Wo Wölfe und Bären gemeinsam durch die Taiga streifen
Wilde Taiga also. Mit diesem Begriff versuchen die cleveren Finnen seit Kurzem der leeren Weite, die sich entlang der finnisch-russischen Grenze im Nordosten des Landes bis zum Polarkreis hochzieht, ein marketingtaugliches Label zu verschaffen. Ein Blick aus dem Flugzeugfenster kurz vor der Landung bestätigt: Der Begriff passt – man sieht bunt gefärbte Wälder und gefühlt die Hälfte aller gut 187.000 finnischen Seen, wilde Taiga eben. Eine Gegend, die überrascht, wie sich in den nächsten Tagen herausstellen wird.
Vor allem im Herbst ist die Taiga reizvoll. Die sommerliche Mückenplage ist vorüber, die Tage werden kühler, aber gerade Wanderer und andere Aktivurlauber finden in der „Ruska“, wie die Finnen ihren farbenprächtigen „Indian Summer“ nennen, ideale Bedingungen vor.
Was außer Bären, Wölfen, Pilzen und Beeren kann es hier geben, fragt man sich während der Fahrt nach Osten, der russischen Grenze entgegen, durch die immer dichteren Wälder der Provinz Kainuu. Und ist völlig verblüfft, bald darauf in einem wunderschönen Konzertsaal zu stehen, der so gar nicht zu einer abgelegenen Kleinstadt im Nirgendwo passen will.
Die beste klassische Musik sollte an einem Ort weit weg vom Getöse der Welt gespielt werden. Mit dieser Idee wurde in Kuhmo vor Jahren ein kleines Kammermusikfestival ins Leben gerufen, das sich seitdem zu einem alljährlichen internationalen Event gemausert hat. Die meisten Veranstaltungen finden im Arts Center statt.
Literaturstadt Kuhmo
Ein paar Schritte entfernt glänzt im nordisch kühlen Design die öffentliche Bibliothek, die man ebenfalls hier nicht erwarten würde. Seit 2019 ist Kuhmo die mit Abstand kleinste Unesco-Literaturstadt. Ein Ehrentitel, mit dem sich ansonsten Weltstädte wie Dublin oder Mailand schmücken.
Dem unscheinbaren Ort mit gerade einmal 7500 Einwohnern kommt eine besondere Bedeutung bei der Entstehung von Finnlands Nationalepos „Kalevala“ zu. Die Sammlung alter Lieder, Erzählungen und Gedichte aus dem hiesigen Osten ist die erste schriftliche Aufzeichnung in finnischer Sprache überhaupt, erklärt Sari Rusanen, die Leiterin des Kulturzentrums.
Weil so gut wie niemand im 19. Jahrhundert finnisch, nur schwedisch, lesen konnte, habe es 20 Jahre gedauert, bis die erste Auflage von 400 Exemplaren verkauft war. Denn bevor Finnland 100 Jahre von russischen Zaren beherrscht und dann 1917 unabhängig wurde, gehörte das Land 600 lange Jahre zu Schweden.
Von Kuhmo aus erreicht man nach wenigen Kilometern einen Ort tief im Wald oberhalb des Lammasjärvi-Sees, der an das schwierige Verhältnis zum mächtigen Nachbarn Russland erinnert. Es regnet. Das Winterkriegsmuseum liegt in unmittelbarer Nähe zu den damaligen Schlachtfeldern. Der Winterkrieg 1939/40 zwischen Finnland und der Sowjetunion ist eine Ewigkeit her, der russische Überfall auf die Ukraine überaus aktuell. „Vielleicht sind deshalb die Besucherzahlen gestiegen, die Erinnerung an die verlustreichen Kämpfe ist wieder sehr präsent“, vermutet Hannu Lehtonen, der den damaligen Kriegsverlauf an den Originalschauplätzen erklärt.
Eine bittere Ironie der Geschichte sei der Tod vieler Ukrainer, die von Stalin als erste Sowjetsoldaten schlecht ausgerüstet und ohne Skier über die Grenze geschickt wurden. „Wir alle sind stolz, die Russen besiegt zu haben und dachten, die Sache sei endgültig vorbei“, sagt Fahrer Harri Eemeli Polvinen und biegt überraschend von der Straße ab.
Hinter dem neuerrichteten Haus seiner Eltern zeigt er auf eine rußverkohlte Holzhütte, die als einziges Gebäude jener Zeit erhalten geblieben ist. Um den Sowjets den Vormarsch in eisiger Kälte zu erschweren, hätten seine Großeltern, wie alle anderen auch, schweren Herzens ihre Häuser in Grenznähe verbrannt. Trotz Gebietsverlusten habe Finnland damals seine Unabhängigkeit bewahren können.
„Kostamus 64 km“, steht auf dem Verkehrsschild hinter Lentiira. Doch der nahe Grenzübergang ist seit 2022 geschlossen, die Städtepartnerschaft zwischen dem finnischen Kuhmo und dem russischen Kostumukscha (das die Finnen Kostamus nennen und das in Russisch-Karelien liegt) ausgesetzt. Stattdessen wird von finnischer Seite an einem 20 Kilometer langen Grenzzaun gebaut. Eine ungeteerte Forststraße zieht sich endlos an der Grenze bis zum Polarkreis hoch. Kerzengerade und dicht stehen Birken und Kiefern Spalier.
Nur noch Bären und Wölfe kommen über die Grenze
Die finnischen Holzunternehmen haben einen Sekundärwald um die von ihnen gebauten Wege in der wilden Taiga hinterlassen, dessen Holz nicht die Qualität der ursprünglichen Nadelwälder jenseits der Grenze aufweist. Viele Finnen haben daher lieber das härtere und dazu noch billigere Bauholz im russischen Karelien gekauft, ebenso Gas sowie Benzin.
Die meisten „Grenzfinnen“ sind seit der Corona-Pandemie nicht mehr in Russland gewesen. Umgekehrt stehen russische Sommerhäuschen auf finnischer Seite leer. Die über Jahrzehnte gewachsenen freundschaftlichen Beziehungen der jüngeren Vergangenheit existieren seit dem Ausbruch des Ukrainekriegs nicht mehr. „Jetzt kommen nur noch Bären und Wölfe über die Grenze“, bedauert Harri Eemeli Polvinen.
Das finnische Karelien um Kuhmo gilt europaweit als einer der besten Orte für Wildtierbeobachtungen. Drei Kilometer vor der Grenze beginnt die Sicherheitszone. Deshalb hat Lassi Rautiainen seine Beobachtungshütten verlegen müssen. Wie noch vier weitere Kleinunternehmer in der Region bietet der renommierte Fotograf „northern wildlife watching“ an. Aus 30 Ländern seien seine Gäste im vorigen Jahr gekommen, um vor allem Bären in freier Wildbahn zu sehen.
Während Lassi aus einem Eimer Lachsstücke und Elchfleisch im weiten Halbkreis in der Erde verscharrt, machen es sich seine Gäste in der mit Stockbetten ausgestatteten Hütte bequem und sind vor allem das, was die Finnen von Natur aus perfekt beherrschen: ruhig. Stundenlang sind allerdings nur Dutzende von Kolkraben zu beobachten, die mit zunehmendem Erfolg große Fleischhappen aus dem morastigen Boden ziehen. Von Bären keine Spur.
Tiefgefrorene Birkenzweige aus dem Supermarkt
Hinter den Sehschlitzen kommt man sich vor wie Grenzschützer, die vermutlich ganz in der Nähe auf Patrouille unterwegs sind. Seit 2023 seien keine Jagdlizenzen für Bären mehr erteilt worden, auch deshalb sei die Population wieder gewachsen, flüstert Lassi. Letzte Nacht habe es fünf Bärensichtungen gegeben.
Dieses Mal bleibt es hingegen „nur“ bei der kurzen Begegnung mit einem Wolf, der sich dem Beobachtungsposten nähert, aber bald wieder im Wald verschwindet. „No bear activity today“, bedauert Lassi beim morgendlichen Aufbruch und verschenkt zum Trost Abzüge seines berühmtesten Fotos. Das mit dem finnischen Naturfotopreis prämierte Werk „Friends“ zeigt Bär und Wolf vermeintlich wie Freunde nebeneinander hergehend. Er hat es hier aufgenommen.
Im Gegensatz zu den unzähligen Seen, die häufig durch natürliche Kanäle, Bäche oder Flüsse miteinander verbunden sind, trifft man im Nordosten eher selten auf Menschen. Umso wichtiger sind deshalb Begegnungsorte wie das Kaffeehausprojekt von Lentiira. Noch hundert Menschen leben in dem Ort, die Hälfte davon kommt jeden Samstag zum Kaffeeklatsch in die alte Schule.
Während die Besucher beim Backen von Rönttönen (einem Kuchen aus gekochten Kartoffeln, Roggenmehl und Preiselbeeren) zuschauen dürfen, füllt sich der ehemalige Klassenraum allmählich. Nächstes Jahr werde auch die neue Schule geschlossen, bedauern die ehrenamtlich tätigen Frauen in der Bäckerei. Dann müssten die Schüler ins Internat nach Oulu gehen. Wie überall im einsamen Nordosten Finnlands zögen junge Menschen weg. Traditionelle Wirtschaftszweige wie Holz, Jagd und Fischfang hätten leider ihre Bedeutung verloren.
Unterwegs zum „Lentiira Holiday Village“, dem nächsten Übernachtungsort, hält Harri Polvinen am einzigen Supermarkt der Gegend, der gleichzeitig als Touristeninformation fungiert. In der Kühltheke lassen sich neben Beeren und Rentierfleisch auch tiefgefrorene Birkenzweige finden, frisch geschnitten im Sommer.
Im Gegensatz zu den kostenlosen Wanderkarten, die noch immer grenzüberschreitende Touren verzeichnen, denen man aktuell besser nicht folgen sollte, sind die aufgetauten Birkenruten durchaus von Nutzen. Zumindest für merkwürdige Finnen, die sich abends in der alten Rauchsauna des Hotels damit auspeitschen, um anschließend auch noch in den eiskalten See zu springen.
Exklusive Blockhütten im Nebel
Über sie heißt es bereits in einer russischen Chronik aus dem zwölften Jahrhundert: „Ohne Zwang peinigen sie sich selbst und verschaffen sich auf diese Weise statt Sauberkeit Schmerzen.“ Abends durchbricht die Sonne für einen kurzen Moment die Wolkendecke am Horizont und lässt die vom Herbstlaub bunt gefärbten Bäume am anderen Seeufer hell aufleuchten.
100 Kilometer östlich von Lentiira verspricht ein fantastisch gelegenes Hotel aktiven Herbsturlaubern einen idealen Rückzugsort. „See far and feel a lot”, begrüßt Antii Homanen, der zusammen mit Vater und Schwester das „Arctic Giant Birdhouse” betreibt, seine Gäste. Das aus der umgebauten Bergstation einer ehemaligen Skianlage hervorgegangene Familienhotel steht in fantastischer Lage auf einem Gipfelplateau.
Mit riesigen Panoramafenstern und eigener Sauna ausgestattete exklusive Blockhütten gruppieren sich weiträumig um das Hauptgebäude. Doch davon ist bei der Ankunft im Nieselregen wenig zu sehen. Eine dichte Nebeldecke hat sich über die Bergkuppe gelegt. „Könnte auch das Sauerland sein“, mault ein Mitreisender.
Am nächsten Morgen ist alles anders. Die Regenwolken vom Vortag sind weitergezogen. Der Himmel reißt auf. Wie in einem kitschigen Naturfilm tauchen erste Sonnenstrahlen Finnlands dichteste Wälder in goldschimmerndes Licht. Bestückt mit zahllosen Inselchen zieht sich der Oulujärvi-See als labyrinthisches Gewässer im weiten Halbkreis durch Kiefern und Birken, Birken und wieder Kiefern. Die nächste Siedlung ist eine halbe Autostunde entfernt.
Der grandiose 360-Grad-Rundumblick vom Aussichtsturm über unberührte Waldgebiete bis zum Horizont lässt alle Herzen höherschlagen. Nur Vogelgezwitscher durchbricht die Stille. „In Finnland ist man immer von Natur umgeben, von Menschen hingegen nie“, sagt Antii Homanen zum Abschied. Vielleicht führen gerade deshalb seine Bewohner die Weltrangliste der glücklichsten Menschen seit Jahren an.
Tipps und Informationen:
Anreise: Etwa mit Finnair oder Lufthansa bis Helsinki, Weiterflug nach Kajaani mit Norra (flynorra.com), von dort mit dem Leihwagen nach Kuhmo.
Unterkunft: „Hotelli Kalevala“ in Kuhmo, direkt am See gelegen, Doppelzimmer ab 125 Euro (hotellikalevala.fi). „Lentiira Holiday Village“, Holzhäuser mit Zugang zu See und Rauchsauna, Hütte ab 135 Euro (lentiira.com). „Arctic Giant Birdhouse Hotel“, Hütten mit Panoramafenstern und Blick über die Seenlandschaft, ab 219 Euro (arcticgiant.fi).
Bärensafari: Wildlife Safaris Finland, das Basislager Kuikka liegt an der russischen Grenze, Komplettpaket mit Unterkunft, Abendessen, Lunchpaket für die Beobachtungshütte und Frühstück ab 370 Euro pro Person (wildfinland.org).
Weitere Infos: wildtaiga.fi; visitfinland.com
Die Teilnahme an der Reise wurde unterstützt von Visit Finland. Unsere Standards der Transparenz und journalistischen Unabhängigkeit finden Sie unter go2.as/unabhaengigkeit
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