Die weltgrößte Süßwasserseeinsel kennt so gut wie niemand
Rund vier Autostunden von Toronto entfernt, eröffnet Ontario den Blick ins kanadische Bilderbuch: In Killarney, einem früheren Fischerörtchen, das wegen seiner gerade einmal 400 Bewohner gar nicht um eine Verniedlichung des Wortes herumkommt, finden sich sämtliche Symbole, die das nordamerikanische Land ausmachen.
Die roten Adirondack-Stühle stehen in der Bucht des Huronsees, der hier als Teil der Georgian Bay ans Ufer schwappt, die Häuser und Hütten des Hotels „Killarney Mountain Lodge“ bestehen aus gigantischen Baumstämmen, und dann schwimmt auch noch ein Otter dem Steg entgegen. Hinter ihm, am Horizont, erahnen Touristen nur, über welche Fläche sich der See erstreckt. 30.000 Inseln zählt er, die teils so groß ausfallen, dass mindestens zwei Flugzeuge auf ihnen parken könnten, teils aber gerade so viel aus dem Wasser ragen, dass ein Bobbycar auf sie passt. Gut nachzuvollziehen, dass Besucher noch bis in die 1960-Jahre nur per Kanu oder Dampfschiff ins Killarney County kamen.
Für Boot-, Kanu-, Kajak- oder Stand-up-Paddler-Fahrer sowie Segler eröffnet sich hier ein gigantischer Aqua-Abenteuerspielplatz, auf dem sie einen Felsen nach dem nächsten umfahren, passieren oder auch ein Eiland der sogenannten Fox Islands ansteuern, um die Picknickdecke auf den oft noch im Frühherbst von der Sonne aufgeheizten Felsen auszubreiten.
Oder sie folgen vor Ort den Spuren der Braunbären, die Schnauze und Pfoten auf der Suche nach Würmern ins Moos steckten. „Sie können übrigens, wie die hier auch verbreiteten Elche, sehr gut schwimmen“, erzählt Robert „Bungy“ Herbert, als mancher Besucher verwundert fragt, wie die Tiere denn auf diesem Flecken Erde landen.
Der Guide lebt schon seit dem Tag seiner Geburt in der Gegend und schwärmt auch 77 Jahre später noch von ihrer Schönheit, die er an diesem perfekten Indian-Summer-Tag Besuchern per Bootstour nahebringen möchte. „Manche von uns, und das ist keine Untertreibung, haben Killarney ihr Leben lang zwei-, dreimal verlassen, öfter nicht.“ Den Herbst bezeichnet er als beste Jahreszeit für einen Trip nach Ontario.
Die Auswahl an kommerziellen Attraktionen fällt in dem seit 1820 existierenden Ort überschaubar aus: Es zählt gerade ein Büdchen mit Lebensmittelvorräten und Lotto-Annahmestelle, einen Bäcker mit großer Kaffee-Auswahl und wenige Restaurants wie das nach eigenen Angaben „weltberühmte“ Fish & Chips-Geschäft „Herbert Fisheries“. Das stört aber nicht – Flora und Fauna bieten mehr als genug Abwechslung. Und wieso in die Ferne streifen, wenn Berge zum Wandern, Seen zum Schwimmen und Wälder zum stundenlangen Umherstreifen vor der Haustür warten?
Gute Aussichten in 540 Meter Höhe
Nicht direkt vor der Haustür, doch nur 25 Autominuten entfernt, erstreckt sich der 49.000 Hektar große Killarney Provincial Park. Ihn zählen Outdoor-Fans allein wegen der La Cloche Mountains zu den spektakulärsten von Ontario, wenn nicht Kanadas. Die im wahrsten Sinne des Wortes einsame Spitze der Bergkette, der Silver Peak, lässt sich nicht ganz einfach erreichen: Es braucht eine Kanufahrt durch die je nach Tageszeit durchaus starke Strömung des Bell Lake und eine rund anderthalbstündige Wanderung, um ihn zu erklimmen.
Ein Mitarbeiter des örtlichen Kanu-Verleihs empfiehlt, sich vorher entsprechend zu stärken und beim Frühstück ordentlich zuzulangen: „2000 bis 3000 Kalorien pro Tag brauchen Erwachsene für den Trip schon!“ Eine Straße auf den Silver Peak gibt es nämlich nicht. Nur einen 5,5 Kilometer langen Pfad für Fußgänger, der sich über einen Höhenunterschied von insgesamt 375 Meter vorbeischlängelt an Ahorn, Fichte und Kiefer, die einen intensiv-aromatischen Geruch verströmen.
Nach gefühlt 14.000 gelaufenen oder überkletterten Steinen wartet endlich das Dach der Welt – so jedenfalls wirkt es auf dem Gipfel des Silver Peak, den weiße Quarzitkuppen zieren. Er befindet sich in gerade einmal 540 Metern Höhe, würde also deutlich im Schatten von Himalaja oder Alpen liegen, und doch fällt der Eindruck ob der Weite überwältigend aus. Ganz Ontario liegt einem zu Füßen, sogar Manitoulin Island lässt sich ohne Fernglas erkennen!
Eine Welt für sich
Auf die Frage, welche Süßwasserseeinsel die weltweit größte ist, müsste so mancher Quiz-Show-Teilnehmer wohl den Joker ziehen. Aber vielleicht erweist sich genau dieses Nichtwissen als Segen für Manitoulin Island. Die 15.000 Einheimischen sehnen sich zwar nach mehr Besuchern, gleichzeitig aber gibt es keine Supermarktketten, keine Shopping-Malls, nicht mal ein Casino, wie in vielen Reservaten in Kanada und den USA üblich.
Die Menschen leben vom Land, das nur in zehn Prozent der Fälle Angehörigen der First Nations gehört. Nur einem von sechs Stämmen auf Manitoulin Island, nämlich den Mitgliedern der Wikwemikong-Nation, gelang es, ihr Reservat zu verteidigen. Es ging nie an das Land Kanada, was einen Triumph in sich darstellt, betrachten Indigene den Boden der weltgrößten Binnenseeinsel doch als heilig, als „Insel der Götter“, die mit 2766 Quadratkilometern größer als das – beliebter Vergleich – Saarland ist.
Ansonsten leben die Menschen vom Verkauf von Souvenirs oder von Touren, bei denen sie Gäste ihren Alltag, vor allem aber ihr Verständnis vom Umgang mit der Natur erklären. Ein Eindruck, den Jack Rivers ohne Zweifel bestätigt. Der Mittdreißiger bittet im Wikwemikong Unceded Territory im Norden von Manitoulin Islands zu einem Spaziergang in ein Waldstück, genauer gesagt: auf den 14 Kilometer langen Bebamikawe Memorial Trail.
Er streicht so vorsichtig über Zweige, als befühlte er die Seiten eines uralten Buchs, und wenn er über Zedern spricht, könnte Rivers auch von einer geschätzten Großtante erzählen, so positiv besetzt sind die von ihm gewählten Adjektive. „Die Natur ist ja auch unsere Familie“, sagt er. Und diese bekommt angesichts der Geschichte vergangener Generationen von Indigenen noch einmal eine ganz neue Bedeutung.
Ein dunkles, noch immer präsentes Kapitel
Ab 1867 gab es in Kanada 140 staatlich geführte, als Internate getarnte Umerziehungsanstalten, geführt meist von der römisch-katholischen oder der anglikanische Kirche. In diesen Einrichtungen wurden zuvor ihren Eltern entrissene Kinder von ihren Traditionen und Bräuchen entwöhnt. Der Grund: Premierminister John A. Macdonald sah sich vor mehr als 150 Jahren mit einem Land konfrontiert, dessen unterschiedliche Kulturen und Identitäten er zu einer gemeinsamen kanadischen Identität zu vereinen versuchte – auch mit brutalen Mitteln.
So starben geschätzt 6000 Mädchen und Jungen – wegen Krankheiten, wohl aber auch aus seelischer Verkümmerung. Bis heute werden Massengräber entdeckt, die allermeisten Kinder kamen anonym unter die Erde. 1996 endete das Grauen mit der letzten „residental school“, mit dem dort erlebten Schrecken aber kämpfen Einzelne bis heute.
„Manche Frauen und Männer wissen überhaupt nicht, wo sie herkommen. Wie sie heißen, wer ihre Eltern waren“, sagt Tracy Cleland vom Volk der Anishinabe. „Ihre eigene Identität ist ihnen fremd. Sie verfallen den Drogen und leben nicht selten auf der Straße.“ Erst seit 2021 gedenken die Kanadier stets am 30. September der Opfer mit dem landesweiten National Day of Truth and Reconciliation (Tag der Wahrheit und Versöhnung) und dem Motto „Every Child Matters“ („Jedes Kind zählt“).
Etliche Clans organisieren Zusammenkünfte, um bei Reden und Tänzen an die Vergangenheit zu erinnern. Doch Cleland betont an diesem Tag in Wiikwemkoong auch: „Trotz unserem Bemühen ist vielen Kanadiern dieses dunkle Kapitel des Landes gar nicht bekannt.“
Aber sie möchten auch von den positiven Seiten erzählen, von ihren Bräuchen, von ihrer Kultur, von der Art etwa, wie sie Schmuck fertigen. Das lässt sich im Ojibwe-Kulturzentrum erfahren: Während in einem Teil des Gebäudes Besucher Armbänder knüpfen, bestaunen andere die hinter Glas ausgestellten Schmuckkästchen aus Stachelschweinborsten, die Frauen früherer Generationen in aufwendiger Handarbeit gestalteten.
Was würden die Ahnen heute sagen? Was würden sie von der Zivilisation im 21. Jahrhundert halten? Wer auf eine Antwort von oben hofft, schaut in Ontario gen Himmel – wobei es die ganze Nacht und noch etliche mehr bräuchte, um alle am Firmament aufleuchtenden Sterne, Planeten und Satelliten zu zählen. Da die Lichtverschmutzung hier gen Null geht, eröffnet Ontario den Blick ins astrologische Bilderbuch.
Tipps und Informationen:
Anreise: Condor, Aer Lingus und British Airways zum Beispiel fliegen mehrfach wöchentlich von verschiedenen deutschen Flughäfen nach Toronto. Weiter per Mietwagen nach Killarney oder Manitoulin Island (es gibt eine Fähre vom Ort Tobermory aus, aber auch die für Autos geeignete Little Current Swing Bridge).
Unterkunft: In Killarney in der ansprechenden „Killarney Mountain Lodge“ mit gutem Restaurant (ab 135 Dollar pro Nacht und Zimmer; killarney.com). Unbedingt reservieren – so wie auch auf Manitoulin Island, wo es nur wenige Unterkünfte gibt, etwa das „Manitoulin Hotel and Conference Center“ (ab 133 Dollar; manitoulinhotel.com).
Aktivitäten: Wer einen Tagestrip mit dem Kanu zum Beispiel auf dem Bell Lake buchen möchte, zahlt 60 Dollar pro Person bei Killarney Outfitters (killarneyoutfitters.com). Der Eintritt in das indigene Kulturzentrum Ojibwe Cultural Foundation ist frei.
Weitere Infos: destinationcanada.com
Die Reise wurde unterstützt von Destination Canada. Unsere Standards der Transparenz und journalistischen Unabhängigkeit finden Sie unter go2.as/unabhaengigkeit.
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