ganz normalen Wochentag ist dagegen purer Alltag, herrlich anzusehen morgens beim örtlichen Kramladen, wo eine Ladung unausgepackter Basketbälle vor der Tür das einzige Indiz für einen Verkaufsbetrieb darstellt. Drinnen balanciert die Kundschaft über eine steile Holztreppe zwischen vollgestopften Gemüsekisten in eine Art Lagerraum hinab.

Die Käsetheke liegt ganz hinten. Dort werden Plastiksäckchen herübergereicht, gefüllt mit dem Stolz Kampaniens: schneeweißem Mozzarella aus Büffel- und Kuhmilch, zu Kugeln und Zöpfen geformt. Auch geräucherte Scamorza gibt es und frischen Ricotta, von den Kundinnen – überwiegend älteren Damen mit lackierten Fußnägeln und in luftigen Kitteln – fachkundig kommentiert. Der Mozzarellakauf ist ein wichtiger Moment des Tages; die Einheimischen sind konzentriert bei der Sache.

Das Netteste aber ist, dass man die Mozzarella-Damen von Castellbate abends wiedertreffen wird. Bei Sonnenuntergang sitzen sie auf den Steinbänkchen auf dem Belvedere, der Aussichtsterrasse. Das Meer glitzert wie geschmolzenes Silber. Und am Horizont geht etwas absolut Atemberaubendes vor sich. Etwas, von dem man bisher geglaubt hatte, es sei bloß der Fantasie Ralph Siegels entsprungen: Bei Capri versinkt die rote Sonne im Meer.

Man kann nur hoffen, dass sich das nicht herumspricht. Denn die Serpentinenstraße hoch nach Castellabate befindet sich leider in einem ausgezeichneten Zustand.

Tipps und Informationen:

Anreise: Nonstop-Flug nach Neapel (zum Beispiel mit Lufthansa) oder nach Salerno (etwa mit Easyjet), weiter mit dem Leihwagen. Die Fahrt vom Flughafen nach Castellabate dauert rund zwei Stunden.

Unterkunft: „Marulovo Hotel“, das ehemalige Kloster klebt am Altstadthang von Pisciotta; Zimmer, Terrassen und grandiosen Meerblick gibt es auf vier Etagen, DZ/F ab 90 Euro, marulivohotel.it. „Palazzo Gallotti“, im hinteren Flügel des turmgeschmückten Familienschlosses in Battaglia di Casaletto Spartano mit dem verwunschenen Garten hat Roberto Simoni mit seiner Frau Miriam ein entzückendes B&B eingerichtet, Wanderwege starten gleich hinter der Schlossmauer, DZ/F ab 80 Euro, info@palazzogallotti.com. „Residenz San Leo“ – auf einem Bauernhof in Castellabate mit Traumblick aufs Meer hat Birte Kokocinski zwischen Obstbäumen die schönsten Apartments weit und breit hergerichtet, altes Gemäuer und modernes Design in perfekter Harmonie, Apartment ab 98 Euro, cilentissimo.de.

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