Zu Rotkäppchen ins Märchenland, wo heute wieder Wölfe heulen
Nordhessen kennt in Deutschland jedes Kind. Zumindest, wenn es schon einmal von Dornröschen, Frau Holle, Hänsel und Gretel gehört oder gelesen hat. Die Schauplätze dieser Märchen – tiefe Wälder, verwunschene Schlösser, markante Mittelgebirge, urige Dörfer – sind hier alle auf engem Raum versammelt, in der Gegend rund um Kassel, grob gesagt zwischen Weserbergland, Vogelsberg und Rhön. Denn in diesem Landstrich lebten die Gebrüder Grimm viele Jahre; mit ihren „Kinder- und Hausmärchen“ von 1812 legten sie den Grundstein zur weltberühmten deutschen Märchenkultur.
In den Weilern und Wäldern rund um Kassel sammelten sie Stoff für ihre Geschichten, hier hatten sie ein Netz von Gewährsleuten aufgebaut, die die seit Jahrhunderten mündlich überlieferten Erzählungen der Landbewohner über Prinzen und Hexen, Zauberinnen und Wölfe sammelten und an Jacob und Wilhelm Grimm weitergaben, die daraus ihre Märchensammlung zusammenstellten. Eine der wichtigsten Zuträgerinnen war Dorothea Viehmann, eine Cousine vierten Grades von Johann Wolfgang von Goethe, sie allein hat Stoff für fast 40 Märchen beigesteuert.
Praktischerweise sind viele Orte und Stätten, die mit diesen Märchen zu tun haben, bis heute erhalten, durch Nordhessen (das sich als „Grimm-Heimat“ vermarktet) verläuft obendrein die Deutsche Märchenstraße, sprich: Die Gegend ist gut erschlossen und ein perfektes Revier für eine märchenhafte Reise durch Deutschlands Mitte.
Erste Station ist die Schwalm, ein Landstrich weit weg vom Gebrause der Metropolen, ein sanft gewelltes Bauernland mit Wäldern wie dem Kellerwald oder dem Bergzug mit dem schönen Namen Knüll. Eine Gegend, in der Traditionen ungestört überdauern können. In keinem anderen Landkreis Hessens gibt es so viele erhaltene Fachwerkhäuser und historische Ortskerne.
Wo das rote Käppchen herkommt
Beispielsweise in Ziegenhain, heute ein Stadtteil von Schwalmstadt. Rund um den Marktplatz stehen das imposante Museum der Schwalm mit dicken Mauern und Fachwerkaufbauten, die evangelische Kirche mit großartigem Portal und bescheidenem Glockentürmchen, die barocke ehemalige Hauptwache. Außerdem befindet sich hier die Geschäftsstelle des Vereins Rotkäppchenland.
Holger Klementz arbeitet dort mit seinem Team daran, die unaufgeregte Schönheit der Schwalm bekannt zu machen, auch als Land der Trachten: vor allem das rote Käppchen für unverheiratete Frauen, den Betzel. „Kaum jemand weiß, dass die traditionelle Schwalmer Kopfbedeckung Namenspatronin war für eines der bekanntesten Grimmschen Märchen“, sagt Klementz.
In dem geht es bekanntlich um ein Mädchen mit rotem Mützchen, seine kranke Großmutter in einem Haus im Wald und einen gierigen Wolf. Das märchenhafte Happy End sieht so aus: Der Wolf wird von einem Jäger, verlässlicher Vertreter der Landobrigkeit, erschossen, die kurz zuvor von ihm verschlungene Großmutter mitsamt Enkelin werden lebend gerettet.
Die Schwalm zum Rotkäppchenland machte endgültig der Maler Ludwig Emil Grimm, der Bruder von Jacob und Wilhelm Grimm. Er produzierte viele Schwälmer Trachtenbilder, darunter auch Illustrationen zur Rotkäppchengeschichte. Interessanterweise habe das Märchen einen Migrationshintergrund, sagt Klementz, „es ist einst aus Frankreich eingewandert, mit hugenottischen Flüchtlingen.“
Wie sehr es mittlerweile in der Schwalm zu Hause ist, lässt sich an den Fußgängerampeln in Schwalmstadt erkennen: Die zeigen bei Grün und Rot eine Ampelfrau mit Betzel-Käppchen. Zu der Zeit, als Dorothea Viehmann den Grimms die Rotkäppchengeschichte erzählte, habe es in der Schwalm eine Wolfsplage gegeben, sagt Klementz, neun Kinder sollen unter den Opfern gewesen sein.
Um Kinder und Opfer geht es auch eine halbe Märchenstraßenstunde nordwestlich von Ziegenhain, im Dorf Bergfreiheit. Am Ortseingang begrüßt den Besucher eine steinerne Gruppe zauseliger älterer Herren in Begleitung einer jungen Dame: Schneewittchen und die sieben Zwerge. Wer es vergessen haben sollte: Im Märchen flieht Schneewittchen vor ihrer Stiefmutter, die neidisch auf ihre Schönheit ist.
Hinter den sieben Bergen findet sie Zuflucht bei sieben Zwergen, für die sie putzt und kocht. Die Stiefmutter schafft es dennoch, sie aufzuspüren und zu vergiften – mit einem Apfel. Schneewittchen fällt in einen tiefen Schlaf, bis ihr Glassarg beim Transport ins Prinzenschloss unsanft anstößt und der Giftapfel so aus ihrem Schlund entweicht. Danach Aufwachen und Hochzeit.
Willkommen im Schneewittchendorf
Bergfreiheit ist idyllisch gelegen am Flüsschen Urff im Naturpark Kellerwald-Edersee, umgeben von bewaldeten Hügeln und staatlich anerkannter guter Luft. Dass man sich hier mit der Geschichte der sieben Zwerge in Verbindung bringt, sei verständlich, sagt Holger Klementz. Ursprünglich sei Bergfreiheit eine Bergarbeitersiedlung gewesen. Die Arbeit unter Tage hätten vor allem kleine Menschen erledigen müssen, auch Kinder.
Daraus wurden im Märchen die Zwerge. Möglicherweise auch deshalb, ergänzt der Heimatforscher Eckard Sander, weil die Kinder wegen des ständig fehlenden Tageslichts unter Vitamin-D-Mangel litten und darum nicht weiter wuchsen. Da es keine Schutzhelme gab, verpasste man ihnen und den anderen Bergarbeitern mit Schafwolle ausgestopfte Zipfelmützen als Kopfschutz.
Schneewittchendorf – so nennt sich Bergfreiheit heute. Das Vorbild für die Märchenfigur könnte laut Eckard Sander die bildschöne Grafentochter Margaretha aus der Familie von Waldeck am nahen Edersee gewesen sein, deren Vater sie – natürlich auf Drängen der Stiefmutter – in die fernen Niederlande verheiratete.
Im Alter von nur 21 starb sie, vermutlich an einer Arsen-Vergiftung. Ungeklärt bleibt, warum die schöne Margaretha sieben Kinderarbeitern am Kellerwaldrand den Haushalt geführt haben soll.
Wie das in der Praxis ausgesehen haben könnte, lässt sich im Schneewittchenhaus Bergfreiheit besichtigen: ein Fachwerkhaus, die Küche mit einem altertümlichen Herd, der Tisch fertig gedeckt für sieben Personen (nicht acht), ein Schlafraum mit sieben Bettchen, drei davon Hochbetten. Wo wohl Schneewittchen schlief?
Im Reich der Frau Holle
Eine weitere gute Autostunde nordöstlich liegt das Frau-Holle-Land. Wir erinnern uns: Im Märchen fällt ein Mädchen in einen Brunnen und gelangt ins Reich der Frau Holle. Der hilft sie fleißig im Haushalt und sorgt auf der Erde für Schnee, wenn sie die Betten ausschüttelt. Mit Gold belohnt kehrt sie nach Hause zurück. Ihre Stiefschwester ist auch scharf aufs Gold, aber faul und unhöflich – sie wird von Frau Holle mit Pech überschüttet.
Diese Geschichte gehe, sagt Holger Klementz, auf eine keltische Sage zurück. Die erwähne auch ein Heiligtum an einem See. Das passe zum heutigen Frau-Holle-Teich am Hohen Meißner, der als Eingang in das unterirdische Reich der Frau Holle gehandelt wird.
Der Bergzug des Hohen Meißner reicht bis zu 754 Meter hoch und ist im Winter zuweilen noch schneebedeckt. Allerdings längst nicht mehr so oft wie früher. Was natürlich nicht am Klimawandel, sondern am Personalmangel bei Frau Holle liegen dürfte; gute Haushaltshilfen sind ja kaum noch zu finden.
Und dann ist da noch die Sababurg, ein Prachtbau aus dem 14. Jahrhundert, der über dem dichten, geheimnisvoll rauschenden Reinhardswald thront. Man kann sich gut vorstellen, wie sich Hänsel und Gretel in diesem Prototyp eines Märchenwaldes verlaufen haben, selbst über mannshohe Lebkuchenhäuser auf einer Lichtung würde man sich nicht wundern.
Dornröschenschloss Sababurg
Die Sababurg spielt allerdings für ein anderes Märchen eine Hauptrolle: Sie wurde im Dreißigjährigen Krieg beschädigt, verfiel malerisch und wurde von einer hohen Dornenhecke verschluckt. Das machte sie zur idealen Vorlage für die Geschichte vom Dornröschen (im Schnelldurchlauf: gute Königstochter, böse Fee, garstiger Fluch, blutiger Spindelstich, hundertjähriger Schlaf, dornenumranktes Schloss, edler Prinz, erlösender Kuss, freudiges Erwachen, spontane Hochzeit, ewiges Glück) – seit dem frühen 19. Jahrhundert, dem Erscheinen der Märchensammlung, gilt die Sababurg als Dornröschenschloss.
Von den Dornenranken ist sie inzwischen befreit, doch steht eine umfassende Renovierung an, sodass das komplette Innenleben frühestens 2028 wieder zugänglich sein wird. Dornröschenfans müssen so lange mit dem – durchaus attraktiven – Äußeren des Schlosses vorliebnehmen.
Wer die Stationen der Deutschen Märchenstraße in Nordhessen nicht per Auto besuchen will, kann auch das Rad nehmen – auf der ehemaligen Trasse der stillgelegten Knüllwaldbahn zwischen Bad Hersfeld und Schwalmstadt-Treysa verläuft heute einer der vielen Radwege.
Man kann sich die Märchenschauplätze aber auch erwandern: Es gibt jede Menge Fabel- und Qualitätswanderwege sowie Kulturpfade, stets thematisch rund um Geschichten und Geschichte angelegt.
Da wäre beispielsweise der zehn Kilometer lange Dorothea-Viehmann-Weg von ihrem Geburtshaus Knallhütte, heute Gasthof und Brauerei, zum Weinberg in Kassel, dem Standort der neuen Grimmwelt. Im Gasthaus unbedingt Ahle Wurscht probieren! Das ist jene luftgetrocknete Dauerwurst, die schon Rotkäppchen in ihrem Korb gehabt haben dürfte.
Die Grimmwelt lohnt sich ebenfalls: Hier erfahren Interessierte nicht nur alles über die populären Märchen, sondern auch viel über die deutsche Sprache, die Jacob und Wilhelm Grimm als Sprachwissenschaftler geprägt haben – auf die Brüder geht das erste umfassende Wörterbuch der deutschen Sprache zurück. Sie sahen in einer Zeit, in der Deutschland noch kein Nationalstaat war, die Sprache als identitätsstiftend an, als Träger eines gemeinsamen Bewusstseins.
Auch nicht zu verachten ist der rund 80 Kilometer lange Grimmsteig, ein Rundwanderweg durch Kaufunger Wald und auf den Hohen Meißner, der am Frau-Holle-Museum in Hessisch Lichtenau vorbeiführt. Für diese Tour sollte man fünf Tage einplanen. Und sich nicht erschrecken, falls einem im Wald der tierische Protagonist aus Rotkäppchen begegnen sollte – es gibt gesicherte Hinweise darauf, dass inzwischen wieder Wölfe in Nordhessen vorkommen, auch entlang des Grimmsteigs. Zum Glück sind sie scheu, aktuelle Berichte von vertilgten Großmüttern und Enkeln sind nicht überliefert.
Die Wanderwege im nordhessischen Märchenland sind übrigens bestens ausgeschildert: Hänsel und Gretel würden sich heute nicht mehr im Wald verirren. Wenn sie denn lesen könnten.
Tipps und Informationen:
Wie kommt man hin? Die Orte liegen an der Deutschen Märchenstraße und sind am besten per Auto zu erreichen (deutsche-maerchenstrasse.com/route).
Schauplätze: Museum der Schwalm zu Kultur und Trachten der Region, Schwalmstadt-Ziegenhain, museumderschwalm.de; Schneewittchenhaus in Bad Wildungen/Bergfreiheit (bergfreiheit.de); Holleum (Frau-Holle-Museum) in Hessisch Lichtenau (naturparkfrauholle.land); Grimmwelt in Kassel, geöffnet von Dienstag bis Sonntag (grimmwelt.de).
Wo wohnt man gut? Hotel und Restaurant „Hof Weidelbach“ in Schwalmstadt-Ziegenhain, drei Sterne, ruhige Lage, Doppelzimmer mit Frühstück ab 80 Euro, hof-weidelbach.de; „Klingelhöffer Hotel“ in Alsfeld, gelungene Kombination aus Alt und Neu, Doppelzimmer ab 89 Euro (hotel-klingelhoeffer.de); „Motel Lohwasser“, zweckmäßige Zimmer in Hessisch Lichtenau, Doppelzimmer ab 99 Euro (motel-lohwasser.de)
Weitere Infos: Grimm-Heimat Nordhessen
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