Nie sind wir so frei, über unseren Alltag zu bestimmen, wie wenn wir zum Vergnügen reisen – oder etwa doch nicht? In seinem Buch „Abgefahren. Reisen zum Vergnügen“ erkundet der Historiker Valentin Groebner die Geschichte der Empfindungen und Bilder, die uns in die Ferne locken. Ein Gespräch über Gewissensbisse, Stereotype und Tipps für die nächste Urlaubsreise.

WELT: Sie haben schon 2019 ein Buch über das Reisen geschrieben, „Ferienmüde”. Wieso nun ein zweites?

Valentin Groebner: Ich wurde nach dem Buch auf ein paar Konferenzen zur Zukunft des Tourismus eingeladen, und was ich da gehört habe, hat mich sehr nachdenklich gemacht. In den Pandemie-Jahren 2020 und 2021 ist der Fremdenverkehr stark zurückgegangen, die Branche war verunsichert. Mittlerweile reisen wieder mehr Menschen als je zuvor, und die prognostizierten Wachstumsraten sind unglaublich.

WELT: Nachdenklich gemacht. Wegen der Folgen für die Umwelt?

Groebner: Ich wäre vorsichtig mit Reden über Schuld. Tourismus ist schon seit über 150 Jahren die Industrie des schlechten Gewissens. In den 1860er-Jahren war der britische Kritiker John Ruskin fest überzeugt, Zeuge der endgültigen Zerstörung der Schönheiten der Alpen zu sein, verwüstet für immer durch ihre vielen begeisterten Besucher.

Seither fragen sich Vergnügungsreisende, ob sie nicht etwas besichtigen, was gerade durch sie selbst ruiniert wird. Die World Tourism Organization der UNO – und die ist keineswegs tourismuskritisch – schätzt, dass im Jahr 2030 ein Viertel aller menschengemachten CO₂-Emissionen durch den Tourismus erzeugt werden. Möglicherweise hat der Tourismus seinen großen Boom also noch vor sich. Oder den großen Wumms, je nach Standpunkt.

WELT: Ihr Buch forscht den Bildern nach, die uns in die Ferne locken. Sie waren in Sri Lanka, Griechenland, den Alpen. Haben Sie eigentlich viele Urlaubsbilder gepostet, um Ihre Freunde daheim neidisch zu machen?

Groebner: Ich verschicke gelegentlich Bilder per Mail, ich bin nicht auf den sozialen Medien. Aber Bilder bestimmen, ob, wohin und wie gereist wird. Vereinfacht gesagt: Ich sehe einen einsamen Strand im Hochglanzmagazin, und da will ich dann selbst hin. Das ist kein neues Phänomen.

Der moderne Tourismus ist so alt wie die Fotografie, und er ist von Anfang an von Bildern angetrieben und popularisiert worden. Auch das späte 19. Jahrhundert kannte „soziale Medien“, zum Beispiel die Fremdenblätter der großen Urlaubsorte; in ihnen konnte man nachlesen, wer gerade in welchem Hotel logierte. Und nach der Erfindung der Ansichtskarte haben Reisende Milliarden dieser Karten an ihre Lieben nach Hause geschickt.

WELT: …und die Daheimgeblieben wollten diese Postkartenmotive mit eigenen Augen sehen.

Groebner: Im Urlaub besuchen wir die Orte, von denen wir schon Bilder anderer gesehen haben. Und machen dort neue, mit uns selbst darauf: ein Kokon aus Pixeln.

WELT: Vermutlich wurden noch nie so viele Urlaubsfotos geschossen wie heute – von Motiven, die im Netz vielfach dokumentiert sind.

Groebner: Eigentlich ist das ziemlich komisch, weil die Leute ja angeblich aufbrechen, um etwas Neues zu sehen. Und dann machen sie Fotos, die das zeigen, was vor ihnen schon viele andere geknipst haben. Wir lesen vor der Reise eben alle die gleichen Reiseführer und besuchen ähnliche Internetseiten.

Touristen bereisen keine real existierenden Orte, sondern im Wesentlichen sich selbst. Sie verwechseln die Empfindung, nach der sie sich sehnen, mit dem Reiseziel, das diese Empfindung auslösen soll. Das hat Robert Musil schon vor hundert Jahren in seinem schönen Text über die Ansichtskarte beschrieben. Eine Art Beschwörungsritual - wie die bizarren Namen von Wohnmobilen, die „Ocean“ heißen, „Beach“ oder „Edelweiß“. „Freiheit auf vier Rädern“, heißt es in der Werbung. Da geht es um ziemlich große Sehnsüchte, und Tourismus ist eben die öffentliche Bedürfnisanstalt dafür.

WELT: Aber in der Wirklichkeit, schreiben Sie, steht man dann auf dem Brenner im Stau oder ärgert sich über Touristenfallen. Bleiben lassen kann man das Reisen aber trotzdem nicht.

Groebner: Vorsicht – im vergangenen Jahr sind 63 Prozent der Deutschen länger als fünf Tage verreist. Die anderen 37 Prozent sind Zuhause geblieben. Die Vorstellung, dass Tourismus etwas ist, was alle tun, ist keineswegs selbstverständlich, sondern erst im 20. Jahrhundert entstanden.

Dass Reisen zum Vergnügen ein Recht sei und Erholung eine Pflicht für alle, ist ein Versatzstück der Propaganda der Nazis der frühen 1930er-Jahre, und die haben die Slogans von den italienischen Faschisten kopiert. Deswegen nimmt Tourismus so leicht die Form einer nationalen Zwangsvorstellung und eines Vorrechts an, in Deutschland sowieso, unterlegt mit wolkigen Vorstellungen einer guten alten Zeit.

WELT: Was suchen Sie, wenn Sie verreisen?

Groebner: Etwas Neues, das ich noch nicht kenne. Wenn ich Erholung brauche, bleibe ich zu Hause, schlafe aus, mache lange Spaziergänge und gehe ins Freibad, um meine Bahnen zu schwimmen. Wenn ich reise, dann um etwas auszuprobieren, als Experiment, es wird dann meistens ein bisschen anstrengend.

WELT: Haben Sie ein Beispiel?

Groebner: Wintersportorte zum Beispiel sind wirklich interessant, wenn man im Sommer hinfährt – vor allem mit dem Fahrrad, dabei erlebt man interessante Dinge, die habe ich beschrieben. Und in Frankreich war ich unterwegs, aber nicht zu den üblichen Sehenswürdigkeiten, sondern in die Leere, von der gibt es dort mehr als genug.

Es ist ein Denkfehler zu glauben, dass es überall dort, wo es schön ist, auch voll sei. Das ist eine Blase der medialen Berichterstattung. Die verstärkt dann noch die Verlustangst, die das Reisen zum Vergnügen ohnehin begleitet. Fremdenverkehr ist ein Wahrnehmungskokon, ein Container gemeinsamer Empfindungen; und weil der mehr als 150 Jahre alt ist, kommt man da gar nicht so leicht heraus und wird überrascht.

WELT: Können Sie denn etwas empfehlen?

Groebner: Quer durch Frankreich läuft eine Zone, zwischen 150 und 200 Kilometer breit und fast 1000 Kilometer lang; von der belgischen zur spanischen Grenze. Sie heißt „la diagonale du vide“, die Diagonale der Leere. Sie hat eine der niedrigsten Bevölkerungsdichten in Europa, und es ist an vielen Stellen atemberaubend schön dort.

Wenn man mit dem Fahrrad unterwegs ist, hat man allerdings manchmal Mühe, mittags etwas zu essen zu kriegen. Man fährt halbe oder ganze Tage durch Dörfer, in denen jedes zweite oder dritte Haus leer steht, in denen es keine Cafés mehr gibt und keine Bäckereien.

In den italienischen Alpen, im Inneren von Spanien, in Rumänien und Bulgarien finden sich ähnliche Zonen. An schönen leeren Gegenden ist also gar kein Mangel. Nur gibt es keine touristische Bildermaschinen dazu. Wenn Sie die so sehr vermissen, dann wissen Sie eben, was ihre eigentlichen Reiseziele sind – die Klischees, die Kokons, die Menschenpumpen.

Valentin Groebner – Historiker und Reisender:

Valetin Groebner wurde 1962 in Wien geboren. An der Universität Luzern ist er seit 2004 Professor für Geschichte mit Schwerpunkt Mittelalter und Renaissance.

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