V or mächtigen Fässern steht Sergio Verrillo und füllt Wein in Probiergläser. Auf einem Holztisch flackert eine Kerze, die in einer leeren Weinflasche steckt. Ansonsten ist das Ambiente nüchtern: große Edelstahltanks, rohe Zementböden, Klappstühle. Probiert wird, wo die Weine gekeltert werden – in seiner urbanen Kellerei Blackbook Winery unter einer Eisenbahnbrücke im Viertel Battersea in der britischen Hauptstadt.

„London ist die am meisten auf Wein fokussierte Stadt der Welt“, meint der gebürtige US-Bürger, der in Sussex Weinbau studierte, weltweit Erfahrungen sammelte und ein Faible hat für Pinot Noir und Chardonnay aus kühlen Anbaugebieten.

Für seine Weine, denen er die Namen von Popsongs oder Alben gibt, kauft er Trauben, die 20 Kilometer von der Nordsee entfernt in Essex wachsen. „Die heitere Ruhe, die meine Weine ausstrahlen, empfinde ich als maritim“, sagt er. Der Rhythmus der Gezeiten sei in Südengland Teil des Terroirs.

Weingärten, die an spektakulären Küsten liegen – tatsächlich lohnt sich eine Tour durch Großbritanniens Weingüter. Auch wenn es bizarr anmutet: Englands Tropfen werden immer edler. Das liegt zunächst an den Böden, vergleichbar mit denen der Champagne. Zweitens am Wetter, das im Zuge des Klimawandels angenehmer ist für Rebstöcke und Weintouristen. Drittens an Königin Camilla, der man mit extrem viel Glück sogar auf einer ihrer Weingut-Touren begegnen kann.

Als bekennende Liebhaberin und engagierte Schirmherrin des Verbandes Wines of Great Britain (WineGB) setzt sie sich seit vielen Jahren für das Winzertum und den Wein-Tourismus in ihrer Heimat ein. „Die Liebe zum Wein fließt durch die Adern unserer Familie“, erklärte die heutige Queen, Tochter eines Weinhändlers, 2019 bei ihrer berühmten Rebensaft-Rede.

Verdopplung der Weingüter

„Unsere Weine haben sich mehr und mehr gesteigert, quantitativ und, was noch wichtiger ist, qualitativ“, sagte sie bereits damals. „Unsere Winzer haben nationale und internationale Preise gewonnen – und unsere französischen Freunde dabei oft geschlagen!“

Heute verfügt das Königreich über mehr als 1100 Weingüter (mehr als doppelt so viele wie 2019), knapp 240 Produzenten und 4840 Hektar Rebfläche, das entspricht etwa der Größe des Anbaugebiets Nahe in Rheinland-Pfalz. Der meiste Wein wird im Süden der Insel in den Grafschaften Kent, Essex und Sussex angebaut – umgeben von Dörfern, Stränden und Burgen bis zu den Kreidefelsen an der Küste zwischen den Seebädern Eastbourne und Brighton.

Ein Pfeiler des Erfolgs sind die geschützten Täler und das Engagement unerschrockener Winzer. Und die Böden, die im Hinterland des Ärmelkanals denen der Champagne so ähnlich sind, dass Häuser wie Taittinger hier Land erworben haben – als Rückversicherung gegen die Folgen des Klimawandels, der ihnen im eigenen Anbaugebiet das Leben mit Hitze und Trockenheit immer schwerer macht.

Schaumwein ist hier wie dort der Star. Nur aus gut 20 Prozent der im Königreich verarbeiteten Trauben werden stille Weine, der Großteil wird zu „Sparkling“ veredelt. Den Schwerpunkt bilden Chardonnay, Pinot Noir und Pinot Meunier, die Hauptrebsorten für Champagner.

Inzwischen hat jedes Restaurant im Süden Englands, das etwas auf sich hält, einen englischen Sekt auf der Karte. In Norwegen und Japan, Ländern mit Kaufkraft und Genusslust, sind die ab umgerechnet knapp 35 Euro teuren Flaschen ebenfalls begehrt.

Auf dem Niveau der Franzosen

Den geschützten Namen „Champagner“ dürfen sie zwar nicht tragen, da sie nicht aus dem französischen Anbaugebiet stammen. Geschmacklich aber können die englischen Erzeugnisse der traditionellen Flaschengärung locker mit denen der Franzosen mithalten.

Selbst beurteilen lässt sich das beispielsweise im Simpsons’ Wine Estate in Barham nahe Canterbury in Kent – die Grafschaft bezeichnet sich inzwischen als „Weingarten Englands“. An einer Seite liegt die antike Römerstraße, auf der anderen ragt ein Kirchturm zwischen Wipfeln auf, dahinter erheben sich die grünen Hügel Kents.

2012 pflanzten die Winzer Ruth und Charles Simpson die ersten Rebstöcke dort, wo zuvor Schafe grasten. Das Paar besaß früher ein Château in Südwestfrankreich und entschloss sich dann zum Einstieg in eine der dynamischsten Weinregionen der Welt: England.

Etwa 250.000 Flaschen füllt Simpsons inzwischen pro Jahr ab, größtenteils Sekt. In der Probierstube gibt es Canterbury Rose Sparkling Rosé, White Cliffs Blanc de Blancs und Roman Road Chardonnay.

Einen English Sparkling, den Connaisseurs ebenfalls kennenlernen sollten, keltert Winzer Adrian Pike nur eine gute halbe Autostunde weiter westlich. Sein Weingut Westwell Winery bei Charing nahe dem Jahrhunderte alten Pilgerweg nach Canterbury bietet ebenfalls Führungen und Verkostungen an.

In traditioneller Flaschengärung entsteht aus Pinot Noir, Pinot Meunier und Chardonnay der Schaumwein Pelegrim. Der Name, das mittelenglische Wort für Pilger, erinnert an die Wanderer, die im zwölften Jahrhundert von Kloster zu Kloster durch Südengland wanderten.

Die Römer brachten den Wein auf die Insel

Denn erst brachten die Römer den Wein auf die britischen Inseln, dann bauten die Zisterzienser-Mönche zur Zeit der Normannen unter Wilhelm dem Eroberer in Südengland im 11. und 12. Jahrhundert Wein für Messdienste an. Das dürfte allerdings recht saures Zeug gewesen sein. Damals färbte man weißen Wein mit Farbstoff aus Käfern rot ein und fügte auch gern Zucker und Ingwer hinzu.

Solche üblen Tricks sind heute nicht mehr zu befürchten. Das Plumpton College in East Sussex bietet bereits seit 1988 Studiengänge für Weinbau und -handel an. Und 2014 weihte die heutige Königin Camilla, selbst in Plumpton aufgewachsen, an der Hochschule ein Institut für Weinforschung ein.

Sie gehört auch zu den Berühmtheiten, die das nahe Weingut Ridgeview besuchten – eines der ältesten seiner Art in England, gut 16 Kilometer von der Küste entfernt. Gegründet 1995, zu einer Zeit, als ein solches Ansinnen noch auf Heiterkeit stieß, brauchten Winzer umso mehr Optimismus. In den ersten Jahren gab es keine Einkünfte, denn die Reben mussten gehegt werden.

Doch der lange Atem hat sich gelohnt. Die erste Abfüllung im Jahr 2000 wurde zum „English Wine of the Year“ gekürt, 2005 folgte die Auszeichnung des Bloomsbury 2002 als bester Sekt der Welt. 2009 wurde im Buckingham Palace anlässlich des Besuchs vom damaligen US-Präsidenten Barack Obama der Fitzrovia Rosé von Ridgeview entkorkt.

Heute werden auf dem Weingut eine halbe Million Flaschen Wein pro Jahr produziert. Außer Führungen und Tastings gibt es im Restaurant „The Rows & Vine“ vom Wein inspirierte Menüs. Unbedingt probieren: Seeteufel-Fish & Chips mit Fenchel-Mayonnaise, dazu Blanc de Blancs 2019.

Ein Restaurant bietet auch die Wiston Estate Winery, acht Kilometer hinter den Stränden von Worthing gelegen. Gegründet wurde sie 2006 von der südafrikanischen Winzertochter Pip Goring und ihrem englischen Mann Harry. 34 Jahre lang hatte sie ihn bekniet, auf seinem Familiengut Weinreben zu pflanzen, doch er sah keinen Sinn darin. Bis sich eines Tages das französische Champagnerhaus Duval-Leroy bei ihnen meldete und Land für Rebstöcke abkaufen wollte. Sohn Richard und Schwiegertochter Kirsty waren clever – und lehnten ab. Wenn Böden und Mikroklima wirklich so einzigartig seien, würden sie das Ganze lieber selbst angehen.

Die enttäuschten Franzosen ließen einen guten Tipp da: Sie sollten kleine Flächen mit drei verschiedenen Champagner-Trauben bepflanzen und sehen, welche sich wo am wohlsten fühlen würde. Mit Erfolg: Sechs Mal, zuletzt 2024, wurde Wiston von WineGB zum Weingut des Jahres gekürt. Heute gehören neben Agrarland und Wald auch ein Restaurant, eine Probierstube und ein Gäste-Cottage zum Weingut, das über Jahrzehnte keines sein wollte. Darauf ein kombiniertes „Cheers, santé!“

Tipps und Informationen:

Weinverkostungen: London: Blackbook Urban Winery (blackbookwinery.com). Kent: Simpsons’ Wine Estate in Barham, Canterbury (simpsonswine.com); Westwell Winery, Charing (westwellwines.com). Sussex: Ridgeview Wine Estate, Ditchling, mit Restaurant „The Rows & Vine“ (ridgeview.co.uk); Wiston Estate Winery, Pulborough, mit Restaurant „Chalk“ und Ferienhaus (wistonestate.com). Mehr unter winegb.co.uk/visit/vineyard-trails, winegardenofengland.co.uk, sussexmodern.org.uk

Wo wohnt man gut? Etwa im „Bailiffscourt Hotel & Spa“ in Climping an der Küste von Sussex, mit Außenpool und hervorragendem Restaurant, Doppelzimmer und Frühstück ab 375 Euro (hshotels.co.uk/bailiffscourt). Auf dem Weingut Winston Estate Winery: Ferienhaus „The Pump House“ mit holzbeheizter Badewanne und Platz für bis zu vier Personen, Doppelzimmer ab 225 Euro (wistonestate.com/visit-us/pumphouse). Nahe der Westwell Winery in Kent: „Boys Hall“ mit brillanter Küche und Weinen, Doppelzimmer ab 277 Euro (boys-hall.com). 

Weitere Infos: visitbritain.com/de

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